erwarten und erwarten können wollen, ist kompetentes Handeln. «Träges Wissen» (Renkl 1996, 78–92), von der Schule vermitteltes Wissen, das sich nicht zur Lösung von (Alltags-)Problemen verwenden lässt (blosse Routinefertigkeiten), befriedigt nicht. Seine Nutzung bleibt auf den Kontext der Schule oder von Prüfungen beschränkt (Brown, Collins u. Duguid 1989). Befunde der kognitionspsychologischen Forschung der letzten dreissig Jahre zeigen, dass Wissen situativ gebunden ist; es ist stets eng gekoppelt an den Kontext bzw. an die Situation, in der es erworben wurde. Seit Mitte der 1980er-Jahre wird dies als «Situiertheit» bezeichnet (situated cognition; z.B. Greeno 1998). Soziale Handlungsmuster, die kulturelle Praxis, der reale Kontext, die konkrete Situation sind immer integraler Bestandteil von dem, was jemand lernt. Aus der Perspektive des Situiertheits-Ansatzes bedeutet Lernen, an kulturellen Praktiken teilzuhaben und sich in soziale Gemeinschaften zu integrieren – sich also zur Mitwirkung und Mitgestaltung zu befähigen. Wissen «netto», abstrakt repräsentiertes Wissen, «träges Wissen» befähigt dazu nicht. Kompetent handeln zu können, erfordert Wissen, das nicht nur tief verstanden wurde, sondern auch genutzt werden kann.
1.2 Orientierung an Kompetenzen
Wie aber steht es mit dem Wissen und dem Können von Lehrpersonen? Welche Kompetenzen müssen sie selbst erwerben, wenn der Unterricht zukünftig kompetenzorientiert gestaltet sein soll? Worauf kommt es an, wenn es das Ziel ist, dass die Schülerinnen und Schüler eine alltagsnahe Aufgabe oder ein neues Problem mithilfe mathematischen oder naturwissenschaftlichen Wissens lösen und einen Text so lesen können, dass sie seine Aussagen verstehen? Wie soll Unterricht gestaltet werden, wenn die Schülerinnen und Schüler innerhalb der Schulfächer mehr als («träges») Wissen (über einzelne Fakten) erwerben müssen und deshalb mehr können, als Fakten abzurufen und beispielweise zu wissen, wann der Zweite Weltkrieg stattfand oder wie viele Einwohner die Schweiz hat?
Was also bedeutet kompetenzorientiert unterrichten, wie es als Folge der Einführung von (auch dem Lehrplan 21 zugrunde liegenden) Bildungsstandards – die Reaktion der Bildungspolitik auf die PISA-Ergebnisse – der Fall sein soll? Was bedeutet Kompetenz, woher stammt dieser seit PISA[19] oft gehörte und heutzutage fast von jedermann verwendete Begriff, der gleichzeitig nicht unumstritten ist? Weiter lässt sich fragen: Welches Verständnis von Lernen und Lehren liegt dem kompetenzorientierten Unterricht zugrunde, und was genau ist am kompetenzorientierten Unterricht anders als am bisherigen? Was also sind seine Merkmale, und wie sollen die Schülerinnen und Schüler in ihm nach dem heutigen kognitiv-(sozial-)konstruktivistischen Verständnis von Lehren und Lernen und damit auch unter Berücksichtigung ihrer Heterogenität lernen können?
2 PISA und die Folgen
PISA führte vor gut einem Dutzend Jahren auch einer weiteren Öffentlichkeit deutlich vor Augen, dass das, was im Unterricht vermittelt wird, offensichtlich nicht dafür ausreicht, dass die Schülerinnen und Schüler am Ende der Schulzeit in der Lage sind, (in den von PISA untersuchten Schulfächern) anwendungsbezogene Aufgaben und Probleme zu lösen (Baumert et al. 2001). Die grosse Enttäuschung war – wo man doch davon ausging, die Bildungssysteme in Deutschland und der Schweiz seien gut –, dass zu viele der untersuchten 15-Jährigen unfähig waren, mathematisches und naturwissenschaftliches Wissen für das Lösen von konkreten Aufgaben und Problemen zu nützen. Zudem zeigte sich für das Lesen, dass ein nachdenklich machender Anteil von fast 23 Prozent der Jugendlichen – insbesondere solche aus bildungsfernen Familien und mit Migrationshintergrund – am Ende ihrer Schulzeit nicht verstehen, was sie lesen (ebd., 103). Offenkundig wurde, dass in der Schule in (zu) vielen Fällen (zu) oft «träges Wissen» erworben wird, zudem (zu) wenig gelernt wird, eigenständig neue Aufgaben und Probleme anzugehen und es auch mit der Lesekompetenz nicht zum Besten bestellt ist. Dies alles ist umso dramatischer, als für Verstehen und einsichtiges Handeln, für (zukünftiges) Problemlösen und weiterführendes Lernen (u. a. durch Lesen), für kompetentes Handeln und neue, kreative Lösungen sowie – last but not least – für Eigenständigkeit und Autonomie in einer demokratischen Gesellschaft Wissen, das über viele (Schul-)Jahre erworben wurde, auch genützt werden können sollte. Dies gilt für die Philosophieprofessorin, die zwei Texte miteinander vergleicht, wie für den Doktoranden und die Lehrerinnen und Lehrer, die nach aktuellem wissenschaftlichem Verständnis unterrichten können sollen, für den Mechatroniker und den Lehrling und die Lehrtochter, ja für alle, die in heutigen, sich rasch verändernden Berufs- und Lebenswelten leben.
Die Bewältigung einer intellektuellen oder praktischen (Problem-)Situation setzt – mit Jean Piaget (1896–1980) und Hans Aebli (1923–1990) sowie weitergehend mit der heutigen kognitiven Psychologie gesprochen – Assimilationsschemata sowie die Fähigkeit und die Bereitschaft voraus, diese auf die vorliegende (neue) Situation zu beziehen. Stellt sich heraus, dass für das Lösen einer Aufgabe oder das Bearbeiten eines Problems die verfügbaren Assimilationsschemata nicht ausreichen, erlaubt also das vorhandene Wissen und Können die Assimilation nicht, liegt ein Ungleichgewicht zwischen den Gegebenheiten der Aufgabe oder des Problems und dem Wissen bzw. Können der Person vor, die sich mit der Aufgabe oder dem Problem befasst. Es besteht ein kognitiver Konflikt, und es wird unumgänglich, die Assimilationsschemata den Gegebenheiten der Aufgabe oder des Problems anzupassen (Akkommodation). Die erfolgreiche Bewältigung von Aufgaben und Problemen setzt also voraus, dass Fach- und Handlungswissen verfüg- und anwendbar ist. Fehlt es am Wissen und Können, müssen bestehende Wissens- und Handlungsstrukturen erweitert oder differenziert werden. Ihre Akkommodation, das heisst ihre strukturelle Veränderung durch Lernen, wird zur Voraussetzung, um zu verstehen, weiter zu lernen, Lösungen und neue Ideen auszuarbeiten und Probleme zu bewältigen. Wichtig sind neben den fachlichen auch die überfachlichen Kompetenzen, personale, soziale und methodische Fähigkeiten über Fächer und Lerngegenstände hinweg. «Dazu gehören Fähigkeiten wie Anstrengungs- und Leistungsbereitschaft, Ausdauer, Selbstwirksamkeit und Frustrationstoleranz (Affektkontrolle) ebenso wie Zeit- und Ressourcenmanagement, zielorientierte Planung, Kooperations- und Teamfähigkeit, die Fähigkeit zum Umgang mit Fehlern, die Nutzung von Lern- und Problemlösestrategien, Metakognition und Metainteraktion» (Reusser 2014a, 330–331).
3 Was sind Kompetenzen, und warum Kompetenzorientierung?
Was aber ist unter einer Kompetenz zu verstehen? Woher kommt, wissenschaftlich gesehen, der Begriff «Kompetenz», den wir auch im Alltag kennen – etwa durch den Umstand, dass es heutzutage fast keine Institution gibt, die nicht ein Kompetenzzentrum ist? Wie lässt sich der Aufbau von Kompetenzen unterrichtlich fördern? Was bedeutet des Weiteren Kompetenzorientierung im Unterricht, in der Ausbildung und im Studium, etwa jenem für Lehrerinnen und Lehrer, wenn es generell darum geht, kompetent zu werden?
Mit der Frage, was uns den Eindruck von Kompetenz gibt und was Kompetenz ist, haben sich u. a. Ziegler, Stern und Neubauer (2012) befasst. Ob wir uns ein Geigentalent, ein Mathematikgenie oder eine Schachkoryphäe vorstellen, spielt keine Rolle, es ist die Souveränität des Könnens, die den Eindruck von «kompetent» entstehen lässt. Kompetenz zeichnet sich aus durch einen hohen Grad an Perfektion. Den Begriff «Kompetenz» fassen Ziegler, Stern und Neubauer allgemein, sodass er auf alle Menschen und alle Altersgruppen bezogen werden kann:
«Kompetenz gibt es auf verschiedenen Stufen, je höher diese ausgebildet sind, desto souveräner kann man sich in einem Gebiet bewegen, und desto effektiver kann man Aufgaben und Probleme lösen. Sie zeigt sich ‹in der Flexibilität, mit der sich jemand in einer Materie bewegt›. Kompetenz ist immer inhaltsbezogen; niemand kann per se kompetent sein.
Die Verbindung zu einem Inhaltsgebiet steckt bereits in der Herkunft des Wortes: Kompetenz leitet sich von competere (lat.) her, was zusammentreffen oder entsprechen bedeutet. Kompetenz aus Sicht der Kognitionspsychologie betont genau dieses Zusammentreffen von individuellen Voraussetzungen mit den Anforderungen der Umwelt. Kompetent ist man nicht allein durch ein vorhandenes Potenzial, sondern wenn man in einer Situation handelt und eine Anforderung bewältigt, d. h. wenn die Fähigkeit und das Wissen in einem Inhaltsgebiet auch angewandt werden.» (Ziegler, Stern und Neubauer 2012, 14)
Überragende Kompetenzen werden mit Begriffen wie Expertise oder Genie bezeichnet. Nach Deci und Ryan (1985, 1993; Ryan u. Deci 2000) ist der Wunsch, sich als kompetent zu erleben,