gültige Verträge abzuschliessen, und das Recht auf ein Gerichtsverfahren» (Marshall 1992, S. 50). Darauf bauen ab dem 19. Jahrhundert die politischen Rechte auf: «Recht auf Teilnahme am Gebrauch politischer Macht, entweder als Mitglied einer mit politischer Autorität ausgestatteten Körperschaft, oder als Wähler der Mitglieder einer derartigen Körperschaft» (a. a. O.). Im späten 19. Jahrhundert schliesslich kam die Entwicklung und Ausweitung des «sozialen Elements» in Gang: « […] vom Recht auf ein Mindestmass an wirtschaftlicher Wohlfahrt und Sicherheit, über das Recht an einem vollen Anteil am gesellschaftlichen Erbe, bis zum Recht auf ein Leben als zivilisiertes Wesen entsprechend der gesellschaftlich vorherrschenden Standards» (a. a. O.).
In unserem Zusammenhang von besonderem Interesse ist nun die Stellung, oder besser die ‹Karriere› der Bildung über die drei Phasen hinweg. Aus heutiger Sicht handelt es sich dabei klar um ein soziales Recht, nämlich das Anrecht auf Teilhabe an den kulturellen Errungenschaften der Gesellschaft, oder individuell gewendet das Recht auf Kultivierung der eigenen Person. Dies war indessen nicht die vorherrschende Sicht im 18. und 19. Jahrhundert.15 Damals erschien der Erwerb von Bildung noch als Voraussetzung für die Wahrnehmung zunächst der bürgerlichen Rechte wie etwa der Eigentums- und Vertragsrechte; und dann vor allem für die verantwortungsvolle und informierte Teilhabe an politischen Entscheidungen. Bildung wurde somit als Pflicht verstanden, der man sich zu unterziehen hatte, um – dies das darauf aufbauende Bürgerrecht – an der Gestaltung des Gemeinwesens teilzuhaben:
«Wenn der Staat allen Kindern eine Erziehung sicherstellen will, dann hat er dabei ausdrücklich die Voraussetzungen und das Wesen des Staatsbürgerstatus im Blick. Er versucht, die Entwicklung der werdenden Staatsbürger zu fördern. […] Grundsätzlich sollte es [das Recht auf Bildung, M. R.] nicht als das Recht des Kindes auf den Besuch der Schule gesehen werden, sondern als das Recht des erwachsenen Staatsbürgers, eine Erziehung genossen zu haben.» (Marshall 1992, S. 51)
Diese im Recht auf Bildung enthaltene Ambiguität zwischen Bildung als Voraussetzung und Bildung als sozialer Wert an sich lebt in den Institutionen der öffentlichen Bildung bis auf den heutigen Tag weiter. Der Auffassung von Bildung als einem selbstverständlichen, universellen Menschenrecht steht in Gestalt der obligatorischen Schule noch immer die Institutionalisierung von Bildung als einer Verpflichtung gegenüber.
Im Zusammenhang des vorliegenden Kapitels ist indessen auf zwei Aspekte hinzuweisen, die in dieser Diskussion eher im Hintergrund geblieben sind: Wenn es eine Form gibt, der «vorgestellten Gemeinschaft von Gleichen» bereits im frühen Kindesalter symbolisch Ausdruck zu verleihen, so eignen sich dazu wenige Dinge so gut wie die für alle geltende Teilnahme an einer Institution, die sich spezifisch mit Kindern und Jugendlichen befasst (zur Legitimationsfunktion von Bildung vgl. Kapitel 3). So gesehen darf man die Einführung der allgemeinen Schulpflicht, die im 19. Jahrhundert in weiten Teilen Europas vollzogen wurde, durchaus als eine Erscheinung verstehen, die in engstem Zusammenhang mit der Entstehung der modernen Nationen und mit dem damit verbundenen Nationalismus steht.
Die Einführung der allgemeinen Schulpflicht stellte auch die erste und wohl radikalste Herausforderung der hergebrachten Schulstrukturen dar. Erstmals sollten alle Kinder, ungeachtet ihrer Herkunft, die elementare schulische Erziehung nicht von Anfang an in durch Standesgrenzen getrennten Bahnen – und das heisst in separierten Teilen der Bildungsinstitution – erfahren, sondern in einer Einrichtung, welche keine Standesgrenzen kennt. Diese Feststellung bringt uns zu einem weiteren Punkt: Mit der Einführung der Pflicht aller zur Teilnahme an der gemeinsamen elementaren Bildung wurde auch der Grundstein für etwas gelegt, das vor allem mit dem Ausbau der weiterführenden Bildung zunehmende Bedeutung erlangen sollte. Das Schulwesen wurde nämlich dadurch als ein System eingerichtet, in dem man mehr oder weniger Erfolg haben und vorankommen, also weiterführende Schulen besuchen kann, was wiederum dem Erreichen höherer beruflicher und gesellschaftlicher Positionen förderlich ist. Für alle Kinder wurde eine Art gemeinsame Grund- oder Startlinie im Alter von etwa sieben Jahren geschaffen. Mehr über die weitreichenden Folgen dieses fundamentalen Wandels wird in einem der nächsten Kapitel (Kapitel 3) zu erfahren sein.
Die eben skizzierte Entwicklung fand in den Ländern Europas je nach deren politischen Verhältnissen in unterschiedlicher Geschwindigkeit und mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen statt. Vollzogen einige die Einführung der allgemeinen Schulpflicht verhältnismässig früh in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dauerte es in anderen bis zum späten 19. oder gar frühen 20. Jahrhundert. Und lag der Akzent in noch stark der alten Ordnung verpflichteten Ländern auf der Einführung einer einseitig von oben verordneten Staatsschule, wurde die Entwicklung in anderen auch von breiten Kreisen eines aufgeklärten republikanischen Bürgertums mitgetragen.
Letzteres trifft namentlich auch für den Fall der damaligen Eidgenossenschaft zu. Hier wurde kurz nach dem Einmarsch der napoleonischen Truppen zunächst die Helvetische Republik ausgerufen und ein Versuch unternommen, die allgemeine Schulpflicht landesweit zu verankern. Reformen im Schulwesen sollten gemäss den Wortführern der Helvetik nicht nur der Aufklärung zum Durchbruch verhelfen und zur Perfektionierung des Menschen beitragen; vielmehr wurden sie auch als Mittel gesehen, dem neuen Staat ein Fundament zu geben und ein Zugehörigkeitsgefühl gegenüber der helvetischen Nation zu erzeugen (Bütikofer 2006, S. 131 ff.).
Bekanntlich scheiterte das Experiment der Helvetik bereits nach knapp fünf Jahren, und die weitere Entwicklung vollzog sich – ebenfalls in unterschiedlicher Geschwindigkeit – in den Kantonen. Entsprechend liess sich die Einführung der modernen Schule nicht in derselben, direkten Weise, sondern nur gleichsam auf einer unteren, kantonalen Ebene mit dem Aufbau der Nation verknüpfen. Dass der landesweite Nationalismus auf gesamtschweizerischer Ebene mehr im Rahmen eidgenössischer Schützen-, Turn- und Trachtenfeste zelebriert wurde (Jansen und Borggräfe 2007, S. 155 f.), bedeutet jedoch nicht, dass er nicht auch im Schulwesen der Kantone durchaus präsent war. Denn die kantonalen Lehrpläne und Lehrmittel, namentlich jene für die Fächer Geschichte, Geografie und Gesang, orientierten sich sehr wohl am nationalen Ganzen. Und wichtiger noch: Auch auf der kantonalen Ebene wurde die neue Schule als Volksschule, als eine Schule für Gleiche, eindeutig im Kontext der neuen Ordnung und der Herausbildung einer Nation verstanden. In einem gewissen Sinne geschah dies gar noch radikaler als anderswo. Denn die Volksschule wurde nicht nur als eine Errungenschaft des ganzen Volkes und der entstehenden Nation gefeiert, sondern namentlich auch als Beitrag zu deren demokratischen Verhältnissen. Die Schule sollte einen grundlegenden Beitrag dazu leisten, dass die Bürger des Landes16 an den Staatsgeschäften Anteil nehmen konnten.
Wie erwähnt, lässt sich die Etablierung der modernen Volksschule im Falle der Schweiz wegen der Verschiebung dieses Prozesses auf die kantonale Ebene nicht unmittelbar zu nationalistischen Bestrebungen in Beziehung setzen. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht mit der Entwicklung der Schweiz als Nationalstaat aufs Engste verknüpft gewesen ist. Denn wenn sich die Schweiz im Verlauf des 19. Jahrhunderts als ein föderalistisches und eben nicht zentralistisches Staatsgebilde definierte, so war es nicht zuletzt die Verlagerung der Entscheidungsbefugnisse in Bezug auf Schule und Bildung nach unten, welche diesen Staatsaufbau stützte – und bis auf den heutigen Tag stützt.17
Vergegenwärtigen wir uns an dieser Stelle nochmals Durkheims These: «Es [das Bildungssystem, M. R.] wird dann nicht als eine Gesamtheit von Praktiken und Einrichtungen erkennbar, die sich im Laufe der Zeit allmählich organisiert haben; die auf alle anderen sozialen Institutionen abgestimmt sind und diese ausdrücken; die sich demzufolge nicht nach Belieben verändern lassen, sondern nur bei gleichzeitiger Veränderung der Gesellschaftsstruktur selbst.» (Durkheim 1985, S. 44; Übers. und Hervorh. M. R.) Gerade die Entwicklungen an der Schwelle zur Moderne verdeutlichen sehr klar, dass die Praktiken und Institutionen der Erziehung vor allem dann geändert werden können, ja müssen, wenn sich die Struktur der Gesellschaft ändert, auf die sie bezogen sind. Dies scheint für den Zusammenhang zwischen Schulpflicht und Nationenbildung europaweit zu gelten, im Falle der Schweiz auch für den Zusammenhang zwischen der Etablierung der Volksschule auf der einen Seite und dem föderalistischen, demokratischen System auf der anderen.