Udo Baer

Klingen, um in sich zu wohnen 1


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einen geschützten Raum zu schaffen, den sie zum Beispiel mit Decken, Kissen oder Seilen gestaltet. Anschließend kann der Therapeut oder die Therapeutin die Klientin oder den Klienten bitten, dort hinzugehen und noch einmal ihre eigene Stimme erklingen zu lassen. Sie wird sich verändern.

       Häufig werden in der Arbeit mit der eigenen Stimme Szenen lebendig. Wird z. B. eine Klientin gefragt, wo denn diese Stimme ertönen könnte, die sie gerade singt und hört, mag sie sagen „im Wohnzimmer“ oder „in der Disco“ oder „auf dem Wochenmarkt“ oder „im Konzert“ … Vielleicht auch: „hinter dem Vorhang in der Ecke“, wenn sie sich vor Menschen versteckt, die ihr Böses wollen. Häufig entstehen solche Szenen. Wenn sie bewusst werden, kann man sie aufgreifen und gegebenenfalls verändern. Manchmal schlagen wir als Therapeut oder Therapeutin auch Szenen vor: „Stell dir vor, du gehst mit deiner eigenen Stimme singend in einen Raum hinein, in dem du freudig erwartet wirst. Du kommst hinein und die Leute begrüßen dich, lächeln dir zu und beklatschen dich …“ Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.

       Die Szenen, die beim Singen der eigenen Stimme im Erleben der KlientInnen lebendig werden, stehen häufig im Bezug zu ihrer eigenen Geschichte. Bei Menschen, die im Ausland leben oder ihre eigenen Dialekte verloren haben, ist es häufig einen Versuch wert, die eigene Stimme in der Muttersprache, in der Sprache der Zeit, als ihre eigene Stimme zum ersten Mal als Säugling und Kleinkind erklang, singen zu lassen. Manchmal fühlen sich KlientInnen wie ein kleiner Junge oder wie ein junges Mädchen. Wenn sie ihre eigene Stimme singen, ist es hilfreich zu fragen: „Was hast du in dieser Zeit gern getan?“ oder „Was haben Sie damals beim Spielen gesungen?“, um dann im Sinne der Biografiearbeit diese Szene wieder auferstehen zu lassen. Der eigenen Stimme kann so eine Chance gegeben werden, wieder an das Alter der Jugend oder der Kindheit anzuknüpfen, nachdem sie verstummt ist oder zum Verstummen gebracht wurde.

       Auch eine örtliche Veränderung kann Teil eines Szenenwechsels sein. Wir schlagen z. B. vor: „Bitte lassen Sie Ihre eigene Stimme noch einmal ertönen, aber diesmal, indem Sie auf einem Stuhl stehen.“ Und schon ändern sich die Szene und das Erleben der Klientin oder des Klienten. Solche Vorschläge brauchen, wie die Stimmarbeit überhaupt, einen vertrauensvollen Boden.

       Auch körperliche Veränderungen können die eigene Stimme prägnanter, „eigener“ werden lassen. Wir schlagen z. B. vor, die Beine etwas weiter auseinander zu stellen oder die Schultern mehr zurückzunehmen. Wir fragen, ob wir beim nächsten Durchgang eine Hand auf den Nacken legen dürfen oder schlagen ähnliche Berührungen bzw. körperliche Veränderungen vor.

      Da die Arbeit an der eigenen Stimme so nachhaltig wirkt, möchten wir Ihnen noch drei Situationen aus einer Gruppenarbeit mit therapeutischen Interventionen, die mehrere der genannten Aspekte beinhalten, schildern:

      Eine zartgliedrige, schmale Frau mit geübter, kräftiger und klarer Stimme spürt diese Kraft und Klarheit im ganzen Körper – außer in ihren Armen, die sie wie leblos und als nicht zugehörig zu sich erlebt. Sie wirkt auf die Therapeutin deshalb auch ein wenig wie ein etwa 12- oder 13-jähriges Mädchen, das im Singen lebt, aber mit seiner Stimme nicht wirklich bei einem Gegenüber „landet“: ein wenig einsam, resigniert und ungeschützt dem fehlenden Echo ausgeliefert. Die Therapeutin schlägt deshalb vor: „Nimm irgendetwas in die Arme, was du dir vor deinen Oberkörper halten kannst. Und stell dir vor, du bist z. B. Montserrat Caballé.“

      Die Klientin greift zu einem großen Teddybären, den sie mit dem Gesicht nach vorne vor ihren Bauch hält. „Und nun schaffe dir bitte eine Bühne. Wo ist dein Publikum?“ Nachdem die Klientin sorgfältig ihre Umgebung gestaltet, die Bühne bestimmt und die Gruppe auf ihre Plätze gewiesen hat, singt sie mit dem Teddy vor dem Bauch mit solch beeindruckender Ausdruckskraft, dass die Gruppe standing ovations gibt und begeistert ein Da-capo verlangt. Endlich hat die Stimme der Klientin die Wertschätzung und Würdigung erfahren, die ihr gebührt.

      Eine andere Frau, die ebenfalls ihre Stimme sehr kräftig hört und damit eigentlich sehr zufrieden ist, stellt fest, dass ihr nach dem Tönen die Halsmuskeln vor lauter Anspannung weh tun. Der Therapeutin ist aufgefallen, dass die Klientin beim Singen den Blick leicht nach oben richtete und dabei offensichtlich den Hals überstreckte, während gleichzeitig ihr Rückenbereich und der Raum hinter ihr merkwürdig unbelebt erschien. Deshalb der Vorschlag, in den zum einen die Leibbewegungskategorien oben – unten (s. Kap. 3.2.4) und hinten – vorne (s. Kap. 3.2.1) einfließen sowie das Wissen darum, dass die Klientin kompetent darin ist, anderen Menschen afrikanisches Trommeln zu lehren: „Was hältst du davon, Menschen aus dieser Gruppe hinter dir zu sammeln und mit ihnen einen rituellen Tanz, begleitet und angefeuert von deiner Stimme, zu machen zum Thema: ‚Ich beschwöre die Geister des Himmels und die Geister der Erde’?“

      Dieser Versuch verhilft der Klientin zu einer Erfahrung und Erkenntnis darüber, was sie braucht, um entspannt und kräftig, eben eigen, zu erklingen.

      Eine dritte Gruppenteilnehmerin holt sich einen großen Stoff-Löwen aus dem Regal, bevor sie ihre eigene Stimme, die sie sonst nur ganz für sich allein erklingen lässt, den anderen GruppenteilnehmerInnen zu Gehör bringt: „Ich brauche den Löwen des Mutes.“ Sie schließt die Augen und tönt. Die Therapeutin: „Ich weiß, dass das Wichtigste bereits passiert ist, nämlich, dass du deine Stimme hast hörbar werden lassen, dass du deinen Weg gefunden hast, durch Scheu und Scham hindurch. Daran gibt’s meiner Meinung nach nichts zu verändern, oder? Wenn du dennoch jetzt hier noch etwas ausprobieren möchtest, dann suche dir doch eine Person, die du anschauen kannst, um mit ihr oder durch sie Mut zu schöpfen. Gibt es so einen Menschen hier, der dich mit seinem Blick unterstützen kann?“ Die Klientin weiß sofort, wen sie für diesen Versuch wählen mag und ist zufrieden und erleichtert, erleben zu können, dass sie Mut nicht immer nur aus sich allein heraus schöpfen muss – eine Erfahrung, die sie für ihr Alltagsleben generalisieren kann und will.

      Alle diese Interventionen sind Vorschläge und Angebote. Nie weiß die Therapeutin, der Therapeut den einen „richtigen“ Weg, die Stimme „eigenstimmiger“ erklingen zu lassen. Immer gilt es, an Hand der beschriebenen Anhaltspunkte ein Experiment vorzuschlagen, zu dem die Klientin, der Klient Nein sagen kann oder in dem er bzw. sie die eigene Stimme erproben kann.

      Auf welch unterschiedliche Weise Menschen das Erleben ihrer eigenen Persönlichkeit mit Elementen der Musik verknüpfen, erstaunt und überrascht uns immer wieder. Von solchen Verknüpfungsmöglichkeiten zu wissen, kann hilfreich sein, um KlientInnen gezielt danach zu fragen und ihnen Brücken zu bauen, sich selbst und ihr Erleben genauer zu beschreiben und zu verstehen, Einsichten zu gewinnen (vgl. Kap. 20.6).

      Viele KlientInnen beschreiben sich im Vergleich zu Klängen oder musikalischen Ausdrucksformen. Ein Mann erzählte, dass er fast ausschließlich leichte Musik höre: „Es muss möglichst leicht und heiter sein. Wenn ich Musik höre, die für mich schwer und spannend ist, dann halte ich das nicht aus. Davon bin ich selber zu voll. Ich mag eigentlich Wagner ganz gern, hören kann ich ihn aber nur in kleinen Dosierungen. Ich brauche eher etwas, was ein Gegenteil von mir ist.“ Eine Frau meinte: „Ich bin wie ein Musical: Immer ist was los!“ Häufig werden Eigenschaften und Qualitäten der eigenen Person mit musikalischen Qualitäten beschrieben. Dabei werden Begriffe verwendet, die uns später bei den Leibbewegungen (s. Kap. 3) und Erregungsverläufen (s. Kap. 5) wieder begegnen werden: Wie eben wird von „Spannung“ gesprochen oder von „Schwere“ und „Leichtigkeit“; jemand beschreibt sich als „Mensch der leisen Töne“; jemand anderes vergleicht sein Chaos und seine Unruhe mit einem „Free-Jazz-Konzert“. Wenn wir jemanden kennen lernen wollen, fragen wir manchmal: „Wenn Sie ein Musikstück wären, welches wären Sie?“ Die Antworten reichen von Pink Floyd bis zur Verdioper, vom Schlager bis zum verschollenen Pianostück, das niemand kennt.

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