„Das ist so sinnlos, mich hört ja doch keiner.“ Die Therapeutin ließ zuerst Zeit für die vielen Tränen, die diese Aussage begleiteten, und fragte dann: „Wer soll es hier und jetzt hören?“ Die Klientin benannte die Therapeutin und zwei Teilnehmerinnen aus der Gruppe. Die drei stellten sich vor die Klientin hin, versicherten ihr auf Nachfragen, dass sie Interesse an ihr hatten und gern zuhören wollten – und die Klientin konnte singen.
Eine weitere Klientin war irritiert darüber, dass ihr Klang der Kostbarkeit, als der Atem sich dem Ende zuneigte, immer brüchiger wurde. Sie probierte dieses und jenes aus und haderte mit sich. Als der Therapeut ihr vorschlug, ihren Klang doch etwas eher zu beenden, probierte sie dies und war erleichtert. „Ich neige auch sonst dazu, nicht nur bis zum Ende auszuhalten, sondern auch noch etliche Prozente darüber hinaus. Es ist schon seltsam, dass ich das hier im Atem und im Klang wieder finde.“
1.4 Die eigene Stimme als Zugang zum Ich
Schon im vorherigen Kapitel haben wir auf die Bedeutung der eigenen Stimme im Erleben der Menschen hingewiesen. Jede Stimmung beeinflusst meine Stimme. Mit meiner Stimme kann ich Stimmungen erzeugen. Die Stimme kann ein mehr oder weniger von meinem Erleben entfremdetes Organ der Artikulation von Worten und Sätzen sein. Sie kann aber auch Ausdruck meiner Persönlichkeit sein, mein inneres Erleben zum Ausdruck bringen und Brücken zwischen meinem inneren Erleben und anderen Menschen bilden. In der Beschäftigung mit der Stimme gilt das Interesse unserer therapeutischen Arbeit einem besonderen Phänomen, das wir „die eigene Stimme“ nennen. Oberflächlich betrachtet hat jeder Mensch eine eigene Stimme, welche denn sonst. Stimme ist aber immer auch Reaktion auf andere, ist lebensgeschichtlich „eingefärbt“ und kann vom eigenen Erleben entfremdet sein. Man kann „mit fremden Zungen“, mit anderer Menschen Stimmlage sprechen, anderen „nach dem Wort reden“, die eigene Stimme kann verstummen und nur noch oberflächlich daher plappern. Der Schlüssel zur eigenen Stimme ist das Wort eigene: Was gehört wirklich zu mir? Was ist mein eigenes Erleben? Was ist meine eigene Persönlichkeit? Was kommt eigensinnig aus mir heraus? Der Eigensinn ist der Sinn für das Eigene, für das Besondere, für das Persönliche und Unverwechselbare eines jeden Menschen, Gegenteil von Konformität, Dressur und Anpassung. Eigensinn muss sich nicht über andere Menschen erheben, im Gegenteil: Menschen, die einen Sinn für das Eigene haben und dieses zum Ausdruck bringen, können sich – so unsere Erfahrung – leichter und nachhaltiger begegnen und sich dabei gegenseitig Respekt erweisen. (s. a. Baer/Frick-Baer 2003a)
Wer eigensinnig ist, kann auch eigenstimmig werden, die eigene Stimme suchen und finden. Die Arbeit an der eigenen Stimme soll dazu verhelfen, das Besondere, das Eigene erklingen zu lassen, das bei vielen Menschen, bei vielen KlientInnen, verstummt ist, weil es zu wenig gehört bzw. unterdrückt oder mit Beschämung und Verachtung bestraft wurde.
Die Entwicklung der eigenen Stimme ist nie abgeschlossen. Sie befindet sich wie die Persönlichkeit des Menschen in Bewegung. Infolgedessen wird auch die eigene Stimme sich verändern und immer wieder anders erklingen.
Wir bitten KlientInnen, ihre eigene Stimme ertönen zu lassen. Häufig bereiten wir dies vor, z. B. durch Wege vom Atmen zur Stimme, die wir an anderer Stelle beschrieben haben (s. Kap. 12).
Dann bitten wir:
„Nehmt euch einige Minuten Zeit und probiert, eure eigene, ganz persönliche Stimme erklingen zu lassen. Ganz gleich, ob ihr eine Liedzeile singt oder Lalala – sucht den Klang, der jetzt eurer Persönlichkeit und eurem aktuellen Empfinden entspricht.“ Wenn KlientInnen die eigene Stimme ertönen lassen, fragen wir fast immer: „Wie hört sich deine eigene Stimme für dich an?“ Fast nie haben wir erlebt, dass die eigene Stimme selbstverständlich war, auch nicht bei geübten oder ausgebildeten SängerInnen. Immer war es aufregend, die eigene Stimme zu hören. Immer waren damit Wünsche verbunden, dass diese freier, lauter, leiser, kräftiger, verbundener oder sonst irgendwie anders werden solle. Immer, wenn KlientInnen aufmerksam ihrer eigenen Stimme lauschten, fanden sie darüber Zugänge zu wichtigen Aspekten des eigenen Erlebens. Da die Stimme klingender Atem ist und der Atem ein wunderbarer Zugang zum Wesentlichen des Erlebens eines Menschen, führt die Beschäftigung mit der eigenen Stimme immer auch zum Zentrum des aktuellen Erlebens.
Als zweiten Schritt bieten wir, wenn dies gewünscht wird, Hilfestellungen und Unterstützung an, die eigene Stimme mehr zur Entfaltung zu bringen. Für die KlientIn kann die Vorstellung verbunden sein, lauter oder leiser, kraftvoller oder zarter zu werden – wie auch immer, es gibt kein Richtig und Falsch, kein Gut und Schlecht, nur ein mehr oder weniger „Eigen“.
In diese Interventionen beziehen wir mehrere Komponenten ein, je nachdem, wie der Klient oder die Klientin das Erleben der eigenen Stimme beschreibt, welche Wünsche er oder sie äußert und welche Ideen sich aus unserer Wahrnehmung und Resonanz ergeben:
Eine wichtige Komponente ist Bewegung. Manche KlientInnen sind es gewohnt, beim Ertönen der eigenen Stimme starr und steif zu werden. Für andere ist es so aufregend, die eigene Stimme hörbar zu machen, dass sie sich und ihre Stimme in der Aufregung festhalten und damit einzwängen. Wir schlagen dann z. B. vor: „Singe bitte die eigene Stimme noch einmal, aber remple dabei jemand anderen mit der Hüfte an.“ Oder: „Singe bitte noch einmal und geh’ währenddessen durch den Raum.“
Manchmal wirken KlientInnen, wenn sie die eigene Stimme ertönen lassen, einsam oder strahlen aus, dass sie eine andere Umgebung oder einen sozialen Kontakt brauchen. Wir sprechen dies an und fragen danach. Wenn diese Vermutung bestätigt wird, schlagen wir vor, die soziale Komponente der eigenen Stimme zu ändern bzw. mehr zum Ausdruck zu bringen. Wir fordern zum Beispiel die Klientin oder den Klienten auf, den Therapeuten oder die Therapeutin oder ein Gruppenmitglied anzusingen. Manchmal gewinnt die Stimme dabei an Eigenheit, wenn sie von einem oder einer anderen stimmliche Resonanz erfährt und in einen stimmlichen Dialog geht. Einer Klientin schlugen wir vor, sich vier Personen aus einer Gruppe auszusuchen, die sich mit den Armen verschränkt hinter sie stellten und sich so als „Sofa“ anboten, in das sich die Klientin singend legen konnte. Andere wurden gebeten, die eigene Stimme zu singen und aus dem Singen heraus klangliche und/oder Bewegungs-Impulse zur Gruppe hin entstehen zu lassen. Manchmal reichte dann schon der bewusste Augenkontakt, ein Augenblinzeln oder Fingerschnippen, damit sich die Stimme entsprechend veränderte.
Häufig arbeiten wir mit den Leibbewegungen (s. Kap. 3 und Kap. 20). Ein Klient veränderte seine eigene Stimme, indem er beim Ausatmen und Ertönenlassen des Atems kräftig auf den Boden auftrat und damit der Leibbewegung nach unten folgte. Eine anderen Klientin schickte ihre Stimme himmelwärts. Wieder andere brauchten rechts und links Unterstützung oder bedurften der Rückendeckung, indem sie sich an die Therapeutin anlehnten. Eine Klientin empfand z. B. eine Enge im Hals, die Therapeutin bot sich als ihr Katzenkratzbaum an, an dem sich die Klientin singend rieb. Es entstand ein Rücken-an-Rücken-Tanz, der Hals- und Schulterbereich lockerte und der eigenen Stimme zu freierer Entfaltung verhalf. Zu den Leibbewegungen gehört auch das Gerichtetsein. Ein Klient stand dem Therapeuten gegenüber, schickte die Stimme in seine Richtung. Diese verhallte aber im Umkreis von einem Meter um den Klienten herum. Sie war für den Therapeuten hörbar, erreichte ihn aber nicht in seinem Erleben. Als der Therapeut ihm dies sagte, konnte der Klient versuchen, die Stimme gezielter in Richtung des Therapeuten zu senden. Die Stimme wurde von ihm immer weiter geschickt, bis sie den Therapeuten erreichte, was dieser zurück meldete. In diesem Prozess wurde die Stimme voller und deutlicher, der Klient war hör- und erlebbar. Viele Menschen, deren Töne für die Umgebung früher nicht interessant waren, haben es sich angewöhnt, wenn sie schon ihre eigene Stimme ertönen lassen, dies nur für sich zu tun, ohne andere erreichen zu wollen oder zu können.
Auch die Arbeit mit den primären Leibbewegungen Schauen, Tönen, Drücken, Lehnen und Greifen (s. Kap. 20.5) ist häufig sinnvoll. Die eigene Stimme kann sich verändern, kann z. B. voller oder herzhafter werden, wenn Menschen einen Gegenstand in die Hand nehmen oder nach einer anderen Person greifen. Das Sich-Anlehnen an andere haben wir schon erwähnt, auch den Blickkontakt, die Leibbewegung des Schauens.
Das Erleben der eigenen Stimme