Evelin Kroschel-Lobodda

Warum ich tue, was ich tue


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mein Vater bei diesem Meister wohnen musste und nur an Weihnachten heimgehen konnte.

      Mein Vater erzählte uns Kindern oft, dass seine Lehrzeit so wunderbar gewesen sei und dass ihm das sogar das Heimweh gelindert habe. Irgendwann wurde mir die Diskrepanz zwischen seiner Bewertung und den erzählten Gegebenheiten bewusst, und ich fragte ihn: »Papa, wie kannst du sagen, dass deine Lehrzeit wunderbar war? Die Arbeitszeit war täglich von morgens sechs Uhr bis abends sieben Uhr. Samstag war normaler Arbeitstag und sonntags musstest du vormittags mit dem Meister in die Kirche. Es gab keinen Urlaub außer an Weihnachten, und selbst von diesen zwei Wochen gingen zwei Tage drauf für den Hin- und Rückmarsch.«

      Mein Vater antwortete, dass das Wunderbare an der Lehrzeit die Person des Meisters gewesen sei: »Ich kann dir das nur an einem Beispiel erklären. Ziemlich am Anfang meiner Lehre nahm mich mein Meister mit zu einem Kunden, um dort eine Dreschmaschinen-Reparatur zu besprechen. Wir gingen in die Stube, er führte das Gespräch und wir verabschiedeten uns. Erst als wir wieder allein über den Hof gingen, sagte er zu mir: ›Pass auf, Bub, wenn du das nächste Mal in eine fremde Stube trittst, dann tust deine Mütze runter, das gehört sich so.‹ Er hatte gewartet, bis wir wieder allein waren, damit ich nicht vor dem Bauern beschämt wurde. Und so ist der Meister immer gewesen. Nie hat er mich vor anderen wegen eines Fehlers bloßgestellt. Wenn ich etwas nicht gekonnt habe, hat er es mir so lange ruhig erklärt, bis ich es konnte. Als einmal ein Bauer mich rüde anging, weil etwas nicht schnell genug ging, griff er sofort schützend ein und zwang den Bauern, mit ihm selbst zu reden. Und dieses Verhalten des Meisters führte dazu, dass alle Entbehrungen und die viele schwere Arbeit keine Rolle spielten.«

      Das Beispiel meines Vaters hat meine Wahrnehmung geschärft – einmal in Bezug auf Kränkungen, die häufig genug unter ›normalem Verhalten‹ laufen und zum anderen in Bezug auf diejenigen Bedürfnisse, deren Befriedigung so elementar wirkt, dass schwere äußere Umstände weder krank machen noch demotivieren.

      Inzwischen arbeitete ich jedoch auch schon lange am vorliegenden Buchprojekt – das immer wieder für Jahre in der Schublade verschwand –, und die Dimension dieses Projekts wurde immer vielschichtiger.

      Es entstand die Frage, ob die von mir postulierten Grundbedürfnisse und Motive tatsächlich – wie ich meine – menschheitsweit gültig sind, ob sie sich auch in allen Kulturen und in allen Zeitepochen finden lassen, oder ob mein Blick zu zeitgeistig und ethnozentriert ist. Wir sind bei der Betrachtung menschlichen Verhaltens und Handelns ja nicht so frei, wie wir zumeist vermuten. Unsere Wahrnehmung ist beeinträchtigt durch unser theoretisches Wissen, dem wir meist mehr gesicherten Wahrheitsgehalt unterstellen, als es tatsächlich verdient. Vor allem aber ist unsere Wahrnehmung auch eingeschränkt durch unsere unbewussten Vorstellungen von der Natur des Menschen und der Gesellschaft, die wiederum in höchstem Maße kulturell und zeitgeistig geprägt sind. Insofern ist mir klar, dass der theoretische Horizont des westlichen Denkens von einer spezifischen Erfahrung durchdrungen ist, bei der die Individualität des Menschen betont wird. Diese Sichtweise des Menschen hat eine lange Geschichte in der westlichen Philosophie und wurde während der Aufklärung vorherrschend. Das Menschenbild der Aufklärung impliziert, dass der Mensch von seinem zwischenmenschlichen Umfeld getrennt gesehen werden könnte. Doch das ist eine Sichtweise, die nicht für alle Kulturen und historische Epochen gilt. Dieses individuelle und klar umrissene Körperbild, das sich deutlich von den anderen Objekten im Universum abhebt und bei dem das Individuum als starke Festung mit einer kleinen Anzahl an Zugbrücken und Toren gesehen wird, die den kontrollierbaren Kontakt zur Außenwelt darstellen, steht im scharfen Gegensatz zum Menschenbild in nicht-westlichen Kulturen.

      Das indische ist sehr verschieden vom chinesischen Menschenbild. Trotzdem besteht zwischen beiden eine enge Verwandtschaft, wenn man sie mit dem westlichen Bild des Individuums vergleicht. Beide betonen die transzendente Natur des Menschen und ihre energetische Verflechtung mit der gesamten Umwelt, also nicht nur mit der menschlichen, sondern mit allen sichtbaren und unsichtbaren, materiellen und immateriellen Gegebenheiten.

      So führte meine Frage, ob die von mir postulierten Grundbedürfnisse und Motive menschheitsweit gültig sind, ob sie sich auch in allen Kulturen und in allen Zeitepochen finden lassen, zu einer intensiven Beschäftigung mit Werken aus anderen Kulturen und Epochen. Ich habe in der Weltliteratur geforscht, angefangen bei den ältesten Texten der Welt, dem Gilgamesch-Epos, dem I Ging, dem Alten Testament, Homers Ilias und Odyssee, dem Tao te King, dem Mahabarata-Epos usw. bis in die neueste Literatur, welche Motive sich in diesen Mythen und Geschichten finden lassen.

      Parallel zu meiner Lesetätigkeit machte ich in meiner Praxis immer häufiger die Erfahrung, dass sich viele Störungen, derentwegen Klienten in ein Coaching oder in eine Therapie kamen, nicht aus deren individueller Geschichte oder ihrer gegenwärtigen Situation erklären ließen. Erfahrungen, die zeigten, dass wir offenbar unbewusst auch von fremden Motiven gesteuert werden