Hansruedi Kaiser

Situationsdidaktik konkret (E-Book)


Скачать книгу

Alltag von Bedeutung sind. Leider kommt es aber immer wieder vor, dass laut Lehrplan Inhalte behandelt werden müssen, deren einzige «Anwendungssituation» eine Zwischen- oder Abschlussprüfung ist. Das ist zwar bedauerlich, aber grundsätzlich ist Handeln vorbereiten auch auf diesen Fall anwendbar. «Eine bestimmte Art von Aufgaben an einer Prüfung lösen» ist genauso eine Handlungssituation wie «ein Brot backen» oder «einen Computer als Server einrichten». Und man kann den Lernenden auf gleiche Art helfen, den Anforderungen auch dieser Situation gerecht zu werden. Wichtig ist dabei allerdings dreierlei: erstens, dass man tatsächlich die Prüfungssituation ins Zentrum stellt, zweitens, dass man bei Schritt 3 fragt: «Wie würdet ihr diese Prüfungsaufgabe angehen?» und drittens, dass man bei Schritt 5 modelliert, wie man selbst in einer Prüfung (nicht im Betrieb!) eine solche Aufgabe bewältigt. Dabei werden auch Fragen wie «Wie kann ich den Text der Prüfungsaufgabe zielgerichtet lesen?» eine Rolle spielen.

      Manchmal kommt es vor, dass dieselbe Situation beziehungsweise Aufgabe sowohl im Betrieb wie auch in einer Prüfung vorkommt, dass sich aber die Art, wie man im Betrieb mit der Situation umgeht, stark von dem unterscheidet, was an der Prüfung verlangt wird. Dann ist es zweckmässig, dies hintereinander als zwei getrennte Situationen zu behandeln – zuerst die Situation im Betrieb, sodass die Lernenden den Sinn und Zweck des Behandelten erleben können, und dann darauf aufbauend die Situation an der Prüfung (Beispiel: B1 Beton bestellen).

       Zu Schritt 2: Erfahrungen schildern lassen

      Hintergrund: C1 Subjektive Erfahrungsbereiche

      Vielfalt zulassen: Da man als Lehrperson bereits geplant hat, welches Vorgehen man instruieren will (beispielsweise eine Berechnung), besteht die Gefahr, dass man die Erzählungen in eine bestimmte Richtung zu beeinflussen versucht. Damit die Situation aber wirklich im Schulzimmer präsent wird, ist es wichtig, dass möglichst viele Aspekte zur Sprache kommen, auch wenn sie im Moment irrelevant erscheinen mögen. Einiges davon wird zudem später den Lernenden helfen zu verstehen, warum ein bestimmtes Vorgehen sinnvoller ist als andere, alternative Möglichkeiten. Die Lernenden sollten daher möglichst frei von ihren Erfahrungen erzählen können. Unter anderem erhält man so als Lehrperson auch wertvolle Informationen über die reale Praxis in den Betrieben.

      Auf die Situation fokussieren: Allerdings ist es wichtig, dass alle von derselben Situation sprechen – auch wenn sie diese aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten. Dies ist nicht automatisch gegeben. Daher ist es manchmal notwendig, nach den ersten paar Erzählungen zu kommentieren, inwiefern die gewünschte Situation getroffen wurde. So entsteht allmählich bei allen ein klares Bild, wovon die Rede sein soll.

      Erzählungen ordnen: Man kann die Erzählungen der Lernenden einfach nebeneinander stehen lassen. Man kann aber auch an der Tafel versuchen, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu dokumentieren, sodass bereits eine gewisse Struktur der Situation erkennbar wird.

      Beobachtungsaufträge: Lässt man die Lernenden ohne grosse Vorbereitungen erzählen, ist man auf das beschränkt, woran sie sich erinnern können und was ihnen aus ihrer Perspektive als Anfänger aufgefallen ist (Beispiel: B8 Wareneingang). Dies braucht für den Einstieg kein Nachteil zu sein, gibt es doch einen interessanten Einblick in ihren aktuellen Ausbildungsstand. Mehr Material steht aber typischerweise zur Verfügung, wenn ein Beobachtungsauftrag vorangegangen ist.

      Mit einem Beobachtungsauftrag zerfällt der Schritt 2 in zwei Teile. Im ersten wird die Situation kurz eingeführt und werden eventuell schon ein paar Erfahrungen eingeholt. Danach erhalten die Lernenden den Beobachtungsauftrag, und ein paar Wochen später wird der Faden wieder aufgenommen.

      Materialien aus den Betrieben: Der Beobachtungsauftrag kann die Aufgabe beinhalten, Materialien aus dem Betrieb mitzubringen (z.B. Brotrezepte). Da unterdessen praktisch alle Lernenden über ein Smartphone verfügen, kann das auch heissen, dass sie im Betrieb Fotos von erlebten Situationen machen und diese beispielsweise auf eine gemeinsame Plattform hochladen (Cattaneo & Felder 2018).

       Zu Schritt 3: Mittelschwere Aufgabe stellen und die Lernenden in Gruppen erarbeiten lassen, wie sie diese mit ihrem bereits vorhandenen Wissen angehen würden

      Hintergrund: C1 Subjektive Erfahrungsbereiche; C4 Lernziel richtige Antwort; C5 Erfahrung und Instruktion; C8 Gewisse Ungewissheit

      Schritt 2 als Voraussetzung: Entscheidend ist hier, dass der vorangegangene Schritt erfolgreich abgeschlossen wurde, das heisst, dass alle Lernenden eine konkrete, möglichst in ihren Erfahrungen verankerte Vorstellung der fraglichen Situation haben.

      Keine Anleitung: Entscheidend ist, dass die Lehrperson jeder Versuchung einer einführenden Anleitung oder der kurzen Repetition wichtiger Konzepte widersteht und die Lernenden einfach einmal machen lässt (Hintergrund: C2 Erfahrungen und Ressourcen). Unter anderem erhält man nur so einen unverfälschten Blick auf das Vorwissen, das ihnen aktuell zur Verfügung steht.

      Mittelschwere Aufgabe: Die Aufgabe sollte nicht so schwer sein, dass die Lernenden keine Chance haben, auch nur annähernd zu einer Lösung zu gelangen. Es sollte aber eine echte Aufgabe sein, die die Komplexität der Situation einfängt und die Lernenden herausfordert. Idealerweise erleben die Lernenden in diesem Schritt, dass sie zwar durchaus schon einiges wissen und können, dass es aber gewisse Aspekte gibt, zu denen sie noch etwas dazulernen müssen und können.

      Typischerweise entspricht eine durchschnittliche Aufgabe, so wie sie im beruflichen Alltag immer wieder auftritt, diesen Anforderungen. Auch wenn die Lernenden dann die Aufgabe in ihren Gruppen nicht wirklich lösen können, sollte ihnen klar sein, dass man eine solche Lösung früher oder später von ihnen erwarten wird und dass es sich daher lohnt, sich intensiv damit auseinanderzusetzen.

      Keine künstliche Erschwerung: Stellt man eine realistische Aufgabe und zeigt sich dabei, dass das Vorwissen der Lernenden ausreicht, die Aufgabe zu bearbeiten, ist dies kein Grund, die Aufgabe künstlich zu erschweren. Vielmehr ist das ein positives Zeichen dafür, dass die Lernenden bereist beherrschen, was man am Ende der Ausbildung von ihnen erwartet.

       Zu Schritt 4: Die Lösungen der Lernenden gemeinsam kritisch besprechen

       Hintergrund: C1 Subjektive Erfahrungsbereiche; C5 Erfahrung und Instruktion

      Präsentation der Lösungsversuche: Am besten lassen sich die Lösungen der Gruppen vergleichend besprechen, wenn jede Gruppe ihre Lösung auf einem Flipchart darstellt. Diese können zum Vergleich nebeneinander aufgehängt werden.

      Positive Aspekte würdigen: Wichtig ist, dass die Diskussion nicht nur Schwächen hervorhebt, sondern dass auch Stärken festgehalten werden. Vielleicht produziert eine Variante zwar keine exakte Lösung, doch eine gute Näherung, die im aktuellen Fall sogar für praktische Zwecke genügen würde. Ebenso ist es möglich, dass eine Variante nur im aktuellen Fall funktioniert, aber in anderen Fällen versagt, etc.

      Gegenbeispiele einsetzen: Funktioniert die Lösung einer Gruppe ausschliesslich im aktuellen Fall, kann man darauf mithilfe geeigneter Gegenbeispiele hinweisen (Hintergrund: C7 Schnelles Denken, langsames Denken). Dadurch bereitet man den Boden vor für eine allgemeinere, breiter einsetzbare Variante in Schritt 5.

      Offene Fragen sammeln: Wichtig ist, all diese Stärken und Schwächen, all die Ideen und Schwierigkeiten der einzelnen Gruppen festzuhalten und zu würdigen. Im Idealfall steht am Ende des Schritts eine Liste von Anforderungen an ein professionelles Vorgehen und daneben Fragen, die die Lösungsversuche der Gruppen offengelassen haben (Hintergrund: C4 Lernziel richtige Antwort).

      Wenn es keine Fragen gibt: Hin und wieder haben die Lernenden mit der Aufgabe keine Schwierigkeiten und beherrschen bereits, was man ihnen beibringen wollte. Dann kann man die Bearbeitung dieser Situation abbrechen