Evelin Kroschel-Lobodda

Warum ich tue, was ich tue


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ein Phänomen, das in der psychologischen Forschung und in der Philosophie, abgesehen von einzelnen philosophischen Betrachtungen wie z. B. Sloterdijks Werk Zorn und Zeit,1 absolut unterbelichtet ist – im Gegensatz zu Literatur und Film. Rache ist jedoch nicht nur eines der Hauptmotive bei Verbrechen – schon in den ältesten Texten der Weltliteratur gibt es kaum eine Geschichte, in der es nicht zu finden ist, und bei genauem Hinsehen ist auch unser alltägliches Handeln von Vergeltungsmotiven durchzogen. Das ist nur ein kleines Beispiel dafür, dass sich Theorie und Praxis nicht immer decken und dass ich auf der Suche nach Erklärungen für Phänomene, die ich in der psychologischen Arbeit mit Menschen erlebe, oft in der großen Literatur fündiger wurde als in meinem Wissenschaftsbereich. Ob im sumerischen Gilgamesch-Epos, im Alten Testament, im indischen Mahabarata, in Homers Epen, ob bei Shakespeare oder Dostojewski, ob bei Goethe, Hesse, Chatwin oder Davies – in der Literatur aus den unterschiedlichen Weltregionen, Ethnien und Epochen fand ich viele Antworten auf die Frage, was uns tatsächlich antreibt und die Menschen immer schon angetrieben hat. Diese Suche entwickelte sich zu meiner großen Leidenschaft: Warum tun wir das, was wir tun? Warum fühlen wir, was wir fühlen? Und warum passiert uns das, was uns passiert?

      Unser ganzes abendländisches Verständnis geht vom selbstverantwortlichen Individuum und der Wahlfreiheit bei seinen Entscheidungen aus. Ich selbst ging natürlich auch davon aus. Doch irgendwann bekam diese Sicherheit Risse. Wie häufig müssen wir uns fragen »Wie, um Himmels Willen, bin ich in diese Situation geraten?« oder »Welcher Teufel hat mich da geritten, dass ich das getan habe?« Himmels-Wille, der uns steuert und Teufel, die uns reiten – was sind diese Götter und Dämonen, die da in uns wirken und oftmals unseren Willen beherrschen?

      Während in der Antike die antreibenden Kräfte bildhaft mit den Begehren der Götter beschrieben wurden, haben wir in unserer modernen Wissenschaftssprache nüchterne Begriffe: Trieb, Bedürfnis, Motiv, Leidenschaft, Begierde, Sucht, Gier, Geiz, Streben, Drang – je nach Thema und Theorie werden andere Worte verwendet, die aber alle für das Gleiche stehen, nämlich für unsere allgegenwärtigen Beweger, ohne die es kein Leben und keine Entwicklung gäbe. Ich bin mir allerdings nach zwanzig Jahren Forschung zu diesem Thema inzwischen nicht mehr sicher, ob nicht die antiken Vorstellungen näher an den Phänomenen liegen, als unsere rationalen, wissenschaftlichen Erklärungsmodelle es vermögen. Je tiefer ich in das Thema eingedrungen bin, umso deutlicher konnte ich erkennen, wie lange die Menschheit sich schon mit diesem Thema beschäftigt. Und ich musste erkennen, dass wir mit unserem naturwissenschaftlichen Paradigma der Welterklärung viele Phänomene bisher nicht erfassen können.

      Nun sind wir bei der Betrachtung menschlichen Verhaltens und Handelns nicht so frei, wie wir zumeist vermuten. Unsere Wahrnehmung ist eingeschränkt von unseren unbewussten Vorstellungen von der Natur des Menschen und der Gesellschaft, die wiederum in höchstem Maße kulturell und zeitgeistig geprägt sind. So ist z. B. der theoretische Horizont des westlichen Denkens von einer spezifischen Vorstellung durchdrungen, bei der die individuelle Autonomie des Menschen betont wird. Diese Sichtweise des Menschen hat eine lange Geschichte in der westlichen Philosophie und wurde während der Aufklärung vorherrschend. Das Menschenbild der Aufklärung impliziert, dass der Mensch von seinem zwischenmenschlichen und physischen Umfeld getrennt gesehen werden könnte. Dies ist eine Sichtweise, die nicht für alle Kulturen und historische Epochen gilt. Dieses individuelle und klar umrissene Subjekt, das sich deutlich von den anderen Objekten im Universum abhebt, steht im Gegensatz zur Vorstellung in nicht-westlichen Kulturen.

      Die Arbeit in der Psychotherapie und im Coaching gewährt große Einblicke in das Lichte und Schattige der Menschen – ich glaube, nirgendwo sonst wird so offen über die innersten Angelegenheiten gesprochen. Und nirgendwo sonst lässt sich besser erforschen, welche Geister und Götter, Dämonen und Heilige sich in uns verwirklichen. Denn wir sind nicht nur unseren individuellen Bedürfnissen unterworfen, die wegen ihrer Gegensätzlichkeit schon konfliktträchtig genug sind. Wir werden auch noch von Begehren aus tieferen Schichten in uns gesteuert. Sigmund Freud wird die Erkenntnis zugeschrieben, dass wir nicht Herr im eigenen Haus sind. Das hat vor ihm schon Schopenhauer postuliert. Er hat Leben und Schicksal als Produkt und Veranstaltung seelischer Kräfte erklärt, deren Wirken dem bewussten Wollen weitgehend oder völlig entzogen ist. Albert Einstein fasste diese Philosophie in die griffige Formel, dass wir tun können, was wir wollen, aber nicht wollen können, was wir wollen.

      Nun ist es aber gerade die Selbsterfahrungs-Arbeit, die dieser Ohnmacht entgegenwirken will und kann. Tatsache ist, dass Psychotherapie und Coaching genau an dem Punkt ansetzen, an dem Menschen feststellen, dass in ihrem Leben etwas anders läuft, als sie es eigentlich wollen. Dass sie mit ihrem Willen nicht weiterkommen. Dass irgendetwas sich ihrem Willen entgegenstellt; dass sie sich in Situationen befinden, in denen sie nicht sein möchten; dass sie psychisch, körperlich oder sozial unter etwas leiden oder dass etwas ganz anders läuft, als sie sich vorgenommen haben.

      Während ich diese Zeilen überarbeite, läuft gerade die mediale Beschäftigung mit der Steuerhinterziehung des Präsidenten eines der berühmtesten Fußballclubs auf vollen Touren. Es wird gefragt, wie es sein kann, dass jemand, von dem man doch weiß, wie sozial und großzügig er handelt, welch gutes Herz er zeigt für Menschen in Not und mit wie vielen Millionen er jährlich soziale Einrichtungen unterstützt, so etwas tun kann. Mit dieser Tat habe er seinen guten Ruf verloren und sein Lebenswerk vernichtet, so wird postuliert. Die Spekulationen über das »Warum« werden in jeder Talkshow und in jeder Zeitung erörtert. Viele meinen, dass nicht Geldgier das treibende Motiv gewesen sein kann – was dann? Andere vermuten, es könnte das Machtmotiv gewesen sein – er habe im größenwahnsinnigen Realitätsverlust geglaubt, sich über das Gesetz stellen zu können. Oder vielleicht brauchte er den Kick, den unerlaubtes, gefährliches Verhalten bringen kann? Warum also hat er etwas getan, was sein Verstand sicher als »Dummheit« einschätzt? Vielleicht weiß er es nicht einmal selbst. Vielleicht stellt er sich genau die Frage: »Um Himmels Willen – welcher Teufel hat mich da geritten?«

      Was sind also die Antriebskräfte, mit denen wir es den ganzen Tag zu tun haben – bei uns selbst und bei unseren Mitmenschen? Warum treffen wir uns mit bestimmten Leuten oder lehnen eine Verabredung ab? Warum sind wir zu einem bestimmten Menschen freundlich, zu einem anderen aggressiv und wieder bei einem anderen gleichgültig? Warum lassen wir uns auf ein risikoreiches Abenteuer ein, warum gehen wir eine Beziehung ein oder beenden sie, warum sind wir großzügig oder kleinlich, warum verzeihen wir oder sind unbarmherzig, warum schauen wir einen Film an, spielen Fußball oder lesen einen Roman? Warum teilen wir mit anderen oder machen Geschenke? Warum verhalten wir uns selbstsüchtig oder hilfsbereit?

      Wie oft fragen wir uns, warum jemand dieses oder jenes wohl getan hat. Und wie oft fragen wir uns selbst, was uns zu einer bestimmten Handlung getrieben hat – vor allem dann, wenn wir uns eigentlich das Gegenteil vorgenommen hatten oder wenn wir schon im Voraus ahnten, dass das, was wir tun, nicht gutgehen wird.

      Während sich unsere körperlichen Potenziale während der pränatalen Phase vom Embryo bis zum Säugling von selbst entwickeln und bei einigermaßen nährenden Umweltbedingungen sich über die Kindheit und Pubertät zu ihrer reifen Form auswachsen, verhält es sich mit unseren psychisch-seelischen Potenzialen nicht ganz so einfach. Und was das Potenzial zum freien Willen angeht, so scheint es dasjenige zu sein, das für seine Entwicklung am längsten braucht und den meisten Einsatz erfordert, um sich zu entfalten.

      Solange wir dieses Potenzial nicht entwickeln – und dazu braucht es mehr als die Trotzphase der Kleinkindzeit und die Rebellion der Pubertät –, solange sind wir, wie es die Hirnforscher postulieren, tatsächlich Marionetten