Das Selbstbild eines Menschen ist immer auch ein Fremdbild. Wir Menschen brauchen die Rückmeldungen anderer, um zu wissen, wer wir sind. Wir brauchen ehrliche Rückmeldungen, wohlwollende, auch kritische, aber keine niedermachenden oder verachtenden. Die bloße Gegenüberstellung von Selbstbild und Fremdbild ist unfruchtbar. Das Selbstbild erwächst aus dem Gemisch von Selbstwahrnehmungen und Rückmeldungen anderer Menschen. Es geht eher darum, zwischen den Fremdbildern zu differenzieren, Menschen darin zu unterstützen, aus den Rückmeldungen, die sie erhalten, diejenigen auszuwählen, die sie akzeptieren und integrieren können, und den Mut und die Kraft zu gewinnen, andere abzulehnen. Deswegen ist der gegenseitige Austausch über das klingende Namensbild so wesentlich. Und dann kann es sehr bewegend und hilfreich sein, noch einmal das Namensbild erklingen zu lassen, um diesen Prozess der Differenzierung musikalisch zu unterstützen und all das zu spielen oder zu singen und zu hören, was sich davon im Selbstbild verankern kann.
Es besteht auch die Möglichkeit, den eigenen Namen unmittelbar zu vertonen. Dies hat sich aber für den Erlebensprozess als nicht so fruchtbar herausgestellt wie der beschriebene Weg. Bei einer unmittelbaren Vertonung sind häufig die Hemmungen größer und viele Menschen neigen dazu, nach formalen künstlerischen Tricks zu suchen, so, wie Bach sein B-A-C-H vertont hat. Doch wer kann das schon wie Bach! Häufig führen solche Bestrebungen zu Kopfknoten, die den Erlebensprozess bremsen oder gar nicht erst in Gang kommen lassen. Das Malen schafft Zeit und Raum für die vielfältigen Erinnerungen, Geschichten, Assoziationen, die mit dem eigenen Namen verbunden sind, und lässt das in den Vordergrund treten, was im Moment besonders wichtig ist. Und die Namensbild-Partitur bleibt erhalten; der musikalische Moment ist nicht ganz so flüchtig. Sie kann später wieder vertont werden, vielleicht ähnlich, vielleicht aber auch, z. B. durch Perspektivwechsel, indem man sie auf den Kopf stellt, neu – und damit der Entwicklung, der Veränderung, dem Überraschenden einen klingenden Spielraum gebend.
1.2 Die sechs Kostbarkeiten
Beginnen wir mit einem Beispiel:
Eine Klientin leidet an Entscheidungsschwäche. Immer wenn sie Entscheidungen treffen muss, große oder kleine, gerät sie ins Schwanken, wird unsicher, weiß nicht, was sie tun, in welche Richtung sie sich bewegen soll. In der Therapie hat sie dieses und jenes versucht, sie kennt auch die Quellen und Gründe ihrer Entscheidungsunsicherheit – aber es ändert sich wenig.
An der Entscheidungsfindung zu arbeiten, was für viele KlientInnen ein wichtiger Ansatz ist, hilft ihr nicht weiter, da ihre Entscheidungsunsicherheit in einer tiefgreifenden Verunsicherung ihres Selbstbildes begründet ist. Wenn andere Menschen ihr Positives zurückmelden, nimmt sie das einen Moment zur Kenntnis und lässt es dann von sich abperlen – wie von einer Teflonplatte. Sie nimmt positive Rückmeldungen nicht in sich hinein.
Zu tief und zu selbstverständlich hat sie die von ihren Großeltern oft geäußerte Haltung übernommen, dass sie nichts wert sei, dass sie letzten Endes genauso „schlecht“ sei wie ihre früh verstorbene Mutter oder wie ihr Vater, der „Tunichtgut“.
Therapeut und Klientin suchen gemeinsam nach Wegen, auf denen sie lernen könnte, sich selbst wertzuschätzen.
In einer Stunde schlägt der Therapeut vor: „Ich möchte Sie heute bitten, mich zu einem Besuch in ein chinesisches Restaurant einzuladen. Dort werden wir auf die ‚sechs Kostbarkeiten’, die auf der Speisekarte angeboten werden, aufmerksam. Die sechs Kostbarkeiten vereinen das beste, was das Restaurant zu bieten hat. Ich bitte Sie, nun zu überlegen, welche sechs Kostbarkeiten Sie haben, was Sie an sich und in sich kostbar finden.“ Die Klientin schreckt zurück und meint, dass sie doch nie sechs Kostbarkeiten finden könne.
Der Therapeut: „Auch im chinesischen Restaurant wird jede Kostbarkeit nacheinander serviert. Beginnen Sie mit einer Kostbarkeit, beginnen Sie mit einer Eigenschaft, Tätigkeit, Kompetenz, was auch immer, mit einem Aspekt Ihrer Lebendigkeit, die Sie an sich schätzen, die Sie an sich für kostbar halten.“
Die Klientin überlegt: „Vielleicht, dass ich mit mir so ehrlich bin. Und auch anderen gegenüber. Ich will mir und anderen nichts vormachen … Ja: meine Ehrlichkeit.“
„Wunderbar, die erste Kostbarkeit haben Sie schon gefunden. In chinesischen Restaurants ist es nun so, dass weiter hinten in der Speisekarte, dort, wo die sechs Kostbarkeiten zu finden sind, zumeist auch ein Farbfoto der sechs Kostbarkeiten abgebildet ist, damit sie sichtbar sind und bemerkt werden. Für unsere menschlichen Kostbarkeiten gilt Ähnliches. Der erste Schritt besteht darin, sie überhaupt wahrzunehmen, sie zu registrieren und sie ernst zu nehmen. Der zweite Schritt darin, sie kund zu tun, öffentlich zu machen, sichtbar und hörbar werden zu lassen. Ich bitte Sie nun, ein Instrument auszusuchen und ihre Kostbarkeit, die Ehrlichkeit, auf irgendeine Art und Weise erklingen zu lassen.“ Die Klientin äußert zuerst wieder ihre Unsicherheit, blickt sich dabei aber schon suchend unter den Musikinstrumenten um. Sie probiert ein Xylofon, probiert eine Trommel, probiert eine Zither, dann das Balafon und wieder die Zither und schaut den Therapeuten fragend an: „Ich weiß nicht, wie ich die Ehrlichkeit darstellen soll?“
„Ich weiß es auch nicht. Es ist Ihre Ehrlichkeit, Ihre Kostbarkeit. Probieren Sie aus und nehmen Sie den Ton oder die Klänge, die kostbar klingen, die ehrlich klingen.“
Sie greift zum Balafon, probiert einige Töne aus und wählt zwei Töne, wiederholt sie mehrmals und sieht auf: „Diese Töne sind es!“
Und so geht es weiter: Eine Kostbarkeit nach der anderen entdeckt die Klientin, immer nach Phasen der Unsicherheit und des Zögerns. Und eine Kostbarkeit nach der anderen bringt sie zum Klingen, auf jeweils unterschiedlichen Instrumenten, mit jeweils unterschiedlichen Klang- und Tonfolgen. Am Ende ist sie aufgeregt und erstaunt, glücklich darüber, so viel gefunden zu haben, was sie an Kostbarem hat, was sie an sich schätzt. Sie strahlt und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Sie ist freudig erregt und gleichzeitig traurig darüber, dass ihre Selbstwertschätzung so lange mit Füßen getreten wurde.
Zum Abschluss schenkt der Therapeut der Klientin – um im Bild zu bleiben: als Nachtisch – eine siebte Kostbarkeit: Ihre zarte und langsam wachsende Achtsamkeit für ihre Gefühle, die in der Therapie allmählich erblühte. Diese Kostbarkeit ist noch so neu und klein, dass sie der Klientin selbst nicht einfiel, deswegen der „Nachtisch“. Und er spielt ihr diese siebte Kostbarkeit vor: eine leise Melodie auf der C-Flöte.
Das Erklingen der sechs Kostbarkeiten dient der Selbstwertschätzung. Diese Einheit ist immer dann angesagt, wenn es gilt, die Selbstwertschätzung zu stärken oder über ihr Gewahrwerden einen inneren Boden für den weiteren therapeutischen Prozess zu schaffen. Manchmal liegt ein Thema in der Luft und eine Klientin oder ein Klient traut sich nicht daran – dann kann die Arbeit mit den sechs Kostbarkeiten einen Boden schaffen, der Selbstsicherheit verstärkt und damit den Mut, neue Wege zu beschreiten und unbekanntes Terrain des Erlebens zu erkunden. Manchen KlientInnen schlagen wir vor, alle Kostbarkeiten nacheinander zu spielen. Sie hören dann ihre persönliche Klangwelt: So klinge ich, so bin ich.
Es kommt bei dieser Arbeit nicht so sehr darauf an, welche Kostbarkeiten die Menschen entdecken und zum Klingen bringen. Häufig fallen ihnen im Nachklang einige Stunden oder Tage später noch weitere Kostbarkeiten ein. Wichtig ist der Erfahrungsprozess, wichtig ist, dass sie selbst auf die Suche gehen und dass sie ihre Selbstwertschätzung nicht nur für sich behalten, sondern auch hörbar machen. Dabei tauchen Schwierigkeiten auf, die den Prozess beeinträchtigen, manchmal auch unterbrechen können. Da kann die Angst auftauchen und gefragt werden: „Wie klingt die Angst?“ Da kann die Scham die Kostbarkeiten verschleiern und die Sprache verstummen lassen, so dass es gilt, sich gegen die Beschämung abzusichern und einen Weg zu finden, durch die Scham hindurch den eigenen Kostbarkeiten zu begegnen. Da wird bei der Entdeckung neuer Wege auch die Trauer wach, die Trauer darüber, dass diese Wege so lange versperrt waren.
Ein Klient wiederholte bei jeder Kostbarkeit den gleichen Ablauf. Er äußerte eine seiner Eigenschaften positiv, stellte sie im zweiten Satz in Zweifel und wertete sie im dritten Satz ab, als „eigentlich nichts Besonderes“ oder „doch eher negativ“. Als der Therapeut ihm dies spiegelte, war ihm sofort klar: „Das