für Dada charakteristisch benennt und von einer »Revolte der von vielen Seiten bedrängten Persönlichkeit« (ebd., 79) spricht, so trifft er hiermit auch Perls’ Gefühlslage nach dem Ersten Weltkrieg. Huelsenbeck hat dem Dadaismus eine existenzielle Deutung gegeben (vgl. ebd., 79), er war für ihn eine »Philosophie, die über die Kunst in das Leben selbst hinausschritt« (ebd. 95). Die Sehnsucht des modernen Menschen nach sich selbst, ob nun romantisch, expressionistisch, existenzialistisch oder eben dadaistisch gekleidet, tauchte in sich ähnelnden Kurzformeln immer wieder auf. Der Romantiker Schlegel forderte: »Werde, der du bist!« Und bei Johannes Baader hieß es dann: »Drum werde, was du bist, Dadaist.« (Baader in Bergius 1993, 19). Auch Raoul Hausmann beschrieb Dada als einen »Lebenszustand, mehr eine Form der inneren Beweglichkeit als eine Kunstrichtung« (Hausmann 1982a, 95). In diesem Sinn war Perls für mich Dadaist, hat Dada auf sein Gebiet »projiziert«, wie Huelsenbeck das nannte, und ist mit seiner Form der Gestalttherapie genau in dessen Sinne über die medizinische Behandlung »in das Leben selbst« hinausgetreten.
Perls’ Denken war durchdrungen von den Ereignissen und Themen seiner Zeit, und die ihn wie einen Teil seiner Generation bedrängenden Themen tauchten immer wieder in einem anderen theoretischen Gewand und Kontext auf, präzisierten sich und entwickelten sich weiter. Was sich in diesen ersten Nachkriegsjahren in ihm festgesetzt hat, ist nach meiner Vermutung das, was Sloterdijk den »kynischen Impuls« nannte. Perls war eine Art Kyniker, so wie Diogenes von Sinope und nach ihm Lukian von Samosata, den Sloterdijk im Kontext des imperialen Staatsapparates des römischen Kaiserreiches als einen Hippie und Führer einer Aussteigerbewegung ansieht. Der kynische Skandal war, dass die niedergedrückte Sinnlichkeit auf den öffentlichen Markt getragen wurde. Gegen die platonische Ideenlehre stand der Furz, gegen den feinsinnigen Eros die öffentliche Masturbation. Der Neokynismus des Dada griff »die Abspaltung und Diffamierung des Sinnlichen« (Sloterdijk 1983, 216) an und bemühte sich in der Tradition einer »grobianischen Aufklärung« (ebd., 205) darum, »aggressiv und frei (›schamlos‹) … die Wahrheit zu sagen« (ebd. 206). Im Aussprechen der Wahrheit (oder besser dessen, was der eigene Wahrnehmungsapparat als Wahrheit gerade anbietet), auch gegen die Großen, die Eltern, die Mehrheitsmeinung, die kulturelle Norm etc., liegt ein aggressives, besser produktiv-aggressives Moment. Bei der gemeinsamen Konzeption der Gestalttherapie, zusammen mit Paul Goodman, den man in diesem Zusammenhang durchaus als einen amerikanischen Kyniker bezeichnen kann, fand dann auch Aggressivität als konstruktive Kraft einen zentralen Platz.
Es geht hier um eine weit zurückreichende, selbstkritische Linie innerhalb der Aufklärung, die mit dem Schlachtruf »Natur!« bis heute gegen eine Aufklärung aufbegehrt, die sich auf das Rationale, auf die instrumentelle Vernunft im Sinne von Adorno und Habermas reduziert. Gegen das sich im schönen Reden und Schreiben erschöpfende sogenannte Geistige will diese sinnliche Aufklärung Geist und Körper wieder in einen innerlichen Bezug und in tätigen und gestaltenden Kontakt mit der Umwelt bringen. Mit diesen Bezügen will ich Perls nicht idealisieren oder ihm höhere Weihen geben. Ich halte aber eine Sichtweise, die ein Individuum aus seiner historischen Zeit und seinem konkreten Lebens- und Erfahrungsraum nimmt und lediglich eine individuelle Pathologie oder einen genialischen Zug sieht, für zu eingeschränkt und unfruchtbar. Der im hier angesprochenen Sinn rebellische Kern des Gestaltansatzes transportiert gelebte Kritik an den jeweils vorgefundenen und an den als gespalten erlebten Lebensweisen.
Beispiele für neo-kynische oder neo-dadaistische Aktionen von Fritz Perls finde ich in dem Buch von Gaines (1979). Joe Wysong erinnert sich dort an einen Kongress, auf dem Perls gebeten wurde, eine Erklärung zu geben, was denn Existenzielle Psychotherapie sei. Er tat dies anscheinend mittels eines Gedichtes:
»I’m not a lady performing her farts,
I’m a scoundrel, a lover of arts,
I am who I am,
I screw when I can.
I’m Popeye the Sailor Man.« (Perls in Gaines ebd., 331)
Es wird von einer Konferenz mit einem Auditorium von über tausend Personen berichtet, wo Perls zusammen mit namhaften Psychiatern an einer Podiumsdiskussion teilnahm und dort demonstrativ einschlief (vgl. ebd., 173). Auf einer Tagung im Esalen Institut, die sich dem existenziellen Thema ›Sein‹ widmete, kroch er plötzlich auf dem Bauch über den Boden und entlockte dem ebenfalls anwesenden Abraham Maslow die durchaus nachvollziehbare Reaktion und Formulierung: »This begins to look like sickness.« (ebd., 153)
Zu den Hochzeiten der Popularität von Esalen wurde der gesamte Lehrer-Staff zu einer Hollywood-Party eingeladen, auf der zahlreiche bekannte Filmschauspieler anwesend waren. Perls »was playing havoc with Hollywood that night, and enjoying it because he did love films and he knew very well what he was doing.« (ebd., 201) Oskar Werner, Natalie Wood und andere Schauspieler bekamen Sätze zu hören wie: »You are a spoiled brat who thinks about nothing but herself« (ebd. 201), und verließen entsprechend gekränkt und empört den Swimmingpool, an dem Perls auf dieser Party seinen informellen Gestalt-Workshop abhielt. Da, wo er den Eindruck hatte, dass lediglich schönes Denken oder schöner Schein dominierten, fühlte er sich immer wieder zu direkten Aktionen provoziert und hat den kynischen, den dadaistischen Gegenpol verkörpert, für den er selbst oft das Bild des Mephisto aus Goethes Faust benutzte.
Für mich ist die Erinnerung von Jack Rosenberg als einen »established professor« (ebd., 173), der an den Esalen-Workshops von Perls teilnahm, ein gutes Beispiel für das, worum es Perls in seiner damaligen Arbeit ging. Rosenberg bekam durch die Arbeit mit Perls den Mut zu küssen und zu tanzen: »Man, it was like I had permission to be alive because he was alive!« (ebd.)
Perls war ein kluger, belesener und gebildeter deutscher Jude, der da den vernünftigen und rationalen Pol angriff, wo ihm das Zusammenspiel von Vernunft und Sinnlichkeit unter die lähmende Herrschaft der Rationalität zu geraten schien. Meine Deutung ist, dass Perls die Entstehung von sinnlicher Vernunft da provozierte, wo er instrumentelle Vernunft wahrnahm.
Kulturkritische Psychoanalyse und »Aufhebung der fremden Macht in innerste eigene Autorität«
Perls wird unweigerlich im Kontext des Mynonakreises mit den Ansichten von zwei Personen in Kontakt gekommen sein, in denen sich zentrale Positionen der damaligen Kultur-Avantgarde bündelten, die auch in der Gestalttherapie weiterleben. Dies betrifft in Bezug auf die hier behandelte Zeit in erster Linie Raoul Hausmann, »Dadasoph« und Polaritätstheoretiker, der auch eine persönliche und inhaltliche Verbindung zwischen Mynona und dem anarchistischen Psychoanalytiker Otto Gross darstellte. Dieser wiederum gab mit seiner kulturrevolutionären Anti-Introjektionstheorie der Selbst- und Welterfahrung der betroffenen sozialen Gruppe einen psychologischen Ausdruck.
Die Verbindung zwischen Friedlaender und Gross wird indirekt gewesen sein. Beide haben bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges in Franz Pfemferts wichtiger Avantgardezeitschrift »Die Aktion« publiziert. Die Verbindung zwischen Friedlaender und Hausmann war hingegen direkt. Hanne Bergius berichtete, dass die Berliner Dadaisten Raoul Hausmann und Johannes Baader ein »intensiveres Verhältnis« zu Friedlaender hatten und bereits 1915 mit ihm eine »vordadaistische Truppe« bildeten, die die Zeitschrift »Erde 1915« herausgeben wollte (vgl. Bergius 1993, 231). Hannah Höch, die die Geliebte des verheirateten Hausmann in diesen Jahren war, hatte eine freundschaftliche Beziehung zu Friedlaender, der ihr manchmal »um ein Viertelernst gemeinte Liebesbriefe« (Höch in Bergius 1993, 236) schrieb, während sie selber Porträtzeichnungen von Friedlaender anfertigte und Titel seiner Grotesken in ihre Collagen und Montagearbeiten einbaute (vgl. ebd.). Höch, deren wunderschöne Arbeiten im Internet angeschaut werden können, sowie Hausmann und Friedlaender haben im Februar 1921 auf einer gemeinsamen Dada-Manifestation Grotesken vorgelesen und vorgetragen (vgl. Bergius ebd., 239).
Ich gehe davon aus, dass Perls als Teil der »Mynonagemeinde« die Grundgedanken Hausmanns kannte oder Diskussionen zwischen den beiden mitbekommen hat. Hannah Höch hat ja berichtet, wie anregend sie die Diskussionen zwischen Friedlaender und Baader und Hausmann fand und Jahrzehnte später noch im Gespräch mit Hanne Bergius erwähnt, dass es Gedankengänge waren, »bei denen das Gehirn knackte« (Höch in Bergius 1993, 133).
In Hausmanns »Pamphlet gegen die Weimarische Lebensauffassung« ist zu lesen: