Hansruedi Kaiser

Situationsdidaktik konkret (E-Book)


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Ein Spickzettel kann eine kurzfristige und eine langfristige Rolle erfüllen. In der kurzfristigen Funktion hilft er den Lernenden, sich im Betrieb daran zu erinnern, wie sie überhaupt vorgehen sollen (z.B. «Zuerst …, dann … Nicht vergessen …!»). Wird das entsprechende Vorgehen mit der Zeit zur Routine, verliert diese Komponente des Spickzettels ihre Bedeutung. Kann sich aber keine Routine ausbilden, weil die entsprechende Situation zu selten auftritt, ist es sinnvoll, dass auch dieser Teil des Spickzettels irgendwo überlebt und später wieder zur Verfügung steht.

      Langfristiger Gebrauch: Langfristiger brauchbar können für das Vorgehen zentrale Grössen und Daten sein, die man einfach kennen muss, um den Arbeitsablauf durch Nachschlagen beziehungsweise Nachrechnen nicht zu behindern (Beispiel: B2 Randumfang einstellen). Die Lernenden können daraus ein persönliches Nachschlagewerk aufbauen, das sie unter Umständen längere Zeit während ihrer beruflichen Karriere begleitet.

      Individuelle Form: Wichtig ist allerdings, dass die Lernenden nicht einfach Material kopieren, sondern eine Darstellungsform finden, die für sie individuell hilfreich ist, die ihnen genau die Unterstützung bietet, die sie brauchen (Hintergrund: C3 Situierte Abstraktion).

      Unterstützung: Brauchbare Spickzettel zu schreiben, muss gelernt werden. Anfänglich ist nicht zu erwarten, dass alle Lernenden gleich das für sie brauchbare Format finden. Es braucht daher etwas Beratung und dann auch gemeinsame Diskussionen, bis ein gutes Format gefunden ist. Sinnvoll ist es, bei Schritt 8 (Erfahrungsberichte aus dem Betrieb) auch die Brauchbarkeit der jeweiligen Spickzettel zu evaluieren und allenfalls daraus Konsequenzen für ein nächstes Mal zu ziehen.

       Zu Schritt 8: Die Anwendung im Betrieb diskutieren

      Hintergrund: C6 Varianten des Übens; C7 Schnelles Denken, langsames Denken; C8 Gewisse Ungewissheit

      Zeitaufwand: Die Bedeutung dieses Schritts darf man nicht unterschätzen. Wird er ernst genommen, kann er schnell mehr Zeit beanspruchen als alle anderen Schritte zusammen! Gelerntes, das man im Prinzip verstanden hat, unter Alltagsbedingungen situationsangemessen zu nutzen, ist keineswegs trivial (Hintergrund: C2 Erfahrungen und Ressourcen).

      Vorbereiten: Man kann diesen Übergang in die betriebliche Anwendung vorbereiten, indem man in der Klasse vorausschauend diskutiert, was geschehen wird beziehungsweise geschehen könnte, wenn die Lernenden morgen oder nächste Woche eine entsprechende Situation in ihrem Betrieb anpacken. Am besten geschieht das im Zusammenhang mit der Erstellung der Spickzettel. Dabei kann sich zeigen, dass die Lernenden noch Informationen oder Hilfe zu Punkten brauchen, die bisher gar nicht besprochen wurden.

      Nachbereiten: Allerdings lässt sich kaum vorhersehen, welche Schwierigkeiten die einzelnen Lernenden im Betrieb dann tatsächlich haben werden. Wichtiger als eine Vorbereitung auf den Einsatz des Vorgehens ist deshalb, dass die Lernenden zu einem späteren Zeitpunkt die im Betrieb gesammelten Anwendungserfahrungen in die Schule zurückbringen, um sie dann gemeinsam zu diskutieren. Dies ist typischerweise der Moment, wo die Lehrperson als erfahrene Berufsperson aus dem Vollen schöpfen kann und auch soll.

      Kritische Reflexion: Dies ist dann nochmals der Moment, die Möglichkeiten und Grenzen des behandelten Vorgehens kritisch zu diskutieren, seine Stärken und Schwächen festzuhalten. Oft ergibt sich das von selbst, wenn einzelne Lernende davon berichten, dass in ihrem Betrieb anders vorgegangen wird oder dass das an der Schule behandelte Vorgehen dort explizit abgelehnt wird.

      Erfahrungen reflektieren: Wenn man sich besonders intensiv mit einer Erfahrung, die die Lernenden aus dem Betreib zurückbringen, auseinandersetzen will, kann man das mithilfe von A2 Erfahrungen reflektieren machen.

      A1.4 Erwähnte Literatur

      Cattaneo, A. & Felder, J. (2018). Eine digitale Brücke zwischen den Lernorten. skilled, 1/18.

      A2 ERFAHRUNGEN REFLEKTIEREN

      Zweites Grundrezept: «Reflektierende Fallstudie»

      A2.1 Die Zielsetzung

      Die Lernenden machen im Betrieb täglich neue Erfahrungen in unterschiedlichsten Situationen wie «Brot backen», «ein Kundengespräch führen», «eine Klientin mobilisieren», «ein Gerüst aufstellen», «einen Computer als Server einrichten» etc. Diese Erfahrungen werden in Zukunft ihr Handeln leiten (Hintergrund: C1 Subjektive Erfahrungsbereiche). Daher ist es wichtig, sie zu reflektieren. Professionelles Handeln ist nur möglich, wenn sich die Lernenden bewusst sind, welche ihrer Erfahrungen positive Modelle abgeben, die man getrost kopieren kann (z.B. beim Gerüstbau einen Helm tragen), und welche eher negative Beispiele sind, die man meiden sollte (z.B. schnell, schnell und ungesichert am Gerüst noch eine Veränderung vornehmen).

      Für viele Situationen gibt es Regeln oder Leitlinien wie «Hygieneregeln», «Sicherheitsregeln auf dem Bau», «Grundsätze eines erfolgreichen Kundengesprächs» oder «ergonomisches Arbeiten». All diese Leitlinien eignen sich, um Erfahrungen kritisch zu reflektieren, haben aber meist nicht die Form eines Verfahrens, das man erlernen könnte. Aus den «Grundsätzen eines erfolgreichen Kundengesprächs» lässt sich beispielsweise nicht direkt ableiten, was man in einem bestimmten Moment genau sagen soll. Die «Grundsätze» eignen sich aber hervorragend, um nachher darüber nachzudenken, ob das, was man im Verlauf eines bestimmten Gespräches gesagt hat, sinnvoll war (positives Modell) oder eher nicht (negatives Modell) (Hintergrund: C7 Schnelles Denken, langsames Denken).

      Um den Lernenden zu helfen, ihre Erfahrungen in diesem Sinne zu reflektieren, entstand das Unterrichtsrezept Erfahrungen reflektieren.

      Leseanleitung: Möchten Sie sich einfach informieren, wie dieses Rezept aufgebaut ist, dann lesen Sie hier direkt weiter. Möchten Sie aber angeleitet werden, wie Sie sich dieses didaktische Rezept am besten zu eigen machen, dann gehen Sie zu A9 Leseanleitung zu Teil A.

      A2.2 Erfahrungen reflektieren kurz gefasst

      Das Rezept umfasst acht Schritte, die aufeinander aufbauen. Im Zentrum stehen:

      • Eine bestimmte Situation – wie «Brot backen» oder «einen Computer als Server einrichten» –, welche die Lernenden im beruflichen Alltag immer wieder antreffen und zu der sie entsprechend schon verschiedene Erfahrungen gesammelt haben.

      • Ein bewährtes Raster (Regel oder Leitlinie), mit dessen Hilfe man diese Erfahrungen als positive oder negative Modelle einstufen kann.

       Schritt 1: Vorgabe einer typischen beruflichen Handlungssituation

      Die Lehrperson bestimmt eine typische berufliche Handlungssituation, die im Fokus stehen soll (z.B. «Reklamationen von Kunden entgegennehmen»). Dies muss eine Situation sein, welche die Lernenden bereits erlebt haben.

       Schritt 2: Geschichte wählen und erzählen

      Vorschlagen: Die Lernenden machen Vorschläge zu Geschichten, die sie über Erlebnisse in der betreffenden Situation erzählen können (z.B. «eine anspruchsvolle Kundin», «ein wütender Kunde», «eine verwirrte Kundin»).

      Auswählen: Alle (Lernende und Lehrperson) stimmen darüber ab, welche der vorgeschlagenen Geschichten vertieft behandelt werden soll (z.B. «ein wütender Kunde»).

      Erzählen und Nachfragen: Die Lernende, die die gewählte Geschichte vorgeschlagen hat, stellt diese ausführlich dar (z.B. «Der Kunde war zuerst ganz höflich, aber dann …»). Die anderen fragen nach, wenn ihnen Dinge unklar sind oder wenn sie gern weitere Informationen hätten.

       Schritt 3: Frage wählen

      Fragen