Friedlaender beschreibt diesen Weg zum »inneren Jenseits« in seiner Terminologie als Indifferenzierung. Seine Intention ist damit zu einem befreienden Verstehen des Ich, des Selbst, zu führen, zur wahren Identität: »Man muss wissen, wer man ist.« (GS10, 172) Diese Transdifferenzierung des Inneren, des Subjekts, meint die »Evakuierung des Selbstes von Differenz« (ebd. 489), oder, anders ausgedrückt, die Entidentifikation von dem, mit dem man sich »pseudoidentifizierte« (ebd. 555). Wenn man sich in irgendeiner Weise noch mit etwas Differenziertem, Äußerlichem, wozu auch die eigenen Gefühle und Gedanken zählen, identifiziert, so verfehlt man sich, denn: »Indifferenz erst ist die nackte Seele. Die menschliche Seele, die psychischen Differenzen, stehen zu ihr in einem ähnlichen Verhältnis wie das Kleid zum Leib.« (ebd. 450)
Eine völlige Loslösung auch aus den subtilsten differenzierten Identifikationen ist not-wendig, um zur wirklichen eigenen Wesensmitte befreit zu werden, denn der »Gedanke Identität kann nicht intim genug erlebt werden« (ebd. 174). »Wer aber sein eigenes Inneres noch nicht neutralisiert hat, ist noch gar kein Wer.« (ebd. 509) »Erst das Selbst, worin aller Unterschied vernichtet ist, ist das echte Selbst.« (ebd. 210) In immer neuer Variation umkreist Friedlaenders Philosophieren diesen Zentralpunkt der eigenen Existenz wie auch alles anderen Existierenden, der sich in seiner Transzendenz letztlich dem differenzierten Begreifen entzieht. »Das gestaltende Selbst ist gestaltlos.« (ebd. 556), es ist mit unserem unterscheidenden Intellekt nicht erkennend wahrzunehmen. Das, was die wahre Person, das wahre, wirklich ungeteilte In-Dividuum, begründet, die schöpferische Wesensmitte des Selbst, übersteigt die Prinzipien unseres intellektuellen Erkennens. »Das eigene Herz, unser Innerstes, beruhigt sich nicht eher, als bis es alles in allem ist.« (ebd. 164) Wenn Friedlaender davon spricht, sich im Innersten mit der Indifferenz, dem Individuum, zu identifizieren, dann klingt das, zumal in christlich geprägten Ohren, sehr nach Hybris. Dem stelle ich zur Klärung ein bekanntes Zitat der »jüdisch/christlichen« Philosophin und Mystikerin Simone Weil (1909–1943) aus Schwerkraft und Gnade an die Seite: »Das Ich ist mir (und den andern) verborgen; es ist auf Seiten Gottes, es ist in Gott, es ist Gott. Hochmütig sein heißt vergessen, dass man Gott ist.«
Wie dieses Indifferenzieren, diese »Evakuierung des Selbstes von aller Differenz«, diese Entidentifikation von dem, mit dem man sich »pseudoidentifizierte« vonstatten gehen soll, davon schreibt Friedlaender fast nichts. Keine Anleitung, keine Methode, keine Praxis. Warum? Weil für ihn eben dieses Philosophieren an der Grenze des Denkbaren die Praxis ist. Er ist ein radikaler Denker, dieses Denken ist sein existenzieller Vollzug des Indifferenzierens. »Denke das Nichtdenken« ist ein Prinzip der meditativen Praxis des Zen. Und das macht Friedlaender auf seine Weise, ohne im Lotussitz auf dem Kissen zu sitzen.
3.4 Der konkrete Sinn mystischer Transdifferenzerfahrung
Was ist der Sinn solch einer mystischen Erfahrung der schöpferischen Indifferenz, der Transdifferenz oder wie immer man dies philosophisch oder religiös ausdrücken will? Oder noch drastischer ausgedrückt: Was ist der Nutzen, für einen selbst und für andere? Das klingt sehr nüchtern zweckorientiert und wenig spirituell, aber diesen Fragen muss man sich stellen. Um das zu klären beziehe ich mich auf Albert Schweitzer (1875–1965), mit dem ich mich intensiv befasst habe (2005). Denn Schweitzers Ethik der »Ehrfurcht vor dem Leben« hat einen mystischen Quellgrund. Schweitzer war ein ethischer Mystiker oder mystischer Ethiker. Im Jahr 1915 fährt er auf einem Lastkahn auf dem Ogowe in Zentralafrika. Seit Jahren ringt er um ein vertieftes Verständnis von Ethik und befindet sich deswegen in der Sackgasse einer tiefen geistigen Krise, in der Phase der Diffusion, um es mit meinem Prozessverständnis auszudrücken. »Ich irrte in einem Dickicht umher, in dem kein Weg zu finden war. Ich stemmte mich gegen eine eiserne Tür, die nicht nachgab.« (Schweitzer GW 1, 167)
Dann fährt der Kahn durch eine Herde von Flusspferden. »Am Abend des dritten Tages, als wir bei Sonnenuntergang gerade durch eine Herde Nilpferde hindurch fuhren, stand urplötzlich, von mir nicht geahnt und nicht gesucht, das Wort ›Ehrfurcht vor dem Leben‹ vor mir. Das eiserne Tor hatte nachgegeben; der Pfad im Dickicht war sichtbar geworden.« (ebd. 169) Mit Schweitzers Worten geht es um die »unmittelbarste Tatsache des Bewusstseins des Menschen«: »Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.« (ebd.) An anderer Stelle drückt er in einer Predigt diesen mystischen Erfahrungszusammenhang so aus: »Der tiefste Begriff des Lebens ist erreicht, das Leben, das zugleich Miterleben ist, wo in einer Existenz der Wellenschlag der ganzen Welt gefühlt wird, in einer Existenz das Leben als solches zum Bewusstsein seiner selbst kommt … das Einzeldasein aufhört, das Dasein außer uns in das unsrige hereinflutet.« (GW 5, 130) Aus dieser Einsichtserfahrung heraus entfaltet er seine mystische Ethik der »Ehrfurcht vor dem Leben«. Bei aller Wertschätzung steht Schweitzer der Mystik doch auch kritisch gegenüber:»Von aller bisherigen Mystik gilt, dass ihr ethischer Gehalt zu gering ist. Sie bringt den Menschen auf den Weg der Innerlichkeit, aber nicht auch auf den der lebendigen Ethik« (GW 1, 237) Und noch schärfer formuliert: »Die Mystik ist nicht der Freund, sondern der Feind der Ethik. Sie zehrt sie auf.« Aber er fährt in einem spannungsvollen Gedankenbogen im nächsten Satz fort: »Und doch muss die das Denken befriedigende Ethik aus der Mystik geboren werden.« (GW 2, 370) Wenn eine mystische Einsichtserfahrung wirklich der transdifferenten Einheit und damit Verbundenheit mit allem, was lebt, was existiert, entspringt, dann drängt sie auch zu einem entsprechenden Lebensstil verantworteter Verbundenheit.
Bei Friedlaender gibt es zu dieser Sichtweise Schweitzers eine Entsprechung. Wenn er auch nicht müde wird, die grundlegende Bedeutung der schöpferischen Indifferenz aufzuzeigen, so warnt er doch auch eindringlich davor, sich im Indifferenten zu verlieren. Es geht ihm nicht um einen Rückzug aus der Welt, sondern um ein tatkräftiges kreatives Gestalten der Welt aus ihrer geistigen schöpferischen Mitte heraus, denn: »Es darf am schöpferischen Prinzip so wenig das identisch Innere fehlen wie dessen unterschiedene Äusserung.« (GS10, 122) Er spricht in diesem Zusammenhang von Indo-Amerikanismus: »Der Osten dringt auf die Kultur der Indifferenz, der Westen auf diejenige der Differenz; ich will westöstlich sein, indo-amerikanisch. Ich lehne eine Kultur der bloßen Indifferenz ebenso ab wie eine der bloßen Differenz; beide sind verführerische Scheinbarkeiten.« (F/K 1986, 57) Wirklich »Schöpferische« Indifferenz im Sinne von Transdifferenz bleibt nicht quietistisch für sich, sondern drängt zu konstruktiver Lebensgestaltung, zu kreativer Entwicklung: »∞ zu sein, genügt nicht; man soll es auch (polariter) werden.« (F/K1986, 18)
Der Wert und die Tiefe einer »spirituellen« Erfahrung zeigen sich nicht zuletzt in der konkreten Umsetzung für das »Gemeinwesen« im umfassendsten Sinn. Es geht um eine »Spiritualität des Konkreten«, wie das Petzold/Orth/ Sieper (2011, 22) auf den Punkt bringen, die sich tatkräftig engagiert, z. B. sozial, politisch, ökologisch. Das wird in der heutigen psycho-spirituellen Szene gerne aus den Augen verloren.
3.5 Gestalttherapie und Mystik/Spiritualität
Wenn ich Friedlaender als philosophischen Mystiker verstehe und die Gestalttherapie von seiner Philosophie wesentlich beeinflusst ist, was hat das als Konsequenzen? Ist die Gestalttherapie eine spirituelle, gar mystische Form der Psychotherapie? Keineswegs! Die Gestalttherapie ist, wie alle Psychotherapieansätze, primär auf die Psyche bezogen und nicht wie Spiritualität und Mystik auf den Geist. In einem Artikel über die spirituellen Aspekte der Gestalttherapie (1999, 629) habe ich das so beschrieben:
»Die Gestalttherapie, vor allem wenn man sie von der Philosophie Friedlaenders her in ihren Prinzipien begreift, ist ausgesprochen geeignet, die spirituelle Thematik in ein umfassenderes, ganzheitlicheres Therapieverständnis mit einzubeziehen. Es sind dabei aber die grundsätzlichen Grenzen zwischen Psychotherapie und einer spirituellen Methode zu beachten und zu respektieren. Grob gesprochen bezieht sich Psychotherapie auf biographisch bedingte Störungen der Ich-Entwicklung, während Spiritualität auf die Transzendierung der ich-zentrierten Bewusstheit ausgerichtet ist. Wie jede andere Form von Psychotherapie prinzipiell kann die Gestalttherapie die Funktion der Öffnung und Überleitung zum Beschreiten eines konkreten spirituellen Weges haben, und, wenn notwendig, der flankierenden Begleitung. Aber sie kann sich nicht als Ersatz und Alternative dafür anbieten.«
Psycho-spirituellen Ansätzen, die spirituelle Traditionen aus allen Religionen