Bruno Scheidegger

Umweltbildung (E-Book)


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für jede Entwicklungsaufgabe im Spannungsfeld zwischen individuellen und gesellschaftlichen sowie ökonomischen und ökologischen Interessen stets neu ausgehandelt werden. In der heutigen Zeit, in den demokratischen Gesellschaften des Westens bedingt nachhaltige Entwicklung eine gesellschaftliche Transformation hin zu neuen Formen von Produktion, Reproduktion und gesellschaftlichem Zusammenleben (mehr dazu: Welzer & Sommer, 2014). Dies geschieht nicht nach einem von irgendeiner Autorität verordneten Masterplan, sondern in einem autopoietischen, gesellschaftlichen Prozess durch suchende, sich irrende, lernende, mündige Menschen.

      Indirekter Einfluss von Bildungsangeboten, Zielpluralität und ein Bildungsgegenstand, der von naturwissenschaftlichen Umweltthemen über Selbstregulations- und Verantwortungsfähigkeit bis hin zu gesellschaftlicher Gestaltungfähigkeit reicht, machen Umweltbildung zu einem anspruchsvollen didaktischen Betätigungsfeld. Und zu einem äußerst spannenden. Die Aufgabe der Lehrenden in einer so verstandenen Umweltbildung definiert der Erwachsenenbildner Horst Siebert (2000, S. 24) mit seiner Maxime »[Umweltbildung] ist nicht befugt, Antworten auf komplexe politische, ethische oder ökologische Fragen zu geben. Sie kann und sollte eine verantwortliche, lernende Auseinandersetzung mit Komplexität fördern.« Wer diese Aufgabe bewältigen will, muss selbst in einem komplexen System handlungsfähig sein.

      Als ich 2004 an der Fachhochschule in Wädenswil die spannende Aufgabe übernahm, eine Fachstelle für Umweltbildung aufzubauen, stellte ich mit Erstaunen große Diskrepanzen fest zwischen Grundlagenliteratur, gelebter Umweltbildung in der Praxis und gängigen Lehrkonzepten. Offensichtlich handelte es sich um drei Welten mit nur geringen Überschneidungsflächen. Für den Unterricht war ich auf der Suche nach einer anschaulichen Heuristik, welche die großen Zusammenhänge im Themenbereich aufzeigt. Alle Modelle, die ich finden konnte, hatten Schwachstellen für meinen Einsatzzweck. Entweder waren sie zu theoretisch – damit die Studierenden mit ihnen hätten arbeiten können, hätte ich viel mehr Grundlagenwissen aus unterschiedlichen Disziplinen vermitteln müssen, als mir Lehrzeit zur Verfügung stand –, oder ihre Aussagen widersprachen meinem Fachwissen und meiner Erfahrung. Erklärungsmodelle für Umweltverhalten waren mehrheitlich wissenslastig, und die didaktischen Ansätze zur Förderung von umweltgerechtem Verhalten widersprachen meinen eigenen Erfahrungen aus Sport- und nonformaler Erwachsenenbildung, in der für eine handlungsorientierte Didaktik Emotionen, Fertigkeiten und Handlungskontext der Kognition mindestens gleichgestellt sind. Als größten Mangel empfand ich jedoch die Tatsache, dass beinahe alle gängigen Konzepte aus dem deutschsprachigen Raum Umweltbewusstsein und nicht Umwelthandeln als generelles Bildungsziel definierten.

      Das Modell, das ich im Sinn hatte, sollte als Advance Organizer für den Unterricht aufzeigen, wie und unter welchen Bedingungen Bildungsangebote einen Beitrag zu umweltgerechtem Verhalten leisten. Es sollte Antworten auf die immer wieder kursierende Frage geben, wieso Wissen nicht zu Handeln führt.

      Ursprünglich hatte ich ein Brückenmodell angedacht, das aufzeigt, wie man vom Wissen zum Handeln gelangt, bis mir bewusst wurde, dass ich einer falschen Fragestellung aufgesessen war. Sie ist genauso falsch wie die Frage, wieso Wollen nicht zu Handeln führt oder wieso Können nicht zu Handeln führt. Harald Welzer (2015, S. 79) konstatiert dazu ganz einfach: »Einsicht dringt meist nicht bis zum Verhalten vor, weil das Verhalten nicht auf Einsicht beruht.« Dasselbe gilt für das Wollen und das Können. Verhalten und Handeln funktionieren nicht eindimensional, sondern sind multifaktoriell bedingt. Mal führt der Lernweg vom Wissen zum Handeln, mal vom Handeln zum Wissen. Die didaktische Fragestellung, die das Brückenmodell beantworten soll, lautet also: Welche Faktoren beeinflussen das Verhalten, und welchen Beitrag können Bildungsangebote leisten, damit Menschen die nachhaltige Entwicklung mitgestalten? Die Kluft liegt nicht zwischen Wissen und Handeln, sondern zwischen Innenwelt und Außenwelt sowie zwischen gestern und heute. Wir haben gestern gelernt, und wir handeln hier und jetzt.

      Stellen Sie sich also eine Brücke vor, ein kräftiges Bauwerk aus Steinblöcken und Balken, wie wir sie in weniger entwickelten Regionen zum Teil noch heute antreffen. Auf der Brücke herrscht reger Verkehr, Menschen, Tiere und Fuhrwerke sind in beide Richtungen unterwegs. Ein Trupp Männer und Frauen ist an einer Stelle damit beschäftigt, die Fahrbahn und das Tragwerk auszubessern, ohne den Verkehr weiter zu behindern. Die Menschen sorgen dafür, dass die Brücke ihre Funktion erfüllt und sich den Anforderungen des Verkehrs laufend anpasst.

      Die Bücke ist eine Metapher für die Interaktion des Subjekts mit seiner Mit- und Umwelt. Verhalten, Lernen, Bildung sind das Resultat dieser Interaktion zwischen Innen und Außen. Die Fahrbahn der »Gewohnheiten« deutet an, dass unsere Interaktionen vorwiegend von habitualisierten Handlungsmustern getragen werden, und der Fluss symbolisiert die Veränderung. Jedes Verhalten ist in einer historischen Zeit, an einem geografischen Ort und in einem sozialen Umfeld verortet. Die Voraussetzungen für unser heutiges Verhalten haben wir gestern erworben, und was wir im jetzigen Moment lernen, werden wir morgen in einer neuen Situation anwenden. Umweltbildung soll die Menschen zum Ausbruch aus ihrer subjektiven Wirklichkeit anstiften. Ihre Aufgabe erfüllt sie, wenn ein reger Austausch zwischen dem Subjekt und der Welt stattfindet und die Brücke laufend rekonstruiert wird.

      … alles Komplizierte ist praktisch unbrauchbar

      Nach mehr als 45 Jahren Umweltbildungsforschung besteht in der Fachwelt weitgehend Einigkeit zu einigen Rahmenbedingungen und Herausforderungen:

      ♦Umweltbildung ist Teil der Bildung für nachhaltige Entwicklung. Um erfolgreich zu sein, benötigt sie Erkenntnisse aus den Natur- und Geisteswissenschaften. Rein naturwissenschaftliche Zugänge haben sich nicht bewährt.

      ♦Umweltprobleme sind keine objektiven Gegebenheiten. Sie werden von unterschiedlichen sozialen Gruppen und Individuen unterschiedlich wahrgenommen, bewertet und definiert. Die Menschen müssen die Bereitschaft und Fähigkeit entwickeln, sich am »manchmal mühsamen Prozess des Debattierens, Klärens und Verhandelns« zu beteiligen (Kyburz-Graber, Halder, Hügli & Ritter, 2001, S. 241).

      ♦Mehr Wissen oder größere Betroffenheit allein führen nicht zu umweltfreundlicherem Verhalten (vgl. Kuckartz & de Haan, 1996). »Die in vielen Initiativen zur Umweltbildung angelegte implizite Prämisse, vom Wissen über Einstellungen zum veränderten Verhalten zu gelangen, lässt sich empirisch nicht halten« (Bolscho & de Haan, 2000, S. 9).

      ♦Lösungsansätze für Umweltprobleme sind vielschichtig. Sowohl die naturwissenschaftlichen Grundlagen wie Klima oder Biodiversität als auch die Bildungsprozesse für umweltgerechtes Verhalten können nicht durch lineares Denken erfasst werden. Die Lösung von Umweltproblemen ist möglich, wenn die Menschen lernen, mit dieser Komplexität umzugehen und die Relativität von Lösungsansätzen zu ertragen (vgl. Kyburz-Graber et al., 2001).

      ♦Nachhaltige Entwicklung erfordert eine tief greifende Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft, die nicht mit den bisherigen Entwicklungsstrategien bewältigt werden kann. Nötig ist ein gesellschaftlicher Suchprozess, für den auch Bildung neue Ansätze finden muss (vgl. WBGU, 2011).

      Für die Umweltbildung in der Praxis ergibt sich aus diesen Erkenntnissen eine konstante Herausforderung: die Komplexität der Aufgabe. Sie erfordert ganzheitliche, systemische Bildungsansätze mit Maßnahmen auf mehreren Interventionsebenen. Bei der Planung und Bewertung von Umweltbildungsmaßnahmen ist es oft schwierig, die Übersicht über Wirkungszusammenhänge, sinnvolle Ansatzpunkte und notwendige unterstützende Maßnahmen zu behalten.

      … alles Einfache ist theoretisch falsch

      In der Wissenschaft ist es bei dieser Problemlage üblich, auf Heuristiken zurückzugreifen. Eine Heuristik dient der Orientierung. Sie schafft als Denkmodell Übersicht und macht Beziehungen sichtbar, ohne die Komplexität des Systems zu verleugnen. Das »Brückenmodell der didaktischen Handlungsfelder für verhaltenswirksame Umweltbildung« (siehe Buchklappe) dient in erster Linie der Anschaulichkeit. Als Heuristik erhebt es keinen Anspruch auf Vollständigkeit mit einer wasserdichten Theorie im Hintergrund. Es will gewisse Aspekte in den Vordergrund rücken und das