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Friedlaender / Mynona und die Gestalttherapie


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der auf den ersten Blick vermessen klingt, auf den zweiten aber schlicht notwendig ist. Alle Gesamtdarstellungen der Gestalttherapie sind in hohem Maße Interpretationen, konstruieren Verbindungen zwischen unverbundenen Theorieaspekten. Für mich besteht die wichtigste Klammer, um diese Theorieaspekte zu verbinden, in Friedlaenders Philosophie schöpferischer Indifferenz und polarer Differenzierung. Um Friedlaenders Einfluss auf die Gestalttherapie zu erkennen, muss man strukturell denken, dieses Grundmuster in den Konzepten entdecken. Dass Perls Friedlaender auch in seiner Tiefendimension zumindest ansatzweise erfasst hat, das scheint für mich besonders in seinen Bemerkungen zur Leere und zum Nichts auf, die natürlich auch von anderen Quellen gespeist sind. »Nichts kommt Wirklichkeit gleich.« (Perls 1974, 65) Man kann das natürlich auch anders sehen. Mit seinen eher aphoristischen Äußerungen lässt Perls viel Spielraum für Interpretationen.

      Für mich persönlich ist die Philosophie von Friedlaender eine grundlegende geistige Inspiration. Nicht nur im Blick auf die Gestalttherapie, weit mehr noch für mein Verständnis von Mystik, das für mich zentral ist für das Verstehen von Wirklichkeit überhaupt, nicht nur im religiösen Sinne. Darum habe ich das hier so ausführlich dargestellt. Oder im Blick auf das für Ökologie und gesellschaftliche Entwicklung fundamentale Thema von Maß und Mitte (Frambach 1997).

      Friedlaender ist ein eminent auf sein Thema konzentrierter Denker, weil er überzeugt ist, dass es nichts Grundlegenderes gibt als dieses Thema: die schöpferische Indifferenz oder wie er es sonst nennen mag. Und seine Philosophie war für ihn Lebensphilosophie, hat ihn existenziell getragen, sich bewährt in den schwierigsten Situationen, im Exil in Paris, von den Nazis bedroht, krank alleingelassen in seiner kleinen Wohnung. »Meine Philosophie ist gar keine Philosophie mehr, sondern das Leben selber. (F/K 1986, 11).

      Friedlaender ist ein Mann des Wortes, ein homme de lettres, als Philosoph, als Literat. Mir waren immer auch andere Formen der Praxis wichtig, wie die Psychotherapie oder die Meditation. Aber dafür hat er Erhellendes gedacht und geschrieben. Besonders sein grundlegendes Verständnis von Polarität als »oppositiv homogen« ist für mich immer wieder geistig anregend und in allen Aspekten des Lebens zu entdecken. »Der starke Mensch vereint in sich eine lebendige Mischung starker Gegensätzlichkeiten.« (M. L. King 1978, 11) Das Prinzip der Polarität ist einfach, aber keineswegs simpel. Oft werden falsche Pole gebildet, wie Ruhe und Bewegung: »Ruhe ist Zero der extremen Bewegung, nicht ihr Gegenteil, das vielmehr in der umgekehrten Bewegung zu finden wäre.« (GS10, 532) Oder Krieg und Frieden:

      »Der Friede aber ist kein Gegensatz zum Krieg, nicht dessen anderer Pol, sondern dessen Sinn, Seele, Individuum; das schöpferische Zentrum aller Diametrik. Der Friede bedeutet die Überwindung des Krieges, keineswegs im Sinne von Vernichtung, sondern von gleichsam musikalischer Beherrschung und Besiegung alles Widerstreits.« (GS10, 103)

      Oder Gut und Böse:

      »Das Echte, Gesunde, Wahre, Schöne, Gute, mit einem Wort: Gott – ist kein Pol, sondern die zentrierende, harmonisierende Macht, von der die Pole, die sonst zwieträchtig, also eben falsch, hässlich, böse disharmonisieren, zur Konkordanz gezwungen werden. Im Gewölbe der menschlichen Spannungen bewirkt erst dieser Schlußstein den vollendeten Halt.« (F/M, Das magische Ich, 142)

      Martina Gremmler-Fuhr

      Die Idee von Polarität im Integralen Gestalt-Ansatz (INTEGA)

      Einführung

      Die philosophische Idee der Polarität hat eine lange Geschichte und fand Eingang in den Gestalt-Ansatz1 über Salomo Friedlaender.2 Sie ist heute in vielen Gebieten der Wissenschaften zu finden und natürlich auch in psychologischen Konzepten vertreten. So basiert zum Beispiel in dem Klassiker von Fritz Riemann (1981), Grundformen der Angst, die Grundstruktur der Typologie auf Polaritäten, aber auch in verschiedenen entwicklungspsychologischen Ansätzen, beispielsweise Robert Kegans Entwicklungsstufen des Selbst, ist eine polare Grundstruktur wesentlich (vgl. Kegan 1986). Im Gestalt-Ansatz ist beispielsweise das Figur-Hintergrund-Konzept polar, und auch die Kontaktfunktionen lassen sich – auch um ihrer Prozesshaftigkeit oder Dynamik gerecht zu werden – in Polaritäten ausdifferenzieren, indem man sie beispielsweise der Grundpolarität Eigenständigkeit und Zugehörigkeit (z. B. Kegan ebd.) zuordnet (vgl. Fuhr & Gremmler-Fuhr 1995, 119–129). Als Grundprinzip der Darstellung ist es aber auch beispielsweise in den Praxisprinzipien der Gestalttherapie verwendet worden (vgl. Fuhr 2001a).

      Eine polare Grundstruktur spielt auch in der Integralen Philosophie eine besondere Rolle, die ich zusammen mit Reinhard Fuhr auf der Grundlage von Ken Wilbers Arbeiten, vor allem Eros, Kosmos Logos und Integrale Psychologie (Wilber 1996, 2006) mit dem Gestalt-Ansatz zum INTEGA (Integraler Gestalt-Ansatz) verbunden habe. Besonders zentral ist dabei zum einen die Holarchie der Entwicklung, zum anderen das Quadrantenmodell. Beide zusammen ergeben bei Wilber das AQUAL-Modell (all quadrants all levels), ein umfassendes Orientierungssystem für Entwicklung, das westliche und östliche Erkenntnisse zusammen zu führen versucht.

      Beim Quadrantenmodell handelt es sich um ein Konstrukt, das versucht, vier gleichwertige Perspektiven von Realität metatheoretisch abzubilden. Die vier Perspektiven ergeben sich aus den Polen von Innen und Außen, sowie den Polen Individuell und Kollektiv. So ergeben sich vier Quadranten, mit den Perspektiven Innen-Individuell (der obere linke Quadrant, OL), Innen-Kollektiv, (unterer linker Quadrant, UL), Außen-Individuell (oberer rechter Quadrant, OR) und Außen-Kollektiv (unterer rechter Quadrant, UR).

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      Abb. 1: Quadrantenmodell I, (nach Wilber 1996)

      © Gremmler-Fuhr 2008

      Jeder dieser Quadranten hat aufgrund seiner Perspektive auf ein Phänomen seine spezifische »Erkenntnismethode«, so zum Beispiel OL die dialogische Interpretation, OR die empirische Untersuchung. Entsprechend gibt es für jeden Quadranten einen spezifischen »Erkenntnisgegenstand«, z. B. für OL innere subjektive Prozesse und für OR beobachtbares Verhalten und Sachverhalte. Und schließlich gelten auch für jeden Quadranten spezifische Wahrheitskriterien, beispielsweise für OL Wahrhaftigkeit und für OR Objektivität. In Abbildung 2 ist ein vollständiger Überblick für alle vier Quadranten3 dargestellt.

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      Abb. 2: Quadrantenmodell II, vier Perspektiven der Wirklichkeit und ihre spezifischen Erkenntnisweisen, Erkenntnisgegenstände und Wahrheitskriterien (nach Fuhr & Dauber 2002, 22)

      © Gremmler-Fuhr 2012

      Neben dem Quadrantenmodell führte ich als zweites wichtiges Modell, das wir aus der Integralen Philosophie in den Integralen Gestaltansatz eingefügt haben, die Holarchie der Entwicklung an.

      Aus der westlichen Welt sind darin beispielsweise Systeme von Jean Gebser (Kultur), Abraham Maslow (Bedürfnisebenen), Lawrence Kohlberg und Carol Gilligan (moralische Entwicklung), Clare W. Graves (Persönlichkeitsentwicklung) und Don Edward Beck und Christopher C. Cowan (Werte, Führung und Wandel) eingeflossen. In der Terminologie zum Integralen Gestalt-Ansatz nehmen wir Bezug auf Gebser mit dem Ebenenmodell zu Weltsichten, beginnend mit archaisch, weiter über magisch, mythisch, mental bis zur integralen Weltsicht, aber vor allem auch auf die farbliche Bezeichnung und Erläuterungen, wie sie von Beck und Cowan in Spiral Dynamics (2011, s.u.; vgl. auch Abbildung 3; vgl. auch Anmerkung 4) benutzt werden.

      Wie nicht nur oben auszugsweise erwähnt, sondern darüber hinaus in diesem Buch in anderen Beiträgen hinreichend ausgeführt, hat also die polaristische Philosophie in den Gestalt-Ansatz Eingang gefunden. Daher werde ich mich im Folgenden schwerpunktmäßig auf das konzentrieren, was Reinhard Fuhr und ich aus der Integralen Philosophie für den Integralen Gestalt-Ansatz übernommen