Frau mit den Kindern wird auf die Gasse gestellt. Bei einem Besuch des Gemeindeammanns zeigte sich, dass die Familie auszog und zwar in den Stadtrayon. Vom Armensecretariat Tablat wurde die Familie vorläufig unterstützt. Seitens der Heimatgemeinde wird man nun zusehen bis weitere Begehren eingehen. Die Begehren lassen nicht auf sich warten. Die Forderung des Vermieters Schweikart aus St. Gallen für den garantierten Mietzins von 35 Franken. Die Rechnung des Kantonsspitals im Krankheitsfall Looser, dessen Syphilis man vergeblich als Militärkrankheitsfall der Armee zu überwälzen versucht. Bemerkenswert bleibt, dass keine Arzt- oder Spitalrechnung vorliegt, die eine Behandlung der ebenfalls daran erkrankten Anna Maria nachweisen würde. Wahrscheinlich hat sich vorerst niemand darum gekümmert. Auch sie selbst nicht.
Dafür kümmert man sich von Behördenseite umso mehr um die Kinder. Die Amtsvormundschaft der Stadt St. Gallen empfiehlt den Nesslauern die sofortige Wegnahme der Kinder + passende Unterbringung derselben, stösst dort aber auf taube Ohren. Die Nesslauer hoffen auf eine billigere Lösung: Der Gemeinderat rapportiert über einen gemachten Besuch, demzufolge ist Looser nunmehr aus dem Spital ausgetreten u. hat wieder beständige Arbeit gefunden als Schifflisticker in Walzenhausen, wohin die Familie nun zu ziehen gedenkt. Zu hoffen ist, dass nachdem der Mannsverdienst wieder einsetzt die Gemeinde, wenn nicht ganz so doch bedeutend entlastet werde. Aber auch mit Walzenhausen scheint es nicht wirklich zu klappen. Ende 1915 zieht die Familie nach Arbon. Und die Nesslauer versuchen den Umzug zu nutzen, um sich aus ihrer finanziellen Belastung zu befreien. Sitzung vom 27. Januar 1916: In etwas unverständlicher Weise berichtet die Armenpflege Arbon über die Familie Adolf Looser-Boxler Schifflisticker. Die Behörde verlangt schriftliche Gutsprache für sämtliche durch die Krankheit der Eltern oder Kinder möglicherweise entstehenden Arzt-, Verpflegungs- und Transportkosten. Der Armenpflege ist mitzuteilen, dass es dem Ehepaar Looser-Boxler wohl möglich sei die Familie selbst durchzubringen zu können und eine Garantie nicht geleistet werden könne. Der Eintrag schliesst mit einem bemerkenswerten Schlusssatz: Unsere Auffassung war nun die, die wohnörtliche Behörde wolle ein Augenmerk auf das Ehepaar halten in sittlicher Beziehung. Eine Dosis Moral also statt der nötigen Unterstützungsgelder. Und diesmal sollen die Arboner bei den Loosers die Zügel straffen, um den weiteren Absturz ins Elend zu stoppen.
5 Weggesperrt und abgeschoben
Die Armenpflege Arbon findet keine Zeit, sich um die zugezogene Familie Looser zu kümmern. Kaum angekommen, zieht diese bereits wieder weg, zurück nach Straubenzell bei St. Gallen, wo sie schon einmal wohnte. Im Juli 1916 stellt man von dort einen Antrag auf Auflösung der Familie, wie aus den Nesslauer Protokollen zu erfahren ist. Die Verhältnisse in Sachen Familie Looser-Boxler scheinen immer bedenklicher zu werden. Das Waisenamt Straubenzell verfügt Auflösung der Familie indem die Kinder wegen der Unsittlichkeit der Mutter gefährdet seien. 2 Kinder versorgt bei der Grossmutter Frau Bauer seien zu Handen zu nehmen, die Mutter Frau Looser-Boxler sei polizeilich einzuliefern. Gdrat. Bösch B. wird beauftragt die Sache zu prüfen u. an nächster Sitzung darüber zu rapportieren. Zwei Wochen später berichtet Gemeinderat Bösch, dass er die Familie gar nicht mehr gefunden habe, dass die Frau bereits nach Zürich ausgezogen sei. Offenbar ist Anna Maria mit einem Teil der Kinder ihrem Mann nachgereist, der in der Industriestadt Zürich Arbeit und an der Rössligasse eine neue Bleibe gefunden hat. Adolf Looser scheint von der drohenden Auflösung der Familie zu wissen und versucht die weitere Fremdplatzierung seiner Kinder zu verhindern. Nun stellt Looser wie früher schon wiederholt das Gesuch es müsste die Heimatgemeinde verfügen, dass die Familie beieinander bleiben könne. Die Nesslauer geben der Familie aus Kostengründen eine weitere Chance. Noch einmal wird dem Gesuch des Vater Looser entsprochen, wobei eben die Kostenfrage der Kinderversorgung das Schwergewicht bildet, notieren sie und verbinden die Zusage mit einer verstärkten Kontrolle durch die Armenbehörde.
Der Neustart in Zürich ist von kurzer Dauer. Anna Maria wird wegen Unterschlagung und Diebstahl polizeilich gesucht und im August 1916 in Zürich verhaftet. Man liefert sie nach St. Gallen aus. Im Gerichtsurteil kann der Enkel die neuen Straftaten seiner Grossmutter detailliert nachlesen.
Drei Jahre war es her, da hatte Anna Maria, wie früher schon erwähnt, sich eine Nähmaschine angeschafft, eine «Singer», auf Abzahlung, unter registriertem Eigentumsvorbehalt, wie dies in der Juristensprache heisst. Kaufpreis 240 Franken, monatliche Rate sechs Franken, nach gut drei Jahren Abzahlung hätte die Maschine ihr gehört. Die Rechnung ging leider nicht auf. Statt schönem Nebenverdienst und eigener Maschine stand Anna Maria das Wasser derart bis zum Hals, dass sie – Restschuld hin oder her – die Maschine in jenem Sommer verkaufte. Offenbar wurde sie auch dabei von jemandem verpfiffen. Der hiesige Vertreter der Singer Cie erhielt hievon Kenntnis und hat Strafklage gestellt, hält die Gerichtsakte fest.
Die zweite Unterschlagung ist ebenfalls ein nicht legaler Verkauf. Das Ehepaar Looser hatte von einem Bekannten zwei Betten, zwei Kasten und ein Tischchen ausgeliehen. Als sie sich nicht mehr anders zu helfen wussten, hat Anna Maria die Schränke und das Bett versetzt. Und bei der dritten Straftat geht es um den Diebstahl eines kupfernen Wasserschiffdeckels im Wert von zehn Franken. Den hat Anna Maria aus ihrer Mietwohnung entwendet und für zwei Franken dem Altwarenhändler Aschkenas verkauft. Sie hat sich damit eines Diebstahls schuldig gemacht, welcher als qualifizierter bezeichnet werden muss, da die Angeklagte als Mieterin zu dem Aufbewahrungsort des Diebstahlobjekts Zutritt hatte, notiert der Gerichtsschreiber dazu.
Anna Maria verteidigt sich vor Gericht wiederum selbst. Sie gibt sich zurückhaltend. Der Geschichte mit der verkauften Nähmaschine hat sie nichts beizufügen. Bei den verkauften Möbeln versucht sie es mit ein paar unbeholfenen Ausreden – einer der Kasten sei beim Umzug in die Brüche gegangen, und zudem habe sie diese inzwischen rechtmässig gekauft –, doch man glaubt ihr nicht. Auch den Diebstahl des kupfernen Deckels gibt sie fraglos zu. Sie hofft einzig auf mildernde Umstände: Die Angeklagte, deren Ehemann längere Zeit im ( freiwilligen) Militärdienst weilte, sucht die sämtlichen Begangenschaften mit ihrer Notlage zu entschuldigen. Um ihr Argument zu unterlegen, hat sie sich einen speziellen Auftritt ausgedacht: Sie hatte allerdings sechs Kinder bei sich. Ein starkes Stück. Insbesondere da sie vor dem Prozess in der Untersuchungshaft steckt und den kleinen Coup von dort aus organisieren muss. Offenbar sind alle gekommen. Maria, mit ihren zwölf Jahren die Älteste, dann Emma und Klara und die drei Brüder Adolf, Fritz und der zweijährige Hans. Zusammen mit ihnen stellt sie sich vor die Richter, eine verzweifelte Mutter Courage, und pocht auf etwas Milde. Ohne Erfolg. Denn es lautet die amtlich und privat über sie erteilte Auskunft äusserst schlecht.
Am meisten mag den Richtern aufgestossen sein, dass sich die sechsfache Mutter während der langen militärbedingten Abwesenheiten ihres Mannes einen neuen Liebhaber gesucht hat. Die wegen versuchter Fruchtabtreibung und wegen Gewerbsunzucht vorbestrafte Person hat die militärische Notunterstützung in Hauptsachen dazu verwendet, einen übel beleumdeten, ledigen Schlosser, Julius Müller, zu verhalten, mit dem sie in Abwesenheit ihres Mannes ein Liebesverhältnisse hatte. Julius Müller, ein Handwerker aus St. Gallen, war damals als ihr Zimmerherr in das Leben der Anna Maria Boxler gekommen. Offenbar hatte Anna Maria als Zusatzverdienst ein Bett in ihrer Wohnung ausgemietet, eine damals in ihrem Stand verbreitete Praxis. Dadurch hat sie den schlagfertigen jungen Mann kennengelernt, der ihr offenbar gefiel, er wurde ihr Geliebter und – Jahre später dann – ihr zweiter Ehemann. Die beiden haben ihre Liebschaft nie geleugnet. Ob Anna Maria aber so sorglos ihr Nothilfegeld mit ihm verprasste und die Kinder darben liess, wie die Richter ihr hier im Urteil unterschieben, verdient seine Zweifel. Auffällig ist jedenfalls, dass entsprechende Beweise entgegen der sonst üblichen Ausführlichkeit des Urteils fehlen.
Sie wird also für schuldig erklärt und zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Beim Eintritt in das Kantonale Strafgefängnis St. Jakob in St. Gallen trägt man sie unter der Stammnummer 3397 als Nachstickerin ein, während der Haft arbeitet sie als Näherin, ihr Verhalten sei angehend, hält das Kontrollblatt fest. Weiter stellt man bei der Inhaftierten eine Anämie fest. Diese Blutarmut als Folge von Vitamin- und Eisenmangel war in ihren Kreisen, vor allem bei den Frauen und Kindern, verbreitet. Zudem war Anna Maria bei Strafantritt im fünften Monat schwanger. Dieses Kind muss sie während ihrer Gefangenschaft verloren haben. Denn als sie Anfang Dezember entlassen wird, findet