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Kompetenzorientierter Unterricht auf der Sekundarstufe I


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wenn Roth Erziehungsziele als «Leerformeln» bezeichnete, haben diese seines Erachtens trotzdem das Potenzial, ja sogar die Pflicht, Ziele für empirische Entwicklungsprozesse vorzugeben (ebd., 179). Konkret ging es ihm darum, die neue psychologische Überzeugung, Entwicklung als Lern- und nicht als Reifeprozess[14] zu verstehen, auf ihre Bedeutung für die Pädagogik hin zu untersuchen. Dabei spielte Mündigkeit als «Zieldimension von Erziehungs- und Bildungsprozessen, die er auf Seiten des Subjekts als entwickelte Handlungskompetenz versteht» eine zentrale Rolle (Grunert 2012, 47). Eine so verstandene Mündigkeit betreffe die «seelische Verfassung einer Person, bei der die Fremdbestimmung soweit wie möglich durch Selbstbestimmung abgelöst ist». Sämtliche erzieherischen Massnahmen haben sich demzufolge an der Förderung der Selbstbestimmung zu orientieren, wobei diese als «Kompetenz» im dreifachen Sinn definiert wird: als «Selbstkompetenz», «Sachkompetenz» und «Sozialkompetenz» (Roth 1971, 180). Der von Roth gebrauchte Kompetenzbegriff ist damit kein Begriff, der Handlungen oder Umsetzungen bezeichnet, sondern er befasst sich mit den Bedingungen mündigen, moralischen und selbstbestimmten Handelns.[15]

      Seit den 1970er-Jahren wurde der Kompetenzbegriff vermehrt in der Berufs- und Erwachsenenpädagogik sowie in der Weiterbildung verwendet, wobei teilweise auch der Begriff «Schlüsselqualifikationen» gebraucht wurde. Auf der theoretischen Seite wurde mit dem Konzept der Schlüsselqualifikationen versucht, die traditionelle Trennung zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung aufzuheben bzw. die beiden Bereiche enger miteinander zu verknüpfen. Damit sollte aber auch die fachliche Qualifikation gewährleistet werden, ohne dass diese eng an bestimmte Handlungsabläufe oder Kenntnisse geknüpft werden musste, die in einer sich schnell wandelnden beruflichen Umgebung nur kurze Zeit Gültigkeit beanspruchen konnten (Tippelt 2002, 50–51). Die zunehmende Globalisierung der Wirtschaft seit den 1980er-Jahren und die damit verbundenen Umstrukturierungen der Arbeitswelt und der beruflichen Tätigkeiten machten das Konzept der Schlüsselqualifikationen auch für die bildungspolitische Diskussion interessant. In diesem Kontext wurde auch das Schlagwort vom «lebenslangen Lernen» geprägt.[16] Gerade in der Berufsbildung war damit die Überzeugung verbunden, dass nicht länger «Qualifikationen», verstanden als Wissen und Fähigkeiten, die im Idealfall für ein ganzes Berufsleben ausreichten, zur Lösung einer bestimmten Aufgabe zu erwerben waren, sondern «Kompetenzen», welche die Basis für eine ständige Weiterentwicklung bilden sollten und die flexibel auf neue Aufgabenstellungen angewendet werden konnten (Kobelt 2008, 15–16).

      Ende der 1990er-Jahre wurde der Kompetenzbegriff im Kontext der vergleichenden Schulleistungsstudien wie PISA in die empirische Bildungsforschung eingeführt, wobei sich die Begriffsbestimmung von Franz Emanuel Weinert und dessen Ausdifferenzierung durch Eckhard Klieme als die gültige Kompetenzdefinition etablieren konnte. In einer im Auftrag des Deutschen Bundesministeriums für Bildung und Forschung verfassten Expertise zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards wird explizit darauf hingewiesen, dass der dabei verwendete Kompetenzbegriff abzugrenzen sei «von den aus der Berufspädagogik stammenden und in der Öffentlichkeit viel gebrauchten Konzepten der Sach-, Methoden, Sozial- und Personalkompetenz» (Klieme et al. 2003, 22) und damit von einer erziehungswissenschaftlichen Vorstellung von Kompetenz, wie sie sich während der 1970er-Jahre entwickelt hatte. Kompetenzen werden in der Expertise als eine bestimmte «Leistungsdisposition» verstanden und bezeichnen «erworbene, also nicht von Natur aus gegebene Fähigkeiten […], die der lebenslangen Kultivierung, Steigerung und Verfeinerung zugänglich sind» (ebd., 65). Kompetenzen können also nicht nur erworben, sondern auch entwickelt werden und sind nicht als Fähigkeiten zu verstehen, über die man verfügt oder eben nicht verfügt, sondern über die unterschiedlich verfügt werden kann. Sie grenzen sich zudem deutlich von Qualifikationen ab, die mit ihrer Abhängigkeit von «externer Zweckbestimmung» dem Verdacht ausgesetzt sind, von aussen her vorbestimmt zu sein (Geissler u. Orthey 2002, 70–71).

      Auffallend am hier skizzierten Kompetenzbegriff ist seine semantische Nähe zum Bildungsbegriff. Auch dieser wird ja in seiner klassischen humboldtschen Formulierung als eine Kraft verstanden, die es dem Menschen ermögliche, «seinem Wesen» in Auseinandersetzung mit der Welt «Werth und Dauer [zu] verschaffen» (Humboldt 1960, 235) oder in einer in der Literatur oft zitierten zusammenfassenden Neuformulierung durch Hartmut von Hentig: Bildung ist «die Anregung aller Kräfte eines Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt […] entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit führen» (Hentig 1999, 38). Dies wird dann in der Expertise zur Entwicklung von Bildungsstandards als «erworbene, also nicht von Natur aus gegebene Fähigkeiten» bezeichnet, «die an und in bestimmten Dimensionen der gesellschaftlichen Wirklichkeit erfahren wurden und zu ihrer Gestaltung geeignet sind» (Klieme et al. 2003, 22). Diese Nähe ist nicht weiter erstaunlich, übernimmt der Kompetenzbegriff doch ähnliche Funktionen wie der Bildungsbegriff um 1800. Auch dieser verstand sich als Gegenpol zu «reinem» oder «blossem» Wissen, das nicht tätig oder handlungsleitend wurde. Wenig überraschend wurde denn auch die Debatte geführt darüber, ob und, wenn ja, wie der Kompetenzbegriff den immer wieder in die Kritik geratenen Bildungsbegriff ersetzen kann (Rekus 2007; Tenorth 2008; Schulze 2009; Martens 2010, 42–43).

      Kritik an einer In-eins-Setzung des Bildungsbegriffs mit dem Kompetenzbegriff wurde aus einer bildungstheoretischen Perspektive laut, die betont, dass Bildung als Prozess von Selbstentfaltung und Aneignung über den Kompetenzerwerb hinausgehen müsse, da Kompetenzerwerb sich wesentlich auf funktionales Wissen beziehe (Gruschka 2006). Bildung müsse zudem auch unabhängig von einem erreichten Kompetenzniveau möglich sein (Schlömerkemper 2004). Bei dieser Argumentation wird in der Regel allerdings nicht berücksichtigt, dass der Kompetenzbegriff schon in den 1970er-Jahren mit dem Begriff der Mündigkeit in Verbindung gebracht worden ist (Roth 1971, 180), einem der zentralen Begriffe einer emanzipatorischen Bildungstheorie.

      Unabhängig jedoch von der Frage, inwiefern der Kompetenzbegriff den Bildungsbegriff ersetzt, ergänzt oder an die internationale Diskussion anschlussfähig macht, finden sich auch Aussagen, dass der Kompetenzbegriff einseitig den Bereich des Wissens fokussiere (Hofer 2012, 31). Gleichzeitig bemängeln die aktuellen Diskussionen um kompetenzorientierte Lehrpläne allerdings gerade die fehlende Bedeutung von Wissen. Kompetenz kann offenbar sowohl als wissensbasiertes als auch als eher wissensunabhängiges Konzept verstanden werden, das, je nach weltanschaulicher Position, Bildung inkorporiert oder verhindert.

      Die Frage nach der Rolle des Wissens verweist auf die in der zeitgenössischen Diskussion beliebte Unterscheidung von «totem Wissen» und Kompetenz. Diese Gegenüberstellung von verschiedenen Arten von Wissen ist auf den ersten Blick durchaus nachvollziehbar und knüpft an pädagogisches Alltagswissen und pädagogische Alltagserfahrung an. Sie verweist darüber hinaus aber auch auf ein «traditionelles» Problem der Pädagogik, das Problem nämlich, wie Pädagogik als eine auf Praxis zielende Wissenschaft die Lücke zwischen Theorie und Praxis schliessen kann.[17] Konkret geht es um die Frage, wie man einen anderen Menschen (oder auch sich selber) dazu bringen kann, Vorstellungen, Ideen oder eben Wissen effektiv anzuwenden bzw. in konkrete Taten umzusetzen und damit tatsächlich gemäss den eigenen Überzeugungen und Vorstellungen zu handeln.[18]

      Die Unterscheidung zwischen Kompetenz und «totem Wissen» könnte so als heuristisches Mittel verstanden werden, das heisst als intellektuell konstruierte Hilfe, deren Funktion lediglich darin besteht, einen Sachverhalt deutlicher zu erfassen, hier also zwei Formen von Wissen voneinander zu unterscheiden. Das Problem ist allerdings, dass die in der zeitgenössischen Literatur so oft betonte Gegenüberstellung von Kompetenz und «totem Wissen» in der Regel gerade nicht heuristisch, sondern als real verstanden wird und damit als empirisch überprüfbarer Tatbestand, der mit entsprechenden Methoden gemessen werden kann. Unter dieser Voraussetzung ist diese Unterscheidung auch für die wissenschaftliche oder fachliche Beschäftigung mit – hier konkret – Schule und Unterricht leitend und bestimmt (auch) die Vorstellung davon, was Schule und Unterricht ist und zu sein hat.

      Diese Unterscheidung schliesst auch an die Frage an, wie der Mensch damit umgeht, dass er nie alles wissen kann und wie mit dieser ständigen Defiziterfahrung in Bezug auf die