Regina Scherrer

Schule und Bildung aus soziologischer Perspektive (E-Book)


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Qualifikation und Anstellung der Lehrpersonen und anderes mehr. Für lange Zeit war es namentlich die Kirche, welche diese Aufsicht im Namen christlicher Werte ausübte. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts ging diese Rolle allerdings zunehmend an den Nationalstaat über.

      Zweitens entwickelten sich bestimmte, über Zeit hinweg zunehmend standardisierte Formen der Arbeitsorganisation innerhalb der Schulen, die ihrerseits die Grenze zwischen der sich festigenden Institution und der übrigen Gesellschaft sicht- und erfahrbar machten.

      «Wenn Pause aus ist, ist wieder richtig Schule.»11

      Diese lapidare Aussage einer Primarschülerin12 bringt es eigentlich auf den Punkt, verweist sie doch klar und deutlich auf die eben erwähnte Grenze. Denn was heisst «richtig Schule» im Erfahrungshorizont einer Primarschülerin?

      •Es verweist zunächst auf eine räumliche Abgrenzung. Nach dem Pausensignal heisst es, sich wieder in einem besonderen Gebäude in einen ganz bestimmten Raum zu begeben, der für eine nächste Stunde den räumlichen Rahmen «richtig[er]» Schule abgibt. Und damit ist auch schon die zweite Komponente angesprochen: eine zeitliche Ordnung, die sich von derjenigen des kindlichen Alltags recht drastisch abhebt.

      •Diese zeitliche Komponente ist zunächst in den sich täglich mehrfach wiederholenden, wenig kontinuierlichen Übergängen zwischen «Pause» und «richtig Schule» erfahrbar, im Weiteren auch in einer administrativen Rhythmisierung durch 45- oder 50-minütige Lektionen und entsprechende fünf-, zehn- oder fünfzehnminütige Pausen. Schliesslich kann oder konnte sie sich doch auch im Verlauf einer einzelnen Lektion fortsetzen, wenngleich wohl eher selten in so drastischer Weise, wie es im folgenden Zitat zum Ausdruck kommt:

      «Zu Beginn des 19. Jahrhunderts schlägt man für die Schule mit wechselseitigem Unterricht folgenden Stundenplan vor: 8.45 Eintritt des Monitors, 8.52 Ruf des Monitors, 8.56 Eintritt der Schüler und Gebet, 9 Uhr Einrücken in die Bänke, 9.04 erste Schiefertafel, 9.08 Ende des Diktats, 9.12 zweite Schiefertafel usw.» (zit. n. Foucault [1977, S. 193])

      •Jenseits der durch das Pausenzeichen markierten Grenze, das heisst im Schulhaus und im Klassenzimmer, gibt es auch eine hierarchisch-disziplinarische Ordnung. An deren Spitze kann beispielsweise eine Schulleitung stehen, der die Lehrpersonen und das pädagogische und das übrige Hilfspersonal untergeordnet sind. Die Hierarchie kann von Fall zu Fall unterschiedlich ausgestaltet sein. Gewiss ist, dass sich die Schülerinnen und Schüler auf der untersten Sprosse befinden, wenngleich das Autoritätsverhältnis zwischen Lehrperson und Schülerschaft auch in diesem Fall nicht so drastisch in Erscheinung treten muss, wie es das Journal pour l’instruction élémentaire im Jahre 1816 postulierte:

      «Geht in eure Bänke! Beim Wort Geht legen die Schüler vernehmlich ihre rechte Hand auf die Bank und setzen ein Bein in die Bank; bei in eure Bänke ziehen sie das andere Bein nach und setzen sich vor ihre Schiefertafel […] Nehmt die Tafeln! Beim Wort Nehmt legen die Kinder die rechte Hand an die Schnur, mit der die Tafel am Nagel aufgehängt ist, und mit der linken fassen sie die Tafel; bei die Tafeln nehmen sie sie ab und legen sie auf den Tisch.» (Journal pour l’instruction élémentaire [1816]; zit. n. Foucault 1977, S. 215 f., [Hervorh. i. Original])

      Am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert kommt es in Europa zum bereits erwähnten fundamentalen gesellschaftlichen Umbruch, dem auch die Bildungsinstitution unterworfen ist. Gemeint ist der Zerfall der ständischen Ordnung des Ancien Régime. Dieser schritt in den europäischen Ländern mit verschiedener Geschwindigkeit voran. Wo er stattfand und eine zunehmend nicht mehr ständisch gebundene Gesellschaft entstehen konnte, hatte er Folgen sowohl für die gesellschaftliche Positionierung der Individuen als auch für die zuvor territorialstaatlichen Gebilde13:

      •Die soziale Stellung des Einzelnen sollte nicht mehr von Geburt an vorbestimmt sein. Vielmehr hatten die Menschen nun in zunehmendem Masse die Möglichkeit, sich mit Tüchtigkeit und Glück eine gesellschaftliche Position selber zu erarbeiten.

      •Der Zusammenhalt der grossen gesellschaftlichen Kollektive bedurfte einer neuen Grundlage. Waren die alten Verhältnisse – gestützt durch die Autorität weltlicher Obrigkeit und der Kirche – weithin als gottgewollt hingenommen worden, bedurfte es zur Sicherstellung von Zusammenhalt und Gemeinsamkeit nun einer neuen Klammer, eines neuen ‹Bindemittels›.

      Man kann sich vorstellen, dass der erwähnte Umbruch sowohl für den einzelnen Menschen als auch für kleinere Gemeinschaften und grössere Kollektive schwierig zu bewältigen war. Die alten Werte und Normen waren infrage gestellt und zum Teil beseitigt worden, das Neue war erst in Ansätzen erkennbar. Die Soziologie bezeichnet eine Situation dieser Art als kollektive Anomie und meint damit das Fehlen verlässlicher Normen, allgemeine Unsicherheit und Orientierungslosigkeit. Hilfreich unter solchen Voraussetzungen waren zwei neue ideologische Konstrukte: die Nation und, damit zusammenhängend, das Volk. Überall in Europa entstanden ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nationalistische Bewegungen, die den Rahmen der Gesellschaft nicht mehr allein über ein Territorium definieren wollten, das von einer politischen Obrigkeit als Hoheitsgebiet verwaltet wurde, sondern diesem Territorium den Nimbus einer ursprünglichen Gemeinschaft verliehen, die als auf ‹ethnischer› Zugehörigkeit beruhendes Volk imaginiert wurde – als eine «vorgestellte Gemeinschaft von Gleichen» (Anderson 1988).

      Die Idee des Volkes stützte (und stützt sich zum Teil noch heute) in der Regel auf ein Gemenge von Komponenten, die überwiegend als ideologische Konstruktionen zu sehen sind. Obschon sie von Nation zu Nation mit unterschiedlichen Akzentsetzungen14 auftreten, lassen sich insgesamt doch die folgenden hervorheben:

      •eine gemeinsame Sprache, die eine ‹natürliche› Zusammengehörigkeit derjenigen suggeriert, die diese Sprache sprechen;

      •eine Reihe von – wie angenommen wird, allen gemeinsamen – Glaubensüberzeugungen;

      •ein Gründungsmythos, der gleichsam den Punkt markieren soll, ‹an dem alles angefangen hat›;

      •daran anschliessend eine gemeinsame, heroisierte Geschichte;

      •die Vorstellung von einem Territorium, das ein Volk berechtigterweise beanspruchen kann;

      •die Idee einer Art Blutsverwandtschaft all derer, die sich dem Volk zurechnen können.

      Historische und sozialwissenschaftliche Erklärungen der Dynamik solcher nationalistischer Strömungen verweisen unter anderem auf die Bedeutung, die das Schulwesen für die Verbreitung entsprechender Ideen haben kann, und stellen beispielsweise Fächer wie Heimatkunde oder staatbürgerlichen Unterricht in diesen Zusammenhang.

      «Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde deshalb in weiten Teilen Europas vermehrt über Nationalerziehung gesprochen. Diese Diskussionen wurden dadurch begünstigt, dass sich die Tendenz abzuzeichnen begann, anstehende gesellschaftliche und/oder politische Probleme durch Erziehung zu lösen.» (Horlacher 2011, S. 44)

      Auch in den republikanischen Gebieten der damaligen Schweiz waren solche Gedanken alles andere als fremd, wie Tröhler (2011, S. 47) in seiner Darstellung der Gründung der Zürcher Kunstschule 1773 schreibt:

      «Der Initiator der Zürcher Kunstschule von 1773 etwa, der Bürgermeister Hans Conrad Heidegger (1710–1778), hatte 1765 die Ansicht vertreten, dass die Schule als ‹eine Nationalanstalt› zu verstehen sei, ‹in welcher von der ersten Kindheit an und für alle Stände der Mensch sich zum nützlichen Mitglied des Staates› mit dem Zweck zu entwickeln habe, ‹an der Beförderung der Wohlfahrt des Vaterlandes arbeiten zu helfen›.» (Heidegger, zit. in: Nabholz 1938, S. 86)

      Die zu dieser Zeit entstehende Auffassung von Erziehung als Beitrag zur nationalen Wohlfahrt und Entwicklung impliziert auch eine Veränderung der gesellschaftlichen Stellung des einzelnen Menschen gegenüber dem Staat, also mithin seines staatsbürgerlichen Status. Der englische Soziologe Thomas H. Marshall hat diese Entwicklung vom 18. bis ins 20. Jahrhundert nachgezeichnet. Das 18. Jahrhundert ist für ihn die Zeit, in der sich vor allem das «bürgerliche Element», das heisst die bürgerlichen Individualrechte