Vorschläge erwogen worden, wie das Phänomen der Bildungsexpansion – und genau darum handelt es sich beim Ausbau der nachobligatorischen Bildung – erklärt werden könnte. Der scheinbar nächstliegende Ansatz argumentiert mit einer Veränderung und Zunahme der gesellschaftlichen Anforderungen, die es mit einem Ausbau der sekundären und tertiären Bildung zu bewältigen gibt. Man kann ihn als funktionalistischen Erklärungsansatz oder die funktionalistische Hypothese bezeichnen. Sie besagt, dass in der Gesellschaft des 19. und vor allem des 20. Jahrhunderts der Bedarf an Qualifikationen und Kompetenzen stetig und mit zunehmender Geschwindigkeit gestiegen ist, weshalb das Bildungswesen für die Bereitstellung dieser Qualifikationen und Kompetenzen sorgen musste, was insgesamt zu einer zunehmenden Verweildauer junger Menschen in schulischen Einrichtungen geführt hat.
Die Erklärung ist auf den ersten Blick bestechend. Denn es kann kaum ein Zweifel daran bestehen, dass das moderne Leben immer mehr neue Anforderungen an die Menschen stellt, mit denen sie in früherer Zeit noch nicht konfrontiert gewesen waren. Man denke hier etwa an die technologische Entwicklung, die sie in ihrer beruflichen Tätigkeit, aber auch im Alltagsleben mit zunehmend komplexen Anforderungen konfrontiert. Oder an die Einrichtungen der Sozialversicherungen, deren Regelwerke seit ihrer Einführung gewiss nicht an Durchsichtigkeit gewonnen haben. Oder schliesslich an Vorlagen eidgenössischer und kantonaler Abstimmungen, die zu verstehen Kopfzerbrechen bereiten kann.
Die funktionalistische Hypothese ist somit sicherlich recht einleuchtend, wenn man sich die zunehmende Differenzierung, Komplexität, Technisierung und Verwissenschaftlichung vieler Lebensbereiche vor Augen führt. Die These, dass es einen wachsenden Qualifikationsbedarf gibt, ist daher kaum von der Hand zu weisen. Es gibt jedoch auch gewichtige Einwände, besonders gegen die implizite Annahme, dass das Bildungswesen auch tatsächlich auf den sich ändernden Bedarf an Kompetenzen reagiert. Denn das würde ja bedeuten, dass es sich nicht nur quantitativ ausweitet, sondern auch laufend danach fragt, welche neuen Kompetenzen zu vermitteln sind, und entsprechend Lehrpläne, Lehrmittel und Lehrerbildung rasch an die neuen Qualifikationsprofile anpasst.
Dass dies tatsächlich geschieht, darf zumindest angezweifelt werden. Zwar wird man der berufsfachlichen Bildung eine schnelle Anpassung an den sich ändernden Qualifikationsbedarf attestieren können. In allgemeinbildenden Schulen jedoch ist dies weit weniger der Fall. Denkt man etwa an die Gymnasien, so wird man für das 20. Jahrhundert kaum von einer raschen, laufenden Anpassung der Lehrpläne und Lehrmittel an die neuen Erfordernisse sprechen können. Es ist ja nicht so, dass die Verantwortlichen das Fach Latein über Bord geworfen hätten, um Raum für die Vermittlung von Qualifikation für die Staatsbürgerrolle oder im Bereich der Sozialversicherungen zu gewinnen. Und auch die Sekundarstufe I hat sich nicht so entwickelt, dass sie sich laufend an solche neuen Herausforderungen anpasste. Was in den Reformen dieser Stufe (zumindest in der Schweiz) vor allem thematisiert wurde, war zumeist etwas anderes: nämlich ihre innere Differenzierung in obere und untere Niveaus, in Schulen mit ‹Grundansprüchen›, die im Allgemeinen in eine Berufslehre münden, und Schulen mit ‹erweiterten Ansprüchen›, die zum akademischen Bildungsweg führen.
Mit dem Verweis auf die innere Differenzierung der sekundären Bildung gelangt ein zweiter Ansatz zur Erklärung der Bildungsexpansion ins Blickfeld. Man kann die ihm entsprechende Hypothese als Statuswettbewerb-Hypothese bezeichnen. Sie besagt, dass es die Konkurrenz zwischen den Individuen und Familien um die Erlangung privilegierter sozialer Positionen (beziehungsweise um die Vermeidung eines Verlusts solcher Positionen in der Generationenfolge) ist, welche die Bildungsexpansion antreibt.22 Zum Verständnis dieser Hypothese muss noch einmal auf die Ausführungen zu den Implikationen zurückgegriffen werden, die der Übergang zu einem dreistufigen Schulwesen nach den Vorstellungen von Gregor Girard hat. Wie dort gezeigt, ermöglicht es sozialen Aufstieg und Abstieg nach Massgabe schulischer Leistungen und erleichtert die Legitimation von Einfluss und Ansehen. Die meisten Menschen haben ein Interesse daran, einen sozialen Aufstieg zu erreichen oder doch einen Abstieg zu vermeiden. Wenn beides an das Erreichen bestimmter schulischer Zertifikate gebunden ist, haben sie auch ein Interesse daran, dass ihre Kinder über den elementaren Schulabschluss hinausgelangen, das heisst an mittlerer und höherer Bildung teilhaben können.23 Dieses gemeinsame Interesse erzeugt Druck auf den Staat, die weiterführende Bildung zumindest moderat auszubauen. Die verantwortlichen Behörden können diesen Druck nicht einfach ignorieren, wenn sie sich weiterhin der Unterstützung derjenigen gewiss sein wollen, die sie gewählt haben.
Ein dritter Ansatz zur Erklärung der Bildungsexpansion, die Institutionalisierungshypothese, soll im nachfolgenden Abschnitt im Zusammenhang mit der Institutionalisierung der Bildung im globalen Massstab diskutiert werden, das heisst im Zusammenhang mit einer Bildungsinstitution, die weltweit einen Grad an Selbstverständlichkeit erlangt hat, der einen Widerstand der verantwortlichen Behörden gegen einen weiteren Ausbau wenn nicht verunmöglicht, so doch erheblich erschwert.
2.4 Das Bildungswesen als globale Institution
Bis zur Zäsur des Zweiten Weltkriegs konnte man die Entwicklung der Bildung als ein Geschehen verstehen, das sich im Rahmen einzelner Nationalstaaten ereignete und auch durch die in den einzelnen Staaten gegebenen gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zu erklären war. In der Nachkriegszeit jedoch erhielt sie zunehmend eine globale Dimension. Dies lässt sich gut veranschaulichen, wenn man den Blickwinkel erweitert und sich die Entwicklung im Weltmassstab näher ansieht.
Da wäre zunächst einmal die Expansion der tertiären Bildung ins Auge zu fassen. Wie die Abbildung 2 auf Seite 34 zeigt, erfuhr diese weltweit ein exponentielles Wachstum. In wenig mehr als einem guten halben Jahrhundert nahm die Zahl der Studierenden auf dieser Stufe von etwa 4 auf rund 100 Millionen zu.
Abbildung 2: Entwicklung der Studierendenzahlen weltweit zwischen 1815 und 2000
Quelle: Schofer und Meyer 2005
Dass dies nicht einfach eine Folge der Bevölkerungsexplosion gewesen ist, belegt Abbildung 3. Sie zeigt, dass sich der Anteil der in tertiären Bildungseinrichtungen Eingeschriebenen an der Gesamtheit der jeweiligen Bevölkerung im selben Zeitraum von weniger als 0.5 Prozent auf 2–3.5 Prozent erhöht hat. Und das nicht einfach nur im hoch entwickelten Westen sondern, mit Ausnahme von Schwarzafrika, in allen Weltregionen.
Abbildung 3: Anteil Studierender an Gesamtbevölkerung (1900–2000), aufgeschlüsselt nach Weltregionen
Quelle: Schofer und Meyer 2005
Auch was den Stellenwert der Bildung in den Strukturen des Nationalstaats anbelangt, zeigt sich ein vergleichbares Bild (vgl. Abbildung 4 auf Seite 36). Verfügte 1945 etwa die Hälfte der damals als Nationalstaaten anerkannten Länder über ein eigenes Bildungsministerium und etwa ein Viertel über ein Bildungsgesetz, so gibt es im Jahr 2000 in über 90 Prozent der Staaten ein eigens für Bildung zuständiges Ministerium und in mehr als 80 Prozent eine Bildungsgesetzgebung. Die Förderung der Bildung als eine wichtige Staatsaufgabe hat sich somit weltweit praktisch flächendeckend durchgesetzt. Solche Quantensprünge lassen sich schwerlich aus den Bedingungen in den einzelnen Ländern heraus erklären. Vieles deutet darauf hin, dass da etwas geschehen ist, das nur verstanden werden kann, wenn man den Blick auf die Weltgesellschaft als Ganzes richtet.
Abbildung 4: Anteil Länder mit Bildungsministerium beziehungsweise Bildungsgesetzgebung (1800–2000)
Quelle: Kim 2006
Die Staatengemeinschaft hat am Ende des Zweiten Weltkrieges damit begonnen, diesen Blickwinkel systematisch einzunehmen. Dies erstmals mit grosser Deutlichkeit am 10. Dezember 1948 im Rahmen der Resolution 217 A (III),