genau polar balancierte Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft. »Der Augenblick ist dem Menschen nicht als ein ›Zeitpunkt‹ gegeben, ebensowenig als eine abgrenzbare ›Zeitspanne‹, sondern als etwas, das nicht auf einer reellen Koordinate abgemessen wird«, konstatiert Carl Friedrich v. Weizsäcker (1988, 373), der sich als Physiker und Philosoph auch mit Religion, Mystik und Meditation (1992) befasste. Das Jetzt ist die Zentrierung der Zeit, die Zeitindifferenz. Es ist Nichts. Nicht messbar, nicht greifbar. Darauf beziehe ich die berühmte Antwort von Augustinus aus seinen Confessiones im 14. Kapitel auf die Frage, was die Zeit sei: »Wenn mich niemand danach fragt, weiß ich es. Wenn ich es aber einem, der mich fragt, erklären soll, weiß ich es nicht.«
Wenn wir ganz im Jetzt zentriert sind, dann treten wir gleichsam aus der linear vergehenden Zeit, der Chronos-Zeit, heraus und der Kairos tritt ein, um es mit Bezug auf zwei mythische Gestalten des griechischen Götterpantheons auszudrücken. Chronos, meist als ernster alter Mann dargestellt, repräsentiert die unerbittlich vergehende, objektiv messbare, lineare Zeit. Kairos, in Gestalt eines jungen Mannes mit Flügelschuhen und wehender Stirnlocke, repräsentiert den erfüllten Augenblick, den es beim Schopf zu packen gilt, die Zeit, die im Nu vergeht. Mit Chronos und Kairos werden zwei Zeitqualitäten unterschieden. Und das Wesentliche des Kairos ist die Zentrierung im Jetzt.
Das volle Erfahren der Gegenwart befreit gleichsam aus der linear vergehenden Zeit, die offene Zukunft zu Vergangenheit erstarren lässt. In der Zentrierung im Jetzt erfahren wir die Freiheit von der Zeit, Zeitfreiheit oder einfach Freizeit. Das ist die Freizeit, nach der wir uns zutiefst sehnen, auch wenn uns das meist nicht so bewusst ist: Freizeit, garantiert ohne Freizeit-Stress und ohne Langeweile.
»Wenn man unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt«, ist bei Ludwig Wittgenstein zu lesen (Tractatus logico-philosophicus, 6.4311). Und der protestantische Theologe und Philosoph Paul Tillich schreibt: »Vergangenheit und Zukunft treffen in der Gegenwart zusammen und beide sind im ›Ewigen Jetzt‹ gegenwärtig.« (Tillich 1987, 447)
»Nunc aeternitatis«, das Ewige Jetzt. Dieses Wort findet sich auch bei Nikolaus von Kues. Damit drückt er eben dies aus, dass unter Ewigkeit nicht unendliche Zeitdauer, sondern die Zeitfreiheit der Gegenwart zu verstehen ist. Ein anderer mystischer Terminus dafür ist »Nunc stans«, das Stehende Jetzt. Das Jetzt, das steht und nicht vergeht, weil es der vergänglichen Zeit enthoben ist. Diese Zeitqualität des Jetzt als Mitte der Zeit, als Zeittransdifferenz, zu erfahren, wird in der Mystik als geistige Befreiung verstanden. »Die Seele, die da steht in einem gegenwärtigen Nun, in die gebärt der Vater seinen eingeborenen Sohn, und in derselben Geburt, wird die Seele wieder in Gott geboren«, lesen wir in den Deutschen Predigten von Meister Eckhart (1963, 206).
Diese befreiende Bedeutung hat die Zentrierung im Jetzt in den mystischen Traditionen aller Religionen, in unterschiedlicher Akzentuierung. Und alle ernst zu nehmenden Formen von Meditation oder Kontemplation praktizieren eine »Einübung ins Da-Sein« (Frambach 1994, 370–373), die Sammlung und Öffnung des Geistes in der Gegenwart, um dem entgegen zu warten, was das Bewusstsein im Zustand der Präsenz erfüllt. »Der gegenwärtige Augenblick muss eure Wohnung werden«, schreibt der protestantische Mystiker Gerhard Tersteegen (1697–1769).
Von Fritz Perls gibt es einige sehr prägnante Äußerungen zum Thema des Jetzt. Er konnte seinen psychotherapeutischen Ansatz sogar als »Hier und Jetzt-Therapie« bezeichnen (Perls 1976, 81). Leider hat er, wie so oft, seine Sicht des Jetzt nicht mit der nötigen Ausführlichkeit und Genauigkeit erläutert. Darum ist diese Betonung des »Hier-und-Jetzt« nicht selten sehr unreflektiert klischee- und schlagwortartig verstanden oder besser nicht verstanden worden und zu einer Floskel des Psycho-Jargons verkommen. Ich habe das mit der Unterscheidung von »Hier und Jetzt-Zentrierung« und »Hier und Jetzt-Fixierung« versucht zu thematisieren (Frambach 2001, 14 ff.). Bei der Fixierung werden Vergangenheit und Zukunft weitgehend ausgeblendet. Man ist in kurzsichtig hedonistischer Weise auf die Gegenwart fixiert: »Ich lebe im Jetzt! Und alles andere interessiert mit nicht. Gestern ist vorbei. Und nach mir die Sintflut!« So die, zugegeben überzeichnete, Haltung der Fixierung. Aber die Einstellung »Ich will Spaß, und zwar sofort!« ist doch für viele Menschen der Konsum- und Event-Gesellschaft ein lebensbestimmendes Motto, nicht zuletzt dank des massiven Einflusses der hedonistisch konsumstimulierenden Werbeindustrie.
Perls hat das »Hier und Jetzt« im Sinne einer Zentrierung verstanden, bei der Vergangenheit und Zukunft ausgewogen sinnvoll auf die Gegenwart als Zentrum bezogen sind:
»Die Gegenwart ist der sich ständig bewegende Nullpunkt der Gegensätze Vergangenheit und Zukunft. Eine gut ausgewogene Persönlichkeit berücksichtigt Vergangenheit und Zukunft, ohne den Nullpunkt, die Gegenwart, aufzugeben, ohne Vergangenheit und Zukunft als Realitäten anzusehen.« – »Das Zeitzentrum unserer selbst als raumzeitlicher Ereignisse ist die Gegenwart. Es gibt keine andere Realität als die Gegenwart. Unser Wunsch, mehr von der Vergangenheit zu behalten oder die Zukunft vorwegzunehmen, kann dieses Realitätsempfinden völlig überwuchern … Ein Mangel an Kontakt mit der Gegenwart, ein Mangel an aktuellem ›Gefühl‹ unserer selbst, führt zur Flucht, entweder in die Vergangenheit (historisches Denken) oder in die Zukunft (vorwegnehmendes Denken).« (Perls 1978, 115, 111)
Was Perls nicht thematisiert hat, ist die Flucht in die Gegenwart, das Ausblenden von Vergangenheit und Zukunft. Auch das ist eine Gefahr. Sich auf die – oder besser – in der Gegenwart zu zentrieren bedeutet nicht, Vergangenheit und Zukunft zu ignorieren, sondern sie ausgewogen polar aufeinander zu beziehen über die Mitte ihrer Transdifferenz.
Was bei diesen Perls-Zitaten wieder einmal deutlich wird, ist der grundlegende Einfluss von Friedlaenders polarer Indifferenzphilosophie, auch wenn er ihn wieder einmal nicht namentlich erwähnt.
3.3.3 Die Mitte der Materie
Wie bei Raum und Zeit kann man auch radikal in die Mitte der Materie hineinfragen. Das läuft auf die Frage nach der kleinsten Einheit der Materie hinaus und führt in die Gefilde der Atomphysik. Darüber habe ich mir in besagtem Aufsatz Von der Unfähigkeit des Intellekts das Absolute zu erkennen … (1996), inspiriert durch Friedlaenders Philosophie, Gedanken gemacht. Etwas vermessen, da diese Materie nun überhaupt nicht die meine ist. Darum habe ich mir seinerzeit 1990 meine Überlegungen dem Quantenphysiker Thomas Görnitz, damals Mitarbeiter des Physikers und Philosophen Carl Friedrich von Weizsäcker, ansehen lassen und er hat ihnen im Wesentlichen zugestimmt. Sie können also nicht völlig falsch sein. Hier der entsprechende Abschnitt:
»Die Atomphysik stellt wohl den ausgeprägtesten naturwissenschaftlichen Versuch dar, mit dem Mittel des unterscheidenden Intellekts der phänomenalen Realität auf den Grund zu gehen und restlos = absolut zu erkennen. Durch einen immer weiter fortschreitenden Prozess exakt unterscheidender Beobachtung versucht man, die kleinste unteilbare Einheit oder Ganzheit (griech. atomos = unteilbar, unschneidbar) zu erkennen, aus der sich die Materie aufbaut. Das, was man Atom genannt hatte, erwies sich aber nicht als die gesuchte unteilbare Einheit und man gelangte in den Bereich der subatomaren Phänomene. Diese – Elektronen wie auch Protonen und Neutronen – zeigten jedoch eine verwirrende Zweideutigkeit, welche die daran beteiligten internationalen Forscher zur Entwicklung einer revolutionären, neuen Theorie führte, der sogenannten »Quantentheorie«. Die subatomaren Phänomene erschienen nämlich, je nach Beobachtungsmethode, einmal als Teilchen, Korpuskel, und ein anderes Mal zeigten sie sich als Welle. Eine charakteristische Eigenart ließ sich nicht eindeutig festlegen. Dieser sich ausschließende »Teilchen-Welle-Dualismus« wurde von Niels Bohr als »Komplementarität« interpretiert, als sich gegenseitig ausschließende und ergänzende Aspekte derselben Realität. Werner Heisenberg definierte das Verhältnis dieser komplementären Aspekte in komplexen Gleichungen als »Unschärferelation«. Ganz grob vereinfacht läuft sie im Prinzip auf Folgendes hinaus: je präziser der eine Aspekt (Korpuskel) wahrgenommen und beobachtet wird, desto unschärfer wird der andere Aspekt (Welle) und umgekehrt. Diese Entdeckung der Physik an der Grenze des exakt intellektuell Erkenn- und Unterscheidbaren deckt sich genau mit den hier vorgelegten erkenntnistheoretischen Einsichten. Das Prinzip der Polarität und der Vordergrund/ Hintergrund-Differenzierung des unterscheidenden Intellekts findet seine konkrete naturwissenschaftliche Entsprechung in der Komplementarität und