Edgar H. Schein

Prozessberatung für die Organisation der Zukunft


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zu sehen, auf welcher Stufe die Parteien einander jeweils akzeptieren können. Während der Klient seine Geschichte darstellt, wird er sehr genau darauf achten, inwieweit der Berater aktiv zuhört, das Gesagte versteht und ihn unterstützt. Erscheint ihm die Unterstützung sicher und hat er das Gefühl, was immer er sagt, wird – wenn auch nicht alles vollkommen gutgeheißen – so doch zumindest verstanden, wird er sich auf eine privatere, intimere Stufe vorwagen, bis er fürchtet, er könnte zuviel von sich preisgeben und damit den Helfer oder vielleicht sogar sich selbst überfordern. Der Berater muss sich darüber im Klaren sein, dass kulturelle Normen stets begrenzen, wie »offen« ein Gespräch werden kann. So etwas wie »alles raus lassen« gibt es nicht. Es wird immer Bewusstseinsebenen geben, die der Klient für sich behalten und nicht einmal einem Berater, dem er vertraut, enthüllen will. Und es gibt Bewusstseinsschichten, die wir nicht einmal selbst akzeptieren können und deshalb verdrängen.

      Auf der anderen Seite wird der Helfer genau austarieren, wie der Klient auf seine Anregungen, Fragen, Vorschläge und auf sein ganzes Auftreten als Berater reagiert. Er will herausfinden, wie groß die Abhängigkeit ist, auf die der Klient sich einzulassen bereit ist, und wie bereit er (der Berater) selbst ist, sich auf diese Abhängigkeit einzulassen. Je mehr der Klient den Berater akzeptiert, desto bereiter wird dieser (der Berater) ihn in seine verborgeneren Gedankengänge einweihen und eine tiefere Gesprächsebene zulassen. Aber während dieses gesamten Prozesses überprüfen sich die beiden Parteien ständig gegenseitig und achten auf gefährliches Feedback. Tritt dieses dann auf, müssen beide Parteien ihre Beziehung erneut auskalibrieren und den psychologischen Vertrag überdenken: Hat eine der beiden Parteien eine implizite Grenze übertreten? Lässt sich der implizite Vertrag neu verhandeln oder hat die Beziehung eine Ebene erreicht, über die sie nicht hinauskommt? Oder, schlimmer noch, wurde sie in einem Ausmaß beschädigt, dass entweder Klient oder Berater das Gefühl haben, sie beenden zu müssen? Wir alle haben diese Erfahrung bereits gemacht, Vertrauen aufzubauen kostet weitaus mehr Kraft und Zeit, als es zu verlieren. Entscheidend bei dem Aufbau gegenseitigen Vertrauens ist daher, dabei langsam vorzugehen, das Ziel – zunehmende gegenseitige Akzeptanz und gleich hoher Status in der Beziehung – nicht aus den Augen zu verlieren. Die kritischen Interventionen bestehen darin, den Klienten seine Geschichte erzählen zu lassen und engagiert nachzufragen, d.h. der Helfer arbeitet mit seinem Nichtwissen und behebt seine Wissenslücken.

      Dieser Prozess, das gilt es zu beachten, kann durchaus als wechselseitiger Prozess des Helfens betrachtet werden. Der Helfer kann Vertrauen herstellen, indem er tatsächlich auf jeder Ebene akzeptiert, was der Klient von sich preisgibt, und dabei vielleicht auch seine eigenen Vorstellungen über das Geschehen ändert. In einem gewissen Sinn ist der Helfer vom Klienten abhängig, um exakte Informationen zu erhalten und die benötigte emotionale Rückmeldung. Und der Helfer muss bereit sein zu helfen, damit der Klient das notwendige Vertrauen aufbauen kann, ohne das er seine tieferen Gefühle nicht zeigen wird. Je mehr die beiden Parteien sich gegenseitig helfen und helfen lassen, desto ausgeglichener wird die Beziehung.

       Implikationen für die Praxis

      Um ein Klima für eine effektive Beratungssituation zu schaffen, muss sich der Helfer zunächst die bislang dargestellten fünf übergreifenden Prinzipien vergegenwärtigen (»Versuche stets zu helfen«; »Verliere nie den Bezug zu der aktuellen Realität«; »Setze dein Nichtwissen ein«; »Alles, was du tust, ist eine Intervention«; »Das Problem und seine Lösung gehören dem Klienten«). Dem können wir nun ein sechstes Prinzip hinzufügen, dass es stets zu beachten gilt.

      SECHSTES PRINZIP

      Geh mit dem Flow

       Jedes Klientensystem entwickelt eine Kultur und versucht, seine Stabilität aufrechtzuerhalten, indem es an dieser Kultur festhält. Jeder Klient entwickelt seine eigene Persönlichkeit und seinen Stil. Da mir diese kulturellen und individuellen Wirklichkeiten nicht von Anfang an bekannt sind, muss ich erst herausfinden, wo der Klient motiviert ist und wo er bereit ist, sich zu ändern. In diesen Bereichen kann ich dann ansetzen.

      Der Helfer muss herauszufinden versuchen, in welche Richtung sich der Klient und die Beziehung entwickeln, und er darf nicht versuchen, die Situation mit zu vielen Anliegen oder Stereotypen zu überfrachten. Falls es mir tatsächlich darum geht, die Realität dieser Situation zu erfassen, und ich Zugang dazu habe, was ich wirklich nicht weiß, und mir darüber im Klaren bin, dass alles, was ich frage oder tue, eine Intervention ist und dass ich mir das Problem nicht selbst aufladen muss, erscheint mir die Vorstellung vollkommen natürlich, mit dem Flow zu gehen, mich von den Gefühlen des Klienten und meinen Reaktionen darauf leiten zu lassen, statt mich nach willkürlichen Regeln über den richtigen Verlauf einer Beratung zu richten.

      Es hilft, wenn man sich dabei über die bereits erwähnten Fallen im Klaren ist und sich immer wieder fragt: »Arbeiten wir als Team?« »Ist die Beziehung, was den Status angeht, ausgeglichen?« »Bekommen und geben wir entsprechend den jeweiligen Erwartungen?« Prozessorientierte Fragen wie »Hilft dieses Gespräch?« »Bekomme ich einen Eindruck von dem Problem?« »Sprechen wir über die richtigen Themen?« helfen Ihnen dabei, den richtigen Kurs zu halten.

      Geht der Berater davon aus, dass die Situation, in der der Klient sich befindet, wahrscheinlich komplex ist und er zu Beginn der Beziehung von dieser Komplexität keine Ahnung haben kann, wird er sich mit voreiligen Bewertungen und Urteilen zurückhalten. Es geht nicht nur darum, damit nicht laut hinauszuplatzen, sondern vielmehr sollte man sich klarmachen, wie wenig man weiß und wie unangebracht es daher ist, die Situation erahnen oder beurteilen zu wollen. Eine nichtdirektive Interviewweise, die dem Klienten den Platz am Steuer überlässt und ihm erlaubt, seine Sichtweise darzustellen, wird einen am ehesten vor solchen vorschnellen Urteilen bewahren und den Klienten im Prozessverlauf das Gefühl vermitteln, ernstgenommen und geschätzt zu werden. Das nächste Kapitel beschäftigt sich eingehend mit dieser »aktiven Frageweise«.

      Ich versuchte die wesentlichen psychodynamischen Punkte in der helfenden Beziehung darzustellen, indem ich die psychologische Ausgangslage des Hilfesuchenden und des Helfers beschrieb sowie die ersten Interaktionen zwischen den beiden Parteien. Das strategische Ziel dabei ist, einen psychologischen Zustand zu schaffen, in der es einen funktionierenden psychologischen Vertrag gibt, eine Situation, in der jede Partei den jeweiligen Erwartungen entsprechend gibt und nimmt und in der Helfer und Klient sich als Team zu fühlen beginnen, dessen Zusammenarbeit sich zunächst auf die Diagnose des Klientenproblems konzentriert und sich dann den nächsten Schritten zuwendet. Die Schaffung eines solchen funktionierenden psychologischen Vertrags setzt bei beiden Parteien eine Einsicht in ihre ursprüngliche vorurteilsbehaftete Wahrnehmung der Situation voraus und die Bereitschaft, sich auf ein Gespräch einzulassen, in dem diese Vorurteile und Klischees auftauchen dürfen. Gleichzeitig dürfen beide es nicht an gegenseitigem Respekt und wechselseitiger Unterstützung fehlen lassen.

      Das Dilemma beim Schaffen einer funktionierenden helfenden Beziehung ist, dass beide Parteien sich zunächst kennen lernen müssen, gleichzeitig jedoch eine sichere Umgebung für den Klienten bereitet werden muss, damit dieser seine Geschichte erzählen kann, da der Klient zu Beginn der Beziehung verletzlicher und abhängiger ist als der Helfer. Die Helfer müssen dem ursprünglichen Impuls widerstehen, in dieses Machtvakuum vorzurücken, das die Klienten mit ihrem Problemeingeständnis schaffen. Statt dessen sollten sie sich auf eine Balance zwischen ihrem Status und dem des Klienten konzentrieren. Helfer müssen erkennen, dass sie auf die Hilfe des Klienten angewiesen sind, wenn sie die Realität ihres Klienten wirklich erfassen wollen, und dass eine helfende Beziehung am besten funktioniert, wenn beide Parteien der Meinung sind, sich gegenseitig zu helfen, obwohl sie sich explizit mit den Problemen des Klienten befassen.

      Die übergreifenden Prinzipien, die es dabei ständig im Kopf zu behalten gilt, lauten:

       1. Versuche stets zu helfen.

       2. Verliere nie den Bezug zu der aktuellen Realität.

       3. Setze dein Nichtwissen ein.

       4. Alles, was du tust, ist eine Intervention.