Regina Scherrer

Schule und Bildung aus soziologischer Perspektive (E-Book)


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wie das Echo der verbalen Auseinandersetzungen, die zwanzig Jahre zuvor stattgefunden hatten. Zu guter Letzt rechnet einer der Anwesenden in hoch emotionaler Weise mit dem ebenfalls eingeladenen, inzwischen im Ruhestand lebenden, Klassenlehrer ab, zählt ihm die Situationen auf, in denen er ihn damals falsch beurteilt und ungerecht behandelt habe.

      Dies alles ist ein höchst erstaunliches Verhalten vernünftiger junger Erwachsener, für welche die gemeinsame Zeit im Alter von zehn bis zwölf Jahren bezogen auf ihr heutiges Leben in aller Regel nicht mehr von höchster Relevanz, sondern als Erinnerung an einen Teil der persönlichen Biografie im Gedächtnis verankert ist. Es stellt sich deshalb die Frage, wieso das ‹Rollenspiel› nach so langer Zeit doch noch einmal aufgeführt wird und was es damit überhaupt auf sich hat. Insofern es sich dabei nicht um ein Spiel mit festen, überall geltenden Regeln wie etwa Schach oder bestimmte Kartenspiele handelt, sondern um ein in der betreffenden Primarschulklasse entwickeltes und nur ihr bekanntes Spiel, mag es sich lohnen, der Frage nach seiner Entstehung nachzugehen.

      Peter L. Berger und Thomas Luckmann haben sich in ihrem Buch Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit zwar nicht mit der eben beschriebenen Klasse, aber im Grunde mit einer analogen Frage beschäftigt (Berger und Luckmann 1980). Ihr Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass sich die Menschen in ihrer natürlichen, besonders aber auch in ihrer sozialen Umwelt nicht nach genetisch festgelegten Instinkten und Programmen bewegen, sondern angemessene Handlungsweisen im Verlauf der Sozialisation erwerben beziehungsweise im Zusammenhang mit bestimmten Situationen überhaupt erst selber entwickeln müssen.

      Für den einzelnen Menschen geht es dabei zunächst darum, nicht jede alltägliche Handlung jedes Mal wieder neu erfinden, nicht mehr jedes Mal aus einer grossen Bandbreite möglicher Handlungen eine ganz bestimmte Abfolge neu auswählen zu müssen. Das wäre ohne Frage viel zu zeit- und kräfteraubend. Wer sich Tag für Tag noch halb verschlafen das Frühstück zubereiten muss, ist dankbar dafür, über einen problemlos abrufbaren, gewohnten, mehr oder weniger automatisierten Handlungsplan zu verfügen, nach dem die Handlungskette ‹Frühstück zubereiten› ablaufen kann. Berger und Luckmann bezeichnen den Prozess, in dem die Handlungskette zur gewohnten Routine wird, als Habitualisierung. In Bezug auf die Handlungskette ‹Frühstück zubereiten› sprechen sie von einer Typisierung in dem Sinne, dass es sich dabei nicht um ein zufälliges Zusammentreffen von Einzelhandlungen wie ‹Kühlschrank öffnen›, ‹Pfanne hervorholen›, ‹Milch hineingiessen› und so weiter handelt, sondern um eine Verknüpfung all dieser Einzelhandlungen zu einer für den Handelnden Sinn tragenden Einheit – ‹Frühstück zubereiten› eben. Und sie vertreten den Standpunkt, dass Typisierung beziehungsweise Habitualisierung gleichsam die Vorstufe, jedenfalls aber notwendige Voraussetzung jeder Institutionalisierung seien.

      Die Zubereitung des Frühstücks im beschriebenen Sinn ist allerdings selber noch keine Institution. Damit im Sinne der Autoren von einer Institution gesprochen werden kann, müssen einige weitere Bedingungen erfüllt sein: Erstens müssen mehr Subjekte als nur die einzelne ein Frühstück zubereitende Person an dem Vorgang beteiligt sein. Um zu verdeutlichen, wie dies gemeint ist, bringen Berger und Luckmann eine zweite, in einem völlig anderen kulturellen Zusammenhang sozialisierte Person ins Spiel, die – ähnlich wie der Eingeborene Freitag in Daniel Defoes Roman Robinson Crusoe (1719) – zunächst keine Ahnung hat, was da vor sich geht, wenn jemand Frühstück zubereitet; die aber interessiert zusieht und nach mehrmaliger Wiederholung des (habitualisierten) Vorgangs ihrerseits in der Lage ist, die entsprechende Handlungskette als einen Handlungstyp zu identifizieren. Nach einer gewissen Zeit mag sich diese Person gar ein Herz fassen und in den Ablauf eingreifen und beispielsweise zum richtigen Zeitpunkt die Milchpfanne hervorholen, was wiederum der ersten Person nicht entgeht. Damit wird das, was sich ein einzelner Mensch quasi ‹privat› als sinnhafte Handlungskette unter dem Begriff ‹Frühstückzubereiten› zurechtgelegt hat, zu einem Handlungstyp, der auch für eine oder mehrere andere Personen denselben Sinn hat. Berger und Luckmann verwenden dafür den Begriff der reziproken, also wechselseitigen Typisierung. Wechselseitig typisiert werden dabei nicht nur die Handlungsabfolge ‹gemeinsam Frühstück zubereiten›, sondern auch die Rollen, welche die Beteiligten darin einnehmen, beispielsweise als ‹Milchausdemkühlschranknehmer› oder ‹Pfannebereitsteller›. Der Handlungsablauf entwickelt sich nicht anders, als wenn kleine, einander zunächst fremde Kinder auf dem Spielplatz ein Spiel erfinden und dabei zugleich auch unterschiedliche Rollen festgelegt werden.

      Dieses interpersonale und in diesem Sinne nun soziale Arrangement stellt eine weitere Annäherung an das dar, was als soziale Institution gelten kann, entspricht aber noch nicht dem, was Berger und Luckmann darunter verstehen. Denn noch steht das ‹Arrangement› den handelnden Personen frei zur Disposition; sie können es abwandeln, völlig neu konzipieren oder auch ganz aufgeben – ganz wie auch spielende Kinder es zuweilen tun. Dies ist aber dann nicht mehr der Fall, wenn es im Rahmen der Sozialisation an Kinder und Kindeskinder weitergegeben wird. Denn diesen tritt das, was die ursprünglichen ‹Konstrukteure› des interpersonalen Arrangements noch als eigene, im Prinzip umkehrbare Schöpfung verstehen konnten, als objektive, selbstverständliche, unveränderliche Wirklichkeit gegenüber. Aus dem ‹so machen wir das› ist ein ‹so macht man das› geworden. Dazu bedarf es zweierlei: Zunächst muss begründet werden, weshalb man die Dinge so und nicht anders tun soll. Institutionen wollen mit anderen Worten legitimiert sein. Dies wiederum funktioniert erst unter der Voraussetzung, dass das ursprünglich erfahrungsgebundene Wissen in irgendeiner Weise sprachlich repräsentiert wird, sodass man Handlungen nicht mehr konkret vorzeigen muss, sondern sie in sprachlich objektivierter Form stellvertretend für die Handlung selber betrachten und diskutieren kann. Unter diesen beiden Voraussetzungen kann Wissen institutionalisiert und auch im Laufe der Sozialisation erlernt beziehungsweise als subjektive Wirklichkeit internalisiert werden. Institutionelle Wirklichkeit verdoppelt sich so im institutionalisierten ‹Wissen› über diese Wirklichkeit, das in der Generationenfolge durch einen gesellschaftlichen Apparat, beispielsweise das Schulwesen, tradiert und auf Dauer gestellt wird.

      Als Rezeptwissen leitet solches Wissen gemäss Berger und Luckmann das Handeln derer an, die an Institutionen teilhaben, als Erklärungs- und Rechtfertigungswissen macht es deren Sinnhaftigkeit plausibel. In dem Masse, wie es von den Mitgliedern einer Gruppe oder einer ganzen Gesellschaft geteilt wird, wirkt es auch als Kontrollmechanismus. Abweichungen von den dadurch nahegelegten Handlungsweisen sind auch Abweichungen gegenüber den entsprechenden Wissensbeständen und werden entsprechend – sanfter oder härter – sanktioniert. Durch Vergegenständlichung beziehungsweise Objektivierung und durch Internalisierung – unterstützt durch Mechanismen der Legitimation und Kontrolle – erhalten durch reziproke Typisierung entstandene Handlungsmuster gleichsam ein Eigenleben. Sie werden zu einem Stück gesellschaftlicher Wirklichkeit, das unabhängig von zufälligerweise anwesenden Akteuren existiert.

      Es wäre allerdings ein Missverständnis, würde man annehmen, die Menschen wären in ihrem täglichen Leben völlig frei, solche Prozesse anzustossen und neue Institutionen zu schaffen. Sie tun dies vielmehr stets im Rahmen und unter den Einschränkungen bereits bestehender, mächtiger institutioneller Ordnungen. Bereits die eingangs vorgestellte Primarschulklasse konnte ihre innere soziale Ordnung, ihr institutionelles Arrangement nicht ganz nach eigenem Gutdünken entwickeln. Sie tat es vielmehr in einem Feld, das durch vorgegebene Regelungen relativ eng begrenzt war, etwa durch ein fest etabliertes Autoritätsverhältnis zwischen Lehrer und Schülern oder durch die räumliche und zeitliche Organisation des Unterrichts. Immerhin aber entwickelte sie in diesem Rahmen ein Geflecht reziproker Typisierungen und ein ihm entsprechendes ‹Wissen›, das es ihr nach zwanzigjährigem Unterbruch erlaubt, das damals gespielte ‹Spiel› mühelos wieder aufzunehmen.

      Wie einleitend bereits kurz erwähnt, setzte Émile Durkheim, Professor für Pädagogik und Soziologie zunächst an der Universität Bordeaux und später an der Sorbonne in Paris, das Bestehen sozialer Institutionen als gegeben voraus und verstand Gesellschaften als Gefüge solcher aufeinander bezogener Institutionen. Wohl als einer der Ersten bezog er diese Idee in seiner 1922 veröffentlichten Schrift Education et sociologie (Durkheim 1985) auch auf das Feld von Erziehung, Schule und Bildung. Dabei unternahm