Hansruedi Kaiser

Situationsdidaktik konkret (E-Book)


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alle Beteiligten ist es hilfreich, die Liste der Fragen gut sichtbar aufzuhängen und im weiteren Verlauf gelegentlich zu dokumentieren, welche davon man bereits wie angegangen hat. Man kann diese Liste auch laufend um weitere Fragen ergänzen, die vielleicht bei der Bearbeitung der folgenden Schritte auftauchen.

       Zu Schritt 4: Raster wählen und darstellen

      Geeignete Raster: Nützlich sind Raster mit einer klar normativen Aussage, das heisst, aus denen man ableiten kann, ob das Vorgehen in der geschilderten Situation professionellen Standards genügt. Und selbstverständlich sollte das gewählte Raster eine Bearbeitung der gewählten Frage ermöglichen.

      Das Vier-Ohren-Modell nach Schulz von Thun (1981) beispielsweise beleuchtet Situationen eher aus einer sozial-kommunikativen Perspektive, ist also für entsprechende Fragen geeignet. Es enthält verschiedene normative Aspekte, wie etwa die Aussage, dass es für eine gelingende Kommunikation wichtig ist, auf Widersprüche zwischen den vier «Ohren» zu achten.

      Quelle: Sofern das Raster früher schon einmal behandelt wurde, sollten nach Möglichkeit die Lernenden es kurz zur Auffrischung darstellen. Kommt ein neues, unbekanntes Raster zum Einsatz, wird es an dieser Stelle durch die Lehrperson eingeführt.

      Darstellung des Rasters: Notwendig ist an dieser Stelle nur ein Überblick über die zentralen Aspekte (z.B. kurz und anschaulich, welche vier Aspekte der Kommunikation mit den vier Ohren gemeint sind), die einen Bezug zur gewählten Frage haben (Hintergrund: C2 Erfahrungen und Ressourcen; C3 Situierte Abstraktion; C5 Erfahrung und Instruktion). Details können bei Bedarf beim folgenden Schritt nachgereicht werden.

       Zu Schritt 5: Beschreibung

       Hintergrund: C5 Erfahrung und Instruktion; C7 Schnelles Denken, langsames Denken

      Funktion: Bei der Beschreibung geht es darum, die einzelnen Elemente der Geschichte mit der Begrifflichkeit des Rasters zu benennen. Je nach Raster ist dies schnell getan oder erfordert eine sorgfältige, feine Aufgliederung. Durch diese Beschreibung wird einerseits die Analyse im folgenden Schritt vorbereitet, andererseits üben die Lernenden, über eine Situation aus dem beruflichen Alltag mithilfe der Fachsprache zu kommunizieren und sie aus einer fachlichen Perspektive zu strukturieren.

      Nutzt man beispielsweise das Vier-Ohren-Modell als Raster zur Beschreibung einer Geschichte zum Thema «Reklamationen entgegennehmen», geht es darum, die einzelnen Etappen des Gesprächs mit dem Kunden den vier Kategorien «Sach-Ohr», «Beziehungs-Ohr», «Selbstoffenbarungs-Ohr» und «Appell-Ohr» zuzuordnen.

      Präzisierungen zum Raster: Typischerweise wird im Verlaufe des Versuchs, die Geschichte mithilfe der Begrifflichkeit des Rasters zu ordnen, schnell klar, wo die erste einführende Darstellung des Rasters genügte und wo spezielle Aspekte detaillierter behandelt werden müssen. Damit der Arbeitsfluss erhalten bleibt, sollten immer nur gerade so viele Details behandelt werden, wie für die Analyse der Geschichte notwendig sind. Eine systematischere umfassende Darstellung des Rasters kann nachträglich schriftlich abgegeben oder es kann auf entsprechende Quellen verwiesen werden (Hintergrund: C2 Erfahrungen und Ressourcen; C3 Situierte Abstraktion).

       Zu Schritt 6: Analyse

      Hintergrund: C5 Erfahrung und Instruktion; C7 Schnelles Denken, langsames Denken

      Funktion: Ziel dieses Schritts ist es, das Geschehen in der Geschichte aus dem Blickwinkel des Rasters zu bewerten. Zu diesem Zweck werden für einen Moment alle Zweifel an der Nützlichkeit und Begründbarkeit des Rasters und seiner normativen Aussagen zur Seite geschoben, und die Analyse erfolgt, als ob das Raster eine unumstössliche Wahrheit formulieren würde. Setzt man beispielsweise das Vier-Ohren-Modell ein, unterdrückt man für die Analyse jeden Zweifel daran, ob es sinnvoll ist, die vier «Ohren» zu unterscheiden und auf Widersprüche zwischen ihnen zu achten.

      Resultate: Beim Vergleich zwischen normativer Aussage des Rasters und realem Geschehen in der Geschichte kann man zu vier verschiedenen Aussagen kommen:

      Positives Beispiel im Sinne des Rasters: In der Geschichte wurde genauso gehandelt, wie es das Raster vorsieht (z.B.: Ein Widerspruch zwischen zwei verschiedenen «Ohren» wurde erkannt, und es wurde darauf reagiert).

      Negatives Beispiel aus der Sicht des Rasters: Aus der Sicht des Rasters wurden in der geschilderten Situation Fehler begangen (z.B.: Ein Widerspruch zwischen zwei verschiedenen «Ohren» wurde nicht bemerkt).

      Erweiterung/Variante zum Raster: Das Vorgehen in der Geschichte weist Aspekte auf, die so zwar im Raster nicht explizit erwähnt sind, die aber eine Präzisierung oder einen guten Zusatz im Sinne des Rasters darstellen (z.B.: In der Geschichte wurde auf eine besonders gelungene Art auf einen Widerspruch zwischen verschiedenen «Ohren» reagiert).

      Begründbare Abweichung vom Raster: Das Vorgehen in der Geschichte weicht zwar von dem ab, was laut Raster optimal wäre. Die speziellen Umstände in der geschilderten Situation machen diese Abweichung aber notwendig und sinnvoll. (z.B.: Aus einem guten Grund, der sich aus der konkreten Situation heraus ergibt, wurde ausnahmsweise nicht auf einen Widerspruch zwischen verschiedenen «Ohren» reagiert).

      Raster nicht anwendbar: Das Raster ist auf die geschilderte Situation nicht anwendbar, und entsprechend ist keine Aussage möglich (z.B.: Die Problematik der Geschichte liegt weniger im sozial-kommunikativen Bereich, sondern eher im fachlichen, wozu das Vier-Ohren-Modell keine Aussagen macht).

      Auch das letzte Resultat ist eine wertvolle Einsicht, denn zum Beherrschen eines Konzeptes gehört auch das Wissen über seinen (begrenzten) Anwendungsbereich.

      Kritische Distanz: Je nach Raster kann es sinnvoll sein, nach erfolgter Analyse wieder eine gewisse kritische Distanz zum Raster einzunehmen. Dies kann bedeuten, dass man gemeinsam aus der Analyse heraus beurteilt, als wie nützlich es sich erwiesen hat, wie wertvoll die gewonnen Einsichten sind. Dann ist aber auch ein als nützlich wahrgenommenes Raster nur wirklich nützlich, wenn es verlässlich ist, das heisst, wenn die normativen Komponenten mehr oder weniger unbestritten sind. Ist beispielsweise die Forderung, auf Widersprüche zwischen verschiedenen «Ohren» zu reagieren, eine allgemein akzeptierte Norm oder nur die Idee eines einzelnen Autors? Hier ist die Lehrperson gefragt, um den notwendigen Hintergrund zu liefern.

       Zu Schritt 7: Varianten

      Funktion: Durch die Schritte 3 bis 6 wird die erzählte Geschichte aus einem klar definierten, durch das Raster gegebenen und damit eingeschränkten Blickwinkel beleuchtet. Typischerweise gibt es aber noch verschiedene andere Aspekte der Geschichte, die die Lernenden beschäftigen. Schritt 7 bietet die Gelegenheit, in offener Form darauf einzugehen. Aufgrund der vorangegangenen Diskussionen ist es für die Lehrperson meist möglich abzuschätzen, was die Lernenden beschäftigt, und sie kann somit geeignete Aktivitäten vorschlagen.

      Weitere Bearbeitung der Geschichte: Man kann sich der erzählten Geschichte nochmals unter einem neuen Gesichtspunkt zuwenden. Mögliche Themen sind:

      • Vorschläge, wie man in der Geschichte hätte anders vorgehen können,

      • Vergleich mit den Erfahrungen der anderen Lernenden,

      • alternative Raster, mit denen man die Geschichte auch noch analysieren kann,

      • kritische Anmerkungen zum verwendeten Raster,

      • Erweiterungsvorschläge zum Raster,

      • Präzisierungen zum genutzten Raster.

      Im Gegensatz zum vorangegangenen Analyseschritt, in dem es strukturiert darum geht, Erfahrung und Raster beziehungsweise Theorie zueinander in Verbindung zu bringen, kann die Diskussion hier in lockerer Form geführt werden.

      Hat man eine Geschichte zu «Reklamationen entgegennehmen» mithilfe des Vier-Ohren-Modells analysiert, könnte man nun beispielsweise