durchlaufen, sondern auch auswerten und ihre Wirkung verstehen. Damit sie lernen, die eigenen Lernprozesse aktiv zu hinterfragen anstatt dem Unterricht nur passiv zu folgen, sollte früh, von den ersten Jahren der Volksschule an, damit begonnen werden, die Kinder als aktive »Sense-makers« zu verstehen. Die Praxisbeispiele in diesem Buch setzen deshalb bereits in den ersten Schuljahren an und enden mit dem Abitur- bzw. Maturaniveau.
3.2 Diagnose und individuelle Förderung anregen
Im kompetenzorientierten Unterricht nehmen Lehrkräfte verstärkt die Rolle von Lerncoaches ein und müssen damit auch ihre Fähigkeiten der Lernberatung kontinuierlich entwickeln, damit sie die Jugendlichen begleiten und unterstützen können. Sie haben die anspruchsvolle Aufgabe, individuelle Ressourcen der Schülerinnen und Schüler zu erkennen und steuernd in die Lernprozesse einzugreifen, um deren produktiven Verlauf zu sichern. Mit dieser Aufgabe rückt auch das Prinzip der Lerndiagnose stärker in den Fokus: Lehrkräfte müssen hinreichend über den Leistungsstand, die verfügbaren Vorkenntnisse und auch nichtkognitive Lernvoraussetzungen orientiert sein, um die Jugendlichen adäquat fördern zu können. Dazu gehört »das Zulassen individueller Lernwege, die Analyse des jeweils erreichten Lernstandes und die individuelle Planung des weiteren Lernens« (Klieme u. a. 2003, S. 11).
Einerseits ist damit die Intention verbunden, den individuellen Förderbedarf von Lernenden im unteren Leistungssegment zu erkennen. Gutes kompetenzorientiertes Lernen soll asymmetrische Bildungschancen kompensieren, etwa indem Lernschwierigkeiten von Kindern und Jugendlichen mit nachteiligem sozialem Umfeld identifiziert werden und ihnen besondere Unterstützung zugesprochen werden kann. Gleichzeitig geht damit der Anspruch einher, die individuellen Talente und Ressourcen aller Lernenden freizulegen, bei Schwächeren wie bei besonders Eifrigen und Begabten.
Diese Art von Diagnosekompetenz ist ein hoher Anspruch an die Lehrkräfte. Ein Mittel dazu, Kompetenzen von Lernenden sichtbar zu machen und ihnen Rückmeldungen dazu zu geben, ist beispielsweise die Portfoliokonferenz. Dabei beugt sich eine Gruppe von Lehrkräften gemeinsam über ein Portfolio und bestimmt in einem hermeneutischen Prozess Kompetenzen darin (vgl. den Beitrag von Felix Winter, S. 27 ff.). Mit Portfolios lassen sich also Datengrundlagen bereitstellen, die für gehaltvolle Diagnosen über die Kompetenzentwicklung der Lernenden unerlässlich sind. Lerndiagnosen können sich zum Beispiel auf die Vorwissensbestände der Schülerinnen und Schüler beziehen, werden also am Anfang einer Unterrichtseinheit durchgeführt und haben zum Zweck, Potenziale und Ideen der Lernenden zu identifizieren oder versteckte Defizite zu entdecken. Im weiteren Lernverlauf kommt der Diagnose eine lernbegleitende Funktion zu: Lehrkräfte versuchen zu verstehen, wie die Jugendlichen das bestehende Lernangebot nutzen, wo sie erfolgreich lernen, wo eigene Ressourcen nicht ausreichen und wo deshalb Unterstützung und ein erweitertes Lernangebot nötig werden (vgl. den Beitrag von Oswald Inglin, S. 65 ff.). In der Endphase von Lernprozessen geht es darum, zu erkennen, welches Kompetenzniveau die Schülerinnen und Schüler erreicht haben, und sie – im Sinn einer summativen Beurteilung – auf einem bestimmten Kompetenzniveau zu verorten (vgl. den Beitrag von Felix Winter, S. 27 ff.).
Mit individueller Diagnose geht auch die Förderung unterschiedlicher Lernender einher, die auf unterschiedlichen Wegen zum selben Kompetenzziel unterwegs sind. Dies entspricht einem Anspruch an moderne und demokratische Bildungssysteme, nämlich Unterschiede zwischen den Lernenden nicht als Ungleichheit zu interpretieren, sondern ihnen Wertschätzung entgegenzubringen (vgl. Prengel 1993). Schülerinnen und Schüler individuell zu fördern heißt, sie in ihrer gesamten Persönlichkeit ins Auge zu fassen, ihr außerschulisches Umfeld in die Förderung einzubeziehen und offen zu sein für ihre Interessen und Stärken. Darauf aufbauend können Lehrkräfte durch didaktische Maßnahmen den Kindern und Jugendlichen dabei helfen, ihr individuelles Potenzial zu verwirklichen. Der Unterricht mit Portfolios hat also zum Ziel, mit den Lernenden Leistungsziele und allgemeine Standards dadurch zu erreichen, dass die Lernprozesse selbst durch Anleitung, vorgezogene Kontrolle und Bewertung verbessert werden (vgl. Winter 2004).
Lehrkräften stehen dazu vielfältige Möglichkeiten zur Verfügung: Sie lektorieren Dokumente, die Schülerinnen und Schüler in Portfolios sammeln, und geben ihnen lernförderliche Rückmeldungen dazu. Oder sie markieren gelungene Passagen mit einem Häkchen oder Ausrufezeichen oder unterstreichen Fehler, um Schülerinnen und Schüler darauf aufmerksam zu machen, ohne die Fehler zu sanktionieren. Eine so geartete Lernbegleitung dient der Längsschnitt- und Entwicklungsdiagnose und bietet Lehrkräften die Möglichkeit, in ein fachbezogenes Gespräch mit Schülerinnen und Schülern über Lernwege, Lernbedingungen und erreichte Leistungen zu kommen, und damit in einen wirksamen Lerndialog.
3.3 Einen Rahmen für erweiterte Aufgabenstellungen bieten
Damit Kompetenzen »unterrichtstauglich« werden, müssen Lehrkräfte dieselben auf konkrete Anforderungssituationen beziehen. Eine wichtige Aufgabe von Lehrkräften ist es deshalb, im Unterricht Lernsituationen anzulegen, in denen die Schülerinnen und Schüler die geforderten (Teil-)Kompetenzen tatsächlich aufbauen können. Dazu ist »ein aktives Lernen an sinnvollen Aufgaben- und Problemstellungen nötig, womit der Unterricht auf ein handlungs- und problemorientiertes Lernen umzustellen ist [...]« (Dubs 2006, S. 168). Kompetenzorientierung im Unterricht steht und fällt daher mit den Aufgabenstellungen, denn »Kompetenzen werden nicht unterrichtet, sondern in Handlungen und in unterrichtlichen Anforderungssituationen an fachlichen Inhalten mit und durch Aufgaben erworben« (Leisen 2013). Dieser zentrale Teil der Portfolioarbeit wird in den Beiträgen von Martin Keller (S. 47 ff.) und Franz König (S. 59 ff.) vertieft behandelt. In den Praxisbeispielen in Teil II ist für unterschiedliche Schulstufen und Fächer dargestellt, wie Lehrkräfte diese Ansprüche an Lernaufgaben in verschiedenen Fächern und Schulstufen in Lernsettings umgesetzt haben (jeweils im Abschnitt »Aufgabenstellungen und Wahlmöglichkeiten«).
3.4 Erweiterte Formen der Leistungsbeurteilung ermöglichen
Mit der Kompetenzorientierung ist – im Rahmen des Bildungsmonitorings – auch die Absicht verbunden, erworbenes Wissen und Können in objektivierbarer Form beschreiben und vergleichen zu können, das heißt, die wünschbare Verbindung von Wissen, Können und Handlungsfähigkeit so herzustellen, dass sie messbar wird. Da bei dieser Form des Bildungsmonitorings immer ein ganzes Bildungssystem einbezogen und große Schülerzahlen erfasst werden müssen, geschieht diese Beurteilung gegenwärtig primär mit standardisierten Leistungstests. Diese sollen ausgewählte Informationen zur Evaluation der Bildungsbemühungen an den Schulen liefern, an transparenten Kompetenzmodellen orientiert sein und testtheoretischen Gütekriterien wie Objektivität oder Reliabilität genügen. Derartige Tests prüfen die Kompetenzen jedoch anhand kleiner, kurzfristig zu bearbeitender Aufgaben und orientieren sich stark an der Realisierung kognitiver Lernziele, sind also tendenziell wissensorientiert. Stärker handlungsorientierte oder problemlösende Wissensformen (also Kompetenz im Sinn von ›Handlungsbefähigung‹) lassen sich mit standardisierten Schulleistungstests weniger gut erfassen.
Gerade beim kompetenzorientierten Unterricht, bei dem junge Menschen über längere Zeiträume selbstständig an offenen Aufträgen arbeiten, sind die Lernerträge jedoch multidimensional und werden von einem Bündel von Maßnahmen und Lernumständen mitbestimmt, die sich gegenseitig ergänzen und kompensieren. Einführung von kompetenzorientierter Leistungsbewertung auf standardisierte Tests würde bedeuten, dass viele der didaktisch wertvollsten Ziele der Kompetenzorientierung ›von hinten‹«, von der Beurteilung her, wieder demontiert und entwertet würden (vgl. Girmes 2004). Warum denn sollten Jugendliche ihr Lernen reflektieren, warum sollten sie personale und soziale Fähigkeiten erwerben, wenn diese in den maßgeblichen Tests gar nicht erfasst und geschätzt werden?
In der aktuellen didaktischen Diskussion herrscht Konsens darüber, dass von der Art der Beurteilungskultur ein starker Effekt auf die Lernkultur ausgeht (vgl. Winter 2004). Wenn die Lernförderung gegenüber der Selektionsabsicht nicht genügend Gewicht erfährt, entsteht zwischen Lern- und Beurteilungskultur eine problematische Lücke, die nachhaltiges Lernen behindern kann. Die ›Macht‹ der Testung kann Lehrkräfte dazu verführen, verstärkt Testaufgaben einzuüben und so zu versuchen, geforderte