Lisbeth Herger

Zwischen Sehnsucht und Schande


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einigen Tagen nichts verdient, sie habe kein Geld. Und wie schliesslich auf diesem Weg eine Schuld von 103.85 Franken zusammengekommen sei, für die Adolf Looser nun verklagt werde. Der Kläger erklärt weiter, er habe ihm eine so grosse Summe kreditiert, weil er bei drei Arbeitgebern Erkundigungen eingezogen habe und beruhigt worden sei, er werde sein Geld schon erhalten.

      Die Novelle ist längst ein agitatorisches Lehrstück geworden, denkt der Enkel beim Weiterlesen, so, wie man sie in sozialistischen Kampfblättern jener Zeit, etwa im «Textilarbeiter» oder in der «Vorkämpferin», lesen konnte, die mit solchen Mustergeschichten die Verelendung proletarischer Familien anprangerten. Auch bei Loosers reichten die Löhne nirgends hin, deshalb liess man bei den Händlern anschreiben, jonglierte zwischen all den Gläubigern hin und her, schickte eines der Kinder vor, um noch einmal ein Brot und etwas Milch auf Kredit zu erbitten.

      Insofern war es eine ganz alltägliche Geschichte zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit der die Richter in Gossau sich zu beschäftigen hatten. Und es mag sein, dass sie manchmal ein bisschen zweifelten an der Gerechtigkeit, der sie dabei das Wort zu reden hatten. Menschen zu bestrafen, nur weil sie versuchen, ihre Kinder durchzubringen, wirft ja auch Sinnfragen auf. Doch die geltende Moral, auf Kanzeln und in Schulzimmern verkündet, stellte sich zuverlässig auf ihre Seite. Wer fleissig war und bescheiden, da war man sich einig, hatte nichts zu befürchten. Diesmal übernimmt der Kläger, es ist der Händler Traber, die Rolle des Predigers, der den Mahnfinger hebt und feststellt, dass Loosers über ihre Verhältnisse gelebt, denn soviel Waren wie sie geholt, brauche keine Familie, oft seien 2 Bieberfladen an einem Tag geholt worden, wie auch auffallend viel Chocolade.

      Nicht etwa strukturell bedingte Not führt also zur Verschuldung, sondern Gier und Verschwendungssucht. Mit diesem Schachzug wird die Angelegenheit zum Privatproblem zweier Leute, gerät der Prozess zum Ehestreit vor richterlichem Publikum. Ehemann Adolf stimmt denn auch dem Kläger Traber bereitwillig zu: Es sei richtig, dass in geradezu leichtsinniger Weise viel zu viel gebraucht worden sei, hält er fest. Und reicht dann die Anwürfe an seine Frau und ein bisschen an den Kläger weiter: Traber sei insofern mitschuldig, dass er zu viel gegeben und kreditiert habe. Traber hätte einmal Halt gebieten und dem Beklagten rechtzeitig Mitteilung machen können. […] Wenn seine Frau und seine Schwiegermutter auf seine Rechnung Waren geholt, so könne er nichts dafür. Wenn er untertags von Hause abwesend sei, so mache man dort was man wolle. Für sich habe er nichts. Er gebe seinen ganzen Verdienst in die Familie. Ob Adolf hier aus taktischen Gründen seine Frau bezichtigt, um sich so aus der Anklage herauszuwinden, oder ob sich hinter den Anwürfen tatsächlich Ehekonflikte verstecken, ist nicht zu beurteilen.

      Das Urteil hält dann fest, dass Anna Maria zwar zugibt, bei Traber manches bezogen zu haben, was nicht gerade notwendig gewesen sei, dann aber rechtfertigt sie sich, dass sie oft die ganze Woche kein Fleisch habe kaufen können. […] In kritischer Zeit sei sie schwanger gewesen und habe nicht alles essen können, weshalb sie mit Chocolade und derlei Sachen nachgeholfen habe. Und schliesslich deponiert auch sie noch ihren Packen Vorwürfe an die Adresse ihres Mannes, der seinen redlichen Teil mitgeholfen durch seinen Geldverbrauch, der eben auch hätte eingeschränkt werden können. […] Dass der Mann nicht haushälterisch sei, beweise die Tatsache, dass er am Sonntag, den 24. September allein frs. 10.– verbraucht habe. Wenn der Mann Geld im Haus habe, so brauche er es eben auch. Und schliesslich geht sie in ihrem Unmut noch einen Schritt weiter, hält fest, dass die Ursache der Zahlungsunvermögenheit auch auf den Umstand zurückzuführen sei, dass der Mann zu wenig Ausdauer zeige und zu seinen Anstellungen zu wenig Sorge trage. Deshalb könne sie eine Anschuldigung wegen leichtsinnigem Schuldenmachen nicht an sich kommen lassen, sie habe ihre Sache so gut gemacht, als sie es gekonnt, sie habe auch mit Nachsticken viel Geld verdient. Der Streit ist in vollem Gang. Das Paar verliert an Glaubwürdigkeit, und die Richter sehen sich in ihrer Rechtsprechung bestätigt.

      Liest man weiter im Urteil, wird deutlich, dass Anna Maria mit ihren Anwürfen vermutlich eher zurückhaltend war. Ihre Mutter aber, ebenfalls als Zeugin befragt, nimmt kein Blatt vor den Mund, ihrem Ärger über diesen Schwiegersohn Luft zu verschaffen: Der Beklagte wird auch von seiner Schwiegermutter als dem Trunke & dem Spiel ergeben bezeichnet und sie wünscht, dass derselbe bevogtet werde. Er lebe nur für die Vereine und gehe ganze Nächte dem Vergnügen nach, er sei ein sehr gleichgültiger Mensch. Wenn er sich mehr der Familie widmen würde, so wäre vieles anders, er sei ein liederlicher Tropf. Aus der Heimatgemeinde Nesslau kommen ähnliche Klagen, was nicht unbedingt erstaunt, denn bekanntlich hat Schwiegermutter Bauer auch dort bereits ihren Unmut deponiert. Mit Schreiben vom 23. Februar 1911 macht sie demselben Vorwürfe über seinen liederlichen Lebenswandel, dass er in Vereinen und Gesellschaften alle Anlässe mitmache und ihm das Wirtshaus mehr Heimstätte geworden sei als die Wohnung, während er der Gemeinde noch Unterstützungen schulde und die Kinder Mangel am Notwendigsten leiden müssen.

      Was es mit Adolfs → Trunksucht auf sich hat, lässt sich nicht wirklich klären. Das Wirtshaus war damals für alle proletarischen Männer so etwas wie eine zweite Wohnstube. Eine Rettung aus der Enge ihrer mit Betten vollgestellten Wohnräume, mit lärmenden oder schlafenden oder einnässenden Kindern und erschöpften Frauen, die sich abrackerten mit Kochen und Flicken und abends dann noch für ein paar Stunden in den Stoffen und Bordüren ihrer Heimarbeit versanken. Das Wirtshaus als Fluchtort war männliches Vorrecht, der Alkohol als Trosttrank selbstverständliche Zugabe.

      Was den Enkel aufmerken lässt, ist der Vorwurf mit den Vereinen und Gesellschaften. Nur zu gerne hätte er herausgefunden, wo genau sein Grossvater mitgemacht hatte und ob er vielleicht gar politisch unterwegs war. Jedenfalls waren damals unruhige Zeiten in der Schweiz. Die Verelendung der Arbeiter ging, trotz Hochkonjunktur vor dem Ersten Weltkrieg, ungebrochen weiter, man begann sich zunehmend zu wehren. Der Gewerkschaftsbund war bereits vor der Jahrhundertwende gegründet worden, der Fabrikstickerverband ebenfalls, und auch die Schweizer Sozialdemokratie, seit 1888 neue Kraft im Parteiengefüge, bekam Zulauf. Es gab Unruhen und Streiks, die Regierung setzte die Armee ein, Patrons entliessen Gewerkschafter und schrieben in die Lehrlingsverträge gewerkschaftliche Beitrittsverbote. Vielleicht, so malt der Enkel sich aus, während er ein Buch zur Geschichte der Arbeiterbewegung liest, hat Adolf ja zu jenen zwanzig Prozent der Schifflisticker gehört, die sich im Verband organisierten, oder hat beim grossen Streik in Arbon in der Stickerei Heine mitgemacht. Oder, auch das ist denkbar, vielleicht war er damals in Tablat mit dabei, 1905, als die Sticker sich in der «Traube» versammelten, um mit sozialdemokratischer Hilfe Massnahmen gegen die immer ärgeren Missstände in der Stickerei zu debattieren. Der Enkel hat just zu dieser Versammlung einen Bericht gefunden und liest fasziniert, wie man damals die Löhne drückte bei den Nachstickerinnen, indem man italienische Arbeiterinnen holte, junge, oft minderjährige Frauen, die man in Stickerheime sperrte und zu miesesten Löhnen schuften liess. An der besagten Versammlung wurde dazu von Arbeiterführer Hermann Greulich persönlich eine Geschichte rapportiert. Dieser erzählte von drei halbwüchsigen Töchtern aus Ponte Tresa, die von katholischen Priestern mit Aussicht auf guten Verdienst in ein St. Galler Mädchenheim für Nachstickerinnen gelockt worden seien. Dann sei den Mädchen jeder Fehler mit hohen Strafabzügen quittiert worden, sodass sie unterm Strich fast nichts mehr verdient hätten, und zudem habe man ihnen auch noch das Recht auf Kündigung abgesprochen, da sie sich vorgängig für zwei Jahre fest verpflichtet hätten. Und um das Fass übervoll zu machen, so ereifert sich der aus Zürich angereiste Greulich, seien die jungen Mädchen von den Ordensschwestern im Heim auch noch regelrecht religiös drangsaliert worden.

      Da Adolf und Anna Maria just zu jener Zeit ebenfalls an der Langgasse in Tablat wohnten, also gleich neben der Wirtschaft Traube, wo diese Versammlung stattfand, wäre es tatsächlich denkbar, überlegt der Enkel, während er das herangezogene Buch wieder zur Seite legt, dass sein Grossvater damals mit am Wirtshaustisch sass, um gegen solche Missstände zu protestieren. Zumal die fiese Lohndrückerei ja seine Frau Anna Maria, die Nachstickerin, ganz direkt betraf.

      Doch das bleiben Fantasien zu offenen Fragen. Fest steht einzig, dass Adolf viel unterwegs war, dass er dem Alkohol nicht abgeneigt war, dass er seine Arbeit öfters verlor, dass seine Frau während der Schwangerschaft fehlendes Fleisch mit Schokolade kompensierte und sich und den Kindern – wider alle ökonomische Vernunft – ab und zu einen Biberfladen gönnte. Und so kam es,