Lisbeth Herger

Zwischen Sehnsucht und Schande


Скачать книгу

wird, betrachtet man die Akten dieses vorstädtischen Armenhauses eher als lästige Mitgift denn als Quellenschatz für Fragen künftiger Generationen. Nur ein kleiner Bestand wird integriert, der Rest zerstört. Allfällige Dokumente, die von der Kindheit der Fädlerstochter Anna Maria erzählen könnten, gibt es also nicht mehr.

      Die nächste Spur der Taglöhnerfamilie Bauer findet der Enkel in den Niederlassungsbüchern der Stadt St. Gallen, acht Jahre später. Für den 12. Juli 1900 wird die Niederlassung des Johann August Bauer in der Stadt festgehalten, von Tablat kommend, mit Frau und Kind, und ferner inbegriffen das illeg. Kind der Frau, das um der genetischen und erbrechtlichen Klarheit willen nach wie vor Boxler heisst. Und weitere vier Jahre später, auch das kann man dem Eintrag entnehmen, ziehen die Bauers bereits wieder nach Tablat zurück. Doch diesmal ist die junge Anna Maria, die als Nachstickerin inzwischen ihr Brot selbst verdient, schon nicht mehr mit dabei.

      Wo überall die junge Anna Maria vor ihrer Heirat ihr Brot verdiente, kann der forschende Enkel nicht herausfinden. Dass sie jedoch, nach ihrer Schulentlassung genau wie ihre Mutter und ihre Grosseltern, in der → Ostschweizer Stickerei ihr Auskommen sucht, ist für den Historiker schon fast selbstverständlich. Sie arbeitet als Nachstickerin, wie er im Eheregister der Stadt St. Gallen später bestätigt bekommt. Auch ihr zukünftiger Gatte, Adolf Looser, ein armer Mann aus dem toggenburgischen Nesslau, arbeitet in der Stickerei. Die beiden heiraten am 30. März 1903, ein etwas ungleiches Paar, der dreissigjährige Schifflisticker mit seiner noch nicht ganz volljährigen Braut. Doch die Zustimmungserklärung liegt vor, die leicht gesetzte Unterschrift einer Mutter, die wohl erleichtert war, ihre illegitime Tochter frühzeitig unter der Haube zu wissen. Umso mehr, als die Löhne tief und die Zeiten schwierig sind. Das Sticker-Paar bekommt also grünes Licht für seine Ehe, und es braucht die beiden nicht zu kümmern, dass eine Heirat wie die ihre, von zwei Habenichtsen, wegen Ehebeschränkungen vor noch nicht allzu langer Zeit nicht möglich gewesen wäre. Ihrer Hochzeit steht nichts im Weg, Einspruch hat es keinen gegeben, die ordentlichen Trauzeugen können sich herausputzen, der Bruder des Bräutigams und die Sophie Ritter aus dem Stadtteil nebenan, wohl eine Arbeitskollegin der jungen Braut.

      Da haben sich also ein Schifflisticker und eine Nachstickerin gefunden. Vielleicht bei ihrer Arbeit, wie so viele der Ihren, in einem der vielen St. Galler Stickereibetriebe. Adolf war vermutlich froh, mit seinen dreissig Jahren nicht mehr Hand-, sondern Schifflisticker zu sein, das war körperlich leichter. Denn bei der Schifflistickmaschine, inzwischen mächtig auf dem Vormarsch, musste der schwere Vorder- und Hinterwagen nicht mehr mit Tretpedalen bewegt und arretiert werden. Es war vorbei mit der harten Beinarbeit, die den Rücken lädierte. Neuerdings wurde dies alles maschinell erledigt, mithilfe von Dampf, von Wasserkraft oder gar von Elektrizität. Zudem musste er nicht mehr wie früher, wenn er den Pantographen über die Muster führte – sorgfältig, Stich um Stich, höchst konzentriert –, gleichzeitig auch noch die Fäden überwachen, mit schielendem Blick, ob sie alle noch spannten, ob einer gerissen oder vorzeitig ausgelaufen war und geschwind ersetzt werden musste. Vor allem aber – und das war der grösste Gewinn – war die neue Maschine nicht mehr alle halbe Stunde umzurüsten, denn aus den gefüllten Schiffli konnte man statt nur einen, wie früher, sagenhafte 260 Fadenmeter in die Stoffe sticken. Und das ersparte die mühselige Warterei beim Fädeln der weit über hundert Nadeln, unbezahlte verlorene Stunden, da er, obwohl Fabrikarbeiter, nicht nach Zeitaufwand, sondern nach Stichzahl bezahlt war.

      Diese um ein Zehnfaches beschleunigte Produktion brachte aber nicht etwa mehr Geld in die Tasche der Sticker. Sticker blieben schlecht bezahlt, auch wenn sie nun Schifflisticker hiessen, sie gehörten weiterhin zu den am schlechtesten bezahlten Berufsleuten der neuen Industrie. Und wer etwas Geld angespart hatte, wer sich etwas zutraute, stand nicht mehr am Pantographen in der Fabrik, der machte sich selbständig im gepachteten Stickerhäuschen, im engen Verbund mit Frau und Kind. Da schuftete man zwar seine achtzehn Stunden am Tag, und die Kinder wurden zu Fädelsklaven. Aber man arbeitete, so schien es zumindest, selbständig und in den eigenen Sack.

      Anna Marias Ehemann Adolf hatte keinen solchen Unternehmergeist. Und wohl auch nicht die nötigen Geldreserven. Als Schifflisticker verdiente er sein Brot in der Fabrik. Ohne festen Lohn, Akkordarbeit nach Stichzahl, und jeder Fehlstich wurde mit Abzug bestraft.

      In einem der vielen Stickerbetriebe der Region hat Anna Maria ihren Adolf also vermutlich kennengelernt. Der Enkel durchforscht seine Fachliteratur, holt sich Bücher aus der Bibliothek, sucht nach Fotos von damals. Er will sich vorstellen können, wie die junge Frau in einem der grossen Sticksäle an den Tischreihen sass, seitlich vor den Fenstern, eine Nachstickerin unter vielen, und wie sie die Stoffbahnen vor sich über die Platte schob und mit angestrengtem Blick nach Fehlstichen in den Mustern suchte, um dann mit flinken Fingern und spitzer Nadel all die kleinen Mängel auszubessern. Und wie sie dabei ab und zu dem stattlichen Sticker am Pantographen einen Blick zuwarf und sich errötend zurück in die Stoffbahnen rettete, wenn er den Blick erwiderte oder vielleicht gar mit einem Zwinkern grüsste.

      Anna Maria war, wie Adolf, ein Stickerkind. Hatte ihrer Mutter, der Fädlerin, tausendmal bei ihrer Arbeit zugesehen, hatte später gewiss auch selbst gefädelt, sobald ihre kleinen Händchen es schafften mit der konzentrierten Führung des Fadens und den feinen Verknotungen. Oder dann hatte sie die mit den Fädlingen besteckten Nadelkissen zum Sticker gebracht und mitgeholfen, sie in die stählernen Kluppen des Vorderwagens seiner Maschine einzulegen, in präzis ausgemessenem Abstand, so, wie die Muster es verlangten. Fädeln war eine Arbeit, die sie kannte, für die die Männer angeblich nicht taugten, sodass man sie gerne den Frauen überliess, zum halben Lohn, oder noch besser den Kindern, wann immer man diese aus den Schulzimmern und von den Schulbüchern in die Stickstuben holen konnte.

      Mit Fädeln kannte sich Anna Maria also aus. Und vielleicht darum, weil sie dieses öde Einerlei von ihrer Mutter bis zum Überdruss kannte, hat sie sich für die Nachstickerei entschieden, für die andere der zwei Arbeiten, die man damals den jungen Stickerfrauen zu Wahl anbot. Möglicherweise, so überlegt der Enkel bei seinen Studien zur Geschichte der Stickerei, war ihr Entscheid aber auch ein Ausdruck kluger Weitsicht. Denn vermutlich hatte Anna Maria von der neuen Fädelmaschine gehört, die – im selben Jahr erfunden wie sie geboren wurde – nun immer mehr eingesetzt wurde. Ein kleines Wunderwerk mit Schwungrad und raffiniert ineinander wirkenden Häkchen, die den Faden nicht nur durch das Öhr zogen und ihn fest um die Nadel verknoteten, sondern den Fädling auch gleich noch in der gewünschten Länge kappen und die Nadel einsatzbereit auf einen Holzlineal aufzustecken wusste. Dies alles in wirbeligem Tempo, statt in ein bis zwei Stunden war ein Satz Nadeln in glatten fünf Minuten bereit. Vielleicht hat Anna Maria vorausgesehen, dass die Fädlerinnen durch dieses Teufelsding bald einmal arbeitslos werden würden. Denkbar also, dass sie dies alles kommen sah und deshalb eine Nachstickerin geworden war.

      Doch zurück zum frisch getrauten Hochzeitspaar. Ob gefeiert wurde und wie, ob Anna Maria und Adolf sich Ringe übergaben, kann der Enkel nicht herausbekommen. Es gibt weder Zeugen noch Fotos. Eher unwahrscheinlich ist, dass Adolfs Eltern Jakob und Elisabeth – mit ihren sieben Kindern in Nesslau schon länger als armengenössig aufgeführt – aus dem Toggenburg nach St. Gallen angereist kamen. Das wäre sicher zu teuer gewesen. Noch viel weniger lässt sich erahnen, ob die junge Anna Maria wusste, was da an ehelichen Pflichten und Verkrümmung der eigenen Rechte so auf sie zukommen würde. Selbst die romantisch genährte Vorstellung, dass die beiden sich wirklich liebten, muss nicht zwingend zutreffen. Vielleicht haben ja die Not des schon älteren Mittellosen und das Stigma der jungen Illegitimen die beiden zusammengeführt.

      Auch sonst bleiben viele Leerstellen in diesem biografischen Übergang. Wo das Paar damals wohnte – vermutlich bei Anna Marias Eltern –, ob es dort eine Ecke der Intimität überhaupt gab, verraten die Niederlassungsbücher nicht. Das Register von Tablat hält einzig fest, dass das Paar im September desselben Jahres von St. Gallen in die Holzhandlung Baumann an die Langgasse in Tablat umgezogen ist. Hingegen lässt sich genau nachrechnen, dass Anna Maria gleich in den ersten Tagen nach der Eheschliessung – oder vielleicht auch kurz davor – schwanger wurde. Am 5. Januar des folgenden Jahres gebiert sie Maria Sophie, ihr erstes Kind. Und schon ein Jahr später setzen wieder Wehen ein, und Emma, die zweite Tochter, ist da.