genetischen und sozialisierten Einflüsse hinausreichen. In den Kapiteln Der Kampf um den freien Willen und Gedankenwelten beschäftige ich mich mit dem Phänomen, dass unser Kommunikationsorgan Gehirn offensichtlich mit anderen Gehirnen bzw. Informationsgestalten mehr kommuniziert und vernetzter ist, als es ein materialistisches Weltverständnis wahrhaben will.
Eine Erkenntnis, die ich aus meiner Arbeit ziehe, ist die Tatsache, dass die psychischen Grundbedürfnisse und -motive einer neuen Bewertung bedürfen: Sie sind die Wegweiser zur Entfaltung unserer Potenziale; das heißt, wenn sie nicht befriedigt werden, können sich die jeweils in ihnen verborgenen Potenziale nicht entwickeln. Die Ergebnisse aus der Hirnforschung, der Vergleich mit den körperlichen Bedürfnissen und die genaue Betrachtung, wie sich das Bedürfnis nach einem freien Willen äußert und unter welchen Bedingungen sich der freie Wille entfaltet, lassen erkennen, dass sich nur bei ausreichender Befriedigung der psychisch-seelischen Bedürfnisse die inhärenten menschlichen Potenziale entwickeln können. Diese Bewertung steht im Gegensatz zu Philosophien und religiösen Dogmen, die in den Bedürfnissen etwas sehen, das bekämpft und möglichst unschädlich gemacht werden soll. Verbote bestimmter Grundbedürfnisse führen zu Fixierungen und Entgleisungen (dieses Thema behandle ich in den Kapiteln 3 und 6 ausführlich). Auch die angestrebte Bedürfnislosigkeit als Weg zur Befreiung von Leid (z. B. im Buddhismus) oder als Möglichkeit zum Seelenfrieden (z. B. bei den Stoikern) oder als Bedingung zur individuellen Freiheit (z. B. bei Laotse) macht erst dann Sinn, wenn im Laufe der Persönlichkeitsentwicklung die psychisch-seelischen Grundbedürfnisse schon so weit befriedigt wurden, dass sich die Potenziale bereits entwickelt haben. So sind z. B. beim indischen Prinzen Siddhartha Gautama, dem späteren Buddha, während seiner Kindheit und jungen Erwachsenenzeit sämtliche körperlichen und psychischseelischen Bedürfnisse wohl tief befriedigt worden, so dass sich seine Potenziale entfalten konnten. Auch Seneca, der die stoische Ethik zu einem glanzvollen Höhepunkt führte, stammte aus einer der reichsten Familien des römischen Reichs zu Zeiten von Kaiser Nero und war ein mächtiger und schon zu Lebzeiten berühmter Philosoph. Von ihm ist überliefert, dass er seine Bedürfnisse immer vortrefflich befriedigt hat (was übrigens damals schon als Gegensatz zu seiner Lehre empfunden wurde3) und so seine Potenziale entwickeln konnte.
Die Selbsterfahrungs-Arbeit zeigt, dass es mehrere Dimensionen von Bedürfnissen in der Psyche gibt, die wiederum in vielfacher Beziehung miteinander vernetzt sind. Da gibt es zum einen die individuelle, bewusste Ebene, die sich in den Interessen, Wünschen und angestrebten Zielen ausdrückt. Selbst für diese bewusste Dimension gilt, dass wir sehr häufig unsere wirklichen Absichten nicht kennen. Wir halten oft vordergründiges Verlangen oder bewusste Interessen und Ziele für die Motive unseres Handelns ohne zu den eigentlichen Beweggründen vorzustoßen. Wir haben rationale Gründe für unser Handeln – doch es gibt meist den Grund hinter dem Grund.
Denn hinter oder unter oder neben dieser bewussten Dimension liegt die individuelle unbewusste Dimension. Hier tummeln sich die Begehren, die von der Person aufgrund ihrer unbewussten Glaubenssätze und ihrer unbewussten Lebenspläne (Lebensscripte) aus ihrer Wahrnehmung bisher ausgeschlossen wurden und die nicht zu Motiven werden dürfen – und die sich deshalb in unverständlichen Handlungen, unangenehmen Situationen, Symptomen oder Krankheiten Gehör verschaffen wollen.
Und dann gibt es noch die unbewusste, kollektive Dimension. Sie ist ein Teil unserer Psyche, deren Kraft unser Schicksal in einer oft monströsen Weise bestimmt. Das ist der »tiefe Brunnen der Vergangenheit«, wie Thomas Mann4 es ausdrückt, der in uns wirkt und seine eigenen Begehren enthält, die er uns aufdrängt und die wir dann unbewusst erfüllen, auch wenn sie meist unseren eigenen, individuellen Bedürfnissen absolut zuwider laufen.
Trotz dieser hohen Komplexität unserer Psyche sind es aber immer wieder die wenigen gleichen Bedürfnisse und Motive, die sich durch alle Dimensionen ziehen und auf die alle inneren und äußeren, hilfreichen und destruktiven Kräfte einwirken. Und diese wenigen gleichen Grundbedürfnisse und Motive unterliegen einem Gesetz, das bisher in keiner Bedürfnis- und Motivationstheorie berücksichtigt wurde: dem Gesetz der Polarität. Das heißt, zu jedem Grundbedürfnis gibt es ein gegenteiliges und jedes Grundbedürfnis besteht in der Polarität von Haben-Wollen und Geben-Wollen. Und jedes Grundbedürfnis kann entgleisen, wenn es zu starken Einseitigkeiten in der Polarität kommt. Wenn ein Bedürfnis in die Fixierung gerät und dadurch der Gegenpol ausgeblendet wird, dann entstehen all diese Motive, die wir als Untugenden begreifen. So entsteht dann z. B. bei einer Fixierung des Besitz / Erkenntnis-Bedürfnisses Habgier, Geiz oder faustischer Erkenntnisdrang.
Im Kapitel Der Kreis der Bedürfnisse beschreibe ich mit meinem Modell eines Bedürfniskreises bzw. Motivrads diese gegensätzlichen Grundbedürfnisse und -motive in ihren jeweiligen Ausprägungen. Sie bilden nicht nur die Tiefenstruktur der menschlichen Psyche, sondern auch die Tiefenstruktur aller menschlichen Gemeinschaften, wie Familien, Organisationen, Gesellschaften und Kulturen. Sie sind die Gestalter nicht nur unseres individuellen Schicksals, sondern auch die prägenden Kräfte in allen Systemen, d. h. Familien, Organisationen, Gesellschaften und Kulturen.
Da sich aus den menschlichen Grundbedürfnissen die jeweiligen Werte einer Gemeinschaft ableiten, ist es auch für die Entwicklung und das Schicksal einer Gesellschaft von größter Bedeutung, von welchen Motiven sie sich steuern lässt (darauf gehe ich im Kapitel Zur universalen Dimension des Bedürfniskreises ein).
Ich habe die kulturellen und zeitgeistigen Unterschiede in der Betrachtung des Menschen durchaus im Blick und wage trotzdem die These aufzustellen, dass die Tiefenstruktur der menschlichen Psyche – ihre Potenziale, Bedürfnisse und Motive – in allen Kulturen und historischen Epochen (zumindest so weit zurück, als wir Schriftzeugnisse haben) gleich ist. Denn die älteste Weltliteratur gibt Aufschluss über das Erleben, das Handeln und die Motive der Menschen in ihrer jeweiligen Kultur und historischen Epoche (siehe Kapitel Ein Blick Jahrtausende zurück) und die historischen Ereignisse zeigen, mit welchen Bewertungen Gesellschaften bestimmte Grundbedürfnisse erhöhen und zu ihren »höchsten Werten« erklären bzw. sie zu »Unwerten« oder »Sünden« stempeln und verdammen.
Nur wenn wir zu den tieferen Gründen unserer Handlungen vorstoßen, jenseits unserer rationalen Erklärungen, und wenn wir verstehen, was die wirklichen Motive unseres Verhaltens und Handelns sind, welchen unbewussten Steuerungen wir unterliegen und in welche Situationen uns unbewusste Kräfte hineinlaufen lassen, können wir mit diesen Kräften in Kontakt kommen und ihr Wirken auflösen bzw. transformieren und dadurch unseren freien Willen und unsere Selbstbestimmung entwickeln und erweitern. Im Kapitel Der Kampf um den freien Willen zeige ich an zwei Fallbeispielen auf, wie das in der Praxis aussehen kann und wie wir den inneren Drahtziehern auf die Spur kommen können, die sich unserer Motivstruktur – ohne dass wir dies als Fremdeinfluss erkennen – bedienen. Wie sich diese Phänomene des Fremdeinflusses theoretisch erklären lassen, versuche ich im Kapitel Gedankenwelten zu erfassen.
Der Bogen, den ich in diesem Buch spanne, ist im Lauf der letzten zwölf Jahre, die ich nun daran arbeite, immer größer geworden. Als ich 1996 (überarbeitete Neuauflage 2008) in meinem Buch Die Weisheit des Erfolgs einen ersten Entwurf des Motivrades veröffentlichte, war dies eingebunden in den Kontext der Entwicklung von persönlicher Autorität. In der langen Zeit, die ich nun an und mit diesem Thema arbeite, ist mein Modell der menschlichen Motivstruktur gründlich gereift und meine Erfahrungen damit haben mir selbst erst verdeutlicht, dass dieses Thema nicht nur für die individuelle Persönlichkeitsentwicklung von grundlegender Bedeutung ist, sondern auch für die Analyse und Veränderung von Organisationen und Gesellschaften.
1 Sloterdijk, P. (2006): Zorn und Zeit. Frankfurt a. M. (Suhrkamp)
2 zit. nach Libet, B. (2004): Haben wir einen freien Willen? In: Ch. Geyer (Hrsg.):