Menschen in reichen, hoch entwickelten Gesellschaften nicht anders als in armen Entwicklungsländern. Bildung als Einrichtung, die sowohl individuellen als auch kollektiven Nutzen bringt, geniesst in allen Teilen der Welt grosses Vertrauen.
Und nicht nur das: Diese gemeinsame Überzeugung leitet auch das Handeln der Menschen rund um die Erde an, nicht zuletzt das Handeln derer – Regierungen und Ministerialbeamten, Internationaler Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen, Weltbank und Währungsfonds –, die über den Auf- und Ausbau der Bildung entscheiden. Für sie hat das Bündel von Überzeugungen auch einen Aufforderungscharakter. Man erwartet von ihnen, dass sie das so positiv konnotierte Gut ‹Bildung› in ausreichendem Mass und von guter Qualität bereitstellen. Und in der Tat halten sie sich zumindest rhetorisch weltweit an dieses Handlungsskript.
Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen soll noch einmal auf die im vorangehenden Abschnitt erörterte Frage nach den Erklärungen für die Bildungsexpansion Bezug genommen werden: Dort wurde die funktionalistische und die Statuswettbewerb-Hypothese erörtert und in Aussicht gestellt, eine weitere, die Institutionalisierungshypothese, in Betracht ziehen zu wollen.
Gemäss dieser dritten Institutionalisierungshypothese lässt sich die Bildungsexpansion darauf zurückführen, dass der Wert von Bildung für die individuelle Entwicklung wie auch für den gesellschaftlichen Fortschritt ganz einfach zu einer immer breiter anerkannten Selbstverständlichkeit geworden ist. Wie sich gezeigt hat, gilt dies längst nicht mehr nur für die elementare, sondern auch für weiterführende Bildung. Die Menschen sind überzeugt, ein generelles Anrecht auf (weiterführende) Bildung zu haben, und die in den Regierungen und Ministerien Verantwortlichen gehen recht übereinstimmend davon aus, dass der Ausbau der Bildung dem gesellschaftlichen Ganzen dient. Eigentlich Grund genug für die Schweizer Bildungsverantwortlichen, für 95 Prozent der kommenden Schüler- und Schülerinnengenerationen zumindest einen sekundären Schulabschluss anzustreben und das tertiäre Bildungswesen auszubauen.
3Institution als soziologischer Begriff
Die in diesem Kapitel verfolgte Absicht war und ist es, die Vorstellung von Bildung als einer sozialen Institution zu erläutern. Insofern es sich beim Institutionsbegriff zwar um eines der zentralen Konzepte der Gesellschaftswissenschaften handelt, dieses jedoch vielschichtig und kaum präzise definiert ist, wurde in den vorangehenden Abschnitten der Versuch unternommen, das Konzept der sozialen Institution im Allgemeinen und der Institution Bildung im Besonderen gleichsam aus verschiedenen Perspektiven einzukreisen. Im vorliegenden Schlussabschnitt soll es nun noch darum noch gehen, die dabei zu Tage geförderten Facetten zu bündeln, um so zu einer etwas abstrakteren Begriffsbestimmung zu gelangen.
Die theoretisch angelegten einleitenden Abschnitte sollten verdeutlichen, dass sich Institutionen nicht nur aus zwei entgegengesetzten Blickwinkeln – einmal im Mikrokosmos einzelner handelnder Menschen, sodann aber auch in einer Makroperspektive mit Blick auf ganze Gesellschaften – betrachten lassen, sondern dass sie auch nicht auf eine bestimmte Grössenordnung festgelegt sind. Während Berger und Luckmann das Konzept aus dyadischen und triadischen Interaktionsbeziehungen herleiten, die sich über die Generationen hinweg verfestigen können, stellt Durkheim den Zusammenhang zu ganzen Gesellschaften her. Er thematisiert Bildung als bereits bestehenden, wenngleich sich weiter entwickelnden gesellschaftlichen Teilbereich.
Übereinstimmend ist jedoch der implizite (Berger und Luckmann) oder explizite (Durkheim) Hinweis darauf, dass sich Institutionen letztlich nur dann angemessen erfassen lassen, wenn man sie auch im zeitlichen Verlauf untersucht. Dabei setzen Berger und Luckmann beim ersten Beginn der Entstehung von Institutionen in konkreten Handlungszusammenhängen an. Damit gelangen sie zu einem Begriff von Institutionalisierung als sozialem Prozess. Durkheim seinerseits setzt gleichsam bei einem (immer vorläufigen) Endzustand an, fordert jedoch eine historische Rekonstruktion.
Ebenso gemeinsam, wenn auch von Durkheim weniger herausgestellt, ist der Hinweis, dass es sich bei Institutionen nicht um tote Strukturen handelt, sondern dass sie notwendigerweise als Sinnstrukturen zu betrachten sind, ihre Grundlage somit stets in der kulturellen, symbolischen Sphäre zu suchen ist. Handeln in sozialen Kontexten setzt voraus, dass die Handelnden ihren Aktionen wechselseitig einen gemeinsamen Sinn zurechnen.
Ronald L. Jepperson hat in einem Aufsatz die Elemente zusammengetragen, die sich bei der Verwendung des Institutionsbegriffs in soziologischen Studien immer wieder finden lassen (Jepperson 1991). Er schlägt vor, Institutionen als «patterns», als «Muster von aufeinander bezogenen Handlungssequenzen», also von Interaktionen zu verstehen. Damit nimmt er einen Gedanken auf, den wir bei Berger und Luckmann in etwas anderer Formulierung angetroffen haben. Ein solches Muster hat den Charakter eines «Drehbuches» oder eines «Skripts», also einer Art Spielvorlage, die den beteiligten Mitspielern bestimmte Rollen in dem gemeinsamen Spiel zuweist. Das gesellschaftliche Leben ist durchdrungen von solchen Skripts und wir sind es gewohnt, uns laufend nach «Drehbuch» zu verhalten: Ob wir zu Weihnachten Geschenke kaufen, in der Strassenbahn aufstehen, um einer behinderten Person Platz zu machen, oder ob wir im Unterricht die Hand erheben, wenn wir uns zu Wort melden möchten – stets verhalten wir uns gemäss den Erwartungen, die mit solchen Skripts verbunden sind.
Die «Muster von aufeinander bezogenen Handlungssequenzen» lassen sich durch eine Reihe von Merkmalen näher charakterisieren.
Soziale Konstruiertheit: Solche Muster entstehen ursprünglich im alltäglichen sozialen Austausch dadurch, dass Individuen ihren aufeinander bezogenen Handlungen einen gemeinsamen Sinn zuschreiben.
Verdinglichung: Einmal konstruierte Muster haben die Tendenz, sich als Folge ihrer Wiederholung zu verfestigen, zunächst zu Routinen und schliesslich zu Konventionen zu werden, die den Menschen gleichsam als unumstössliche gesellschaftliche Tatsachen entgegentreten. Aus «so machen wir das» wird, wie bereits erwähnt, «so macht man das». Je mehr dies der Fall ist, desto eher werden sie auch von Menschen übernommen, die damit ursprünglich gar nichts zu tun hatten. Man denke an die Junglehrerin, die neu zum Kollegium stösst. Sie wird recht bald begreifen, welcher ‹Tarif› im Schulhaus und Lehrerzimmer gilt. Und sie wird die betreffenden, ungeschriebenen Regeln und Gesetze – vielleicht nach anfänglichem Widerstand – recht bald in ihrem eigenen Handeln berücksichtigen.
Stabilität: Die erwähnte Verfestigung verleiht institutionalisierten Handlungssequenzen mit der Zeit ein erhebliches Mass an Stabilität und aus der Sicht der handelnden Menschen auch Erwartbarkeit. Wer mit dem Skript vertraut ist, kann mit hoher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, dass sich die «Mitspieler» ihrerseits in einer ganz bestimmten Art und Weise verhalten.
Regelhaftigkeit: Metaphern wie ‹Drehbuch› oder ‹Skript› lassen einen zunächst an Spielvorlagen denken, denen man folgen kann. In dem Masse, wie sie sich verfestigen und verdinglichen, nehmen sie jedoch zunehmend einen normativen Charakter an. Sie transformieren sich in Regeln, die man befolgen muss. Sie mutieren zu Verpflichtungen. Die ‹Mitspieler› sind gehalten, diese zu respektieren. Sie tun dies in der Regel auch, und je länger sie sich regelkonform verhalten, desto weniger fragen sie noch nach deren Sinn.
Selbstverständlichkeit: Institutionalisierte Interaktionsmuster werden für die Beteiligten also zunehmend zu Selbstverständlichkeiten, über die man nicht nachzudenken braucht und derer man sich oft gar nicht mehr bewusst ist. Man braucht beispielsweise nicht mehr darüber nachzudenken, ob man seine Kinder ab dem sechsten beziehungsweise siebten Lebensjahr zur Schule schicken soll. Man tut es einfach.
Universalität: Im alltagssprachlichen Gebrauch verbindet man den Begriff der Institution gerne mit relativ grossen und komplexen gesellschaftlichen Einrichtungen. Man denkt an Dinge wie die AHV, die Armee, die Landeskirche oder das Gesundheitswesen. Wie gezeigt, lässt er sich jedoch auch im Zusammenhang kleiner Gruppen, etwa einer Familie oder Wohngemeinschaft, verwenden. Und wie im vorhergehenden Abschnitt dargestellt, lassen sich auch auf Weltebene, in der Interaktion von Nationalstaaten, Prozesse beobachten, die als Institutionalisierungen aufzufassen sind.
Bis in Bezug auf Schule und Bildung von Institutionen gesprochen wurde, bedurfte es allerdings einer Entwicklung, die sich über Jahrhunderte hinzog. Sie wurde im zweiten Hauptabschnitt in groben Zügen zu skizziert. Dabei sollte