Lisbeth Herger

Zwischen Sehnsucht und Schande


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mit den Stickereien immer schlechter laufen. In Sarajevo führt die Ermordung eines Thronfolgers erst zu einer nationalen Krise, dann zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. In der Folge ist es mit dem grossen Erfolg der Stickerei endgültig vorbei. Der Export stagniert, die Produktion schrumpft, es gibt massenhaft Entlassungen. Gleichzeitig lassen die Kriegsjahre die Lebensmittelpreise auf das Doppelte ansteigen. Und zu allem Unglück werden auch noch die Männer in die Armee abgezogen, bei einem Sold, der für drei Gläser Bier und ein Päckchen Zigaretten reicht.

      Auf den 3. August 1914 beschliesst der Bundesrat die allgemeine Mobilmachung. Auch Adolf, der wandernde Schifflisticker, wird einberufen. Nach Zürich. Er selbst ist vielleicht sogar froh, das häusliche Elend mit seinem Geschrei und Gestank und den immer genässten Betten einzutauschen mit dem rauen, aber strukturierten Soldatenalltag. Die achtzig Rappen Sold reichen zwar nicht weit, doch für die Familie gibt es zusätzlich etwas Nothilfe, und er hat immerhin zwei warme Mahlzeiten am Tag und ist befreit von der immer aussichtsloseren Arbeitssuche. Der Militärdienst ist für Männer wie Adolf eine fast schon attraktive Alternative. So ist denn auch nicht erstaunlich, dass er sich nach Dienstende sogleich für den Landsturm meldet. Freiwillig. Was es dafür braucht, kann der 41-Jährige in seiner strammen Uniform problemlos bieten, Schiesserfahrung hat er genug, und körperlich leistungsfähig ist er allemal. Das reicht, um für ein paar weitere Monate im nährenden Armeekorps mitzumarschieren.

      In dieser Zeit ist Anna Maria mit ihren Kindern fast ganz auf sich gestellt. Sie bekommt etwas Notunterstützung, ihr Nähen und Sticken bringt ein paar zusätzliche Rappen. Der Hunger ist gross, die Kinder zu klein, um mitzuverdienen. Da besinnt sich die nun Dreissigjährige auf eine letzte Möglichkeit, um doch noch zu einem Zustupf zu kommen. Eine Notlösung unter Frauen, bei Müttern nicht unbeliebt, da sie wenig flexibel sind in der Arbeitssuche. Sie entscheidet sich für die gelegentliche → Prostitution. Wie so viele andere Textilarbeiterinnen auch in jener Zeit.

      Wie sie ihre Freier findet, wohin oder bei wem sie ihre Kinder versorgt während ihrer Dienste und wie sie sich fühlt, wenn sie Kundschaft in ihrer Wohnung empfängt, sind offene Fragen, dem Luxus späterer Zeiten entsprungen. Sie verdient damit Geld, das ist es, was zählt. Zwei Franken. Zwei Franken fünfzig. Je nach Grossmut des Kunden. Dafür müsste sie zehn Herrenhemden nähen oder in der Fabrik Nadeln fädeln oder nachsticken, elf ganze Stunden lang. Und mit dem Geld auch nur eines einzigen Kunden lässt sich eine Menge Ware kaufen, sechs runde Kilolaibe Brot, zehn Liter Milch, vielleicht auch mal etwas Rindfleisch und ein Stückchen Schokolade.

      Wie oft es mit ihrem Zusatzverdienst als Prostituierte geklappt hat, bevor Anna Maria deswegen im Juli 1915 verhaftet wird und als Angeklagte betreffend gewerbsmässiger Unzucht vor der Gerichtskommission Tablat steht, ist nirgends protokolliert. Die Gerichtsakte verrät einzig, wie es zur Anzeige kam: Die Angeklagte hatte schon längere Zeit in Verdacht gestanden, dass sie sich gewerbsmässig der Unzucht hingebe. Als dann nach einer Mitteilung des Territorialchefarztes sich ein Soldat in einem näher bezeichneten Hause an der Goldbrunnenstrasse an Gonorrhoe (Syphilis) infiziert hatte, fiel der Verdacht wiederum auf die heutige Angeklagte, die dort ihre Wohnung hat. Anna Maria versucht während der Untersuchung zuerst, den Tatbestand zu leugnen, gibt dann aber in einem späteren Verhör zu, vor ca. 4 Monaten mit einer ihr unbekannten Mannsperson in ihrer jetzigen Wohnung Umgang gehabt und dafür 2 Frs. erhalten zu haben. Noch in zwei weiteren Fällen gesteht sie das eingeklagte Delikt widerstandslos ein. Sie steht alleine vor den Richtern Müller, Steger, Sennhauser und dem Gerichtsschreiber Dr. Schubiger, eine Angeklagte ohne Anwalt, dafür hat sie kein Geld. Und was sie zu ihrer Verteidigung zu sagen hat, ist schnell gesagt: Zu ihrer Rechtfertigung macht die Angeklagte geltend, dass sie in Not gewesen sei und sich in der eingeklagten Weise vergangen habe, um das nötige Geld zur Ernährung ihrer sechs kleinen Kinder aufzutreiben. Damit kommt sie bei den Herren Richtern allerdings nicht durch. Demgegenüber ist festgestellt, dass sie während der Abwesenheit ihres Ehemannes im Militärdienst Notunterstützung bezogen hat. Aufschlussreich ist, dass im Gerichtssaal keine konkreten Zahlen genannt, keine Berechnungen zu den Lebenshaltungskosten einer siebenköpfigen Familie gemacht werden. Man fragt auch nicht nach den Mietkosten und noch weniger nach den Beiträgen des Ehemannes in die Familienkasse. Es sind männliche Richterhände, die hier die Waage der Gerechtigkeit austarieren, und patriarchale Gesetze, die hier gebieten. Sie lassen den Männern mehr Freiheit und den Frauen mehr Schuld. Anna Maria wird nach vier Tagen Untersuchungshaft ohne Wenn und Aber verurteilt. Die Angeklagte ist der gewerbsmässigen Unzucht schuldig erklärt und zu 14 Tagen Gefängnis verurteilt.

      Das Urteil ist bitter. Erstmals in ihrem Leben verliert Anna Maria ihr Grundrecht der persönlichen Freiheit. Sie wird zur Übernahme von für sie unbezahlbaren Summen von Gerichtsgebühren und Untersuchungskosten verdonnert, zusätzlich zu den 34.20 Franken Verpflegungskosten für sie selbst während ihrer Haft. So kostspielig hat sie zu Hause wohl nie gewohnt und gegessen. Der eine Freier aber, der erkrankte Soldat, der sie vor den Richter brachte, dessen Identität also mit Sicherheit bekannt war und der sich gemäss Gesetz wegen ausserehelichem Sex ebenfalls strafbar machte, wurde gerichtlich nicht einmal vorgeladen.

      Diese zweite Verurteilung im Leben der Anna Maria Boxler unterscheidet sich in einem wichtigen Punkt von der vorherigen, jener zur versuchten Abtreibung vier Jahre zuvor. Diesmal kann sich Anna Maria nicht mehr auf ihr ordentliches Bemühen um Wohlanständigkeit berufen, es gibt kein paternalistisches Wohlwollen mehr, das strafmildernd wirkt. Diesmal läuft es umgekehrt. Straferschwerend wirkt dabei der Umstand, dass sie verheiratet ist und damit durch ihre Verfehlung das ohnehin nicht glückliche Familienleben noch mehr getrübt hat. Offenbar hat Anna Maria mit ihrem Schritt zur Gelegenheitsprostitution eine unsichtbare Schranke überschritten. Sie hat die bürgerlichen Werte von Anstand und Treue aufgekündigt und damit nicht nur ihre Freiheit, sondern auch ihren guten Ruf aufs Spiel gesetzt. Beides sind folgenschwere Verluste, wie sie bald einmal merken wird.

      Nun beginnen die Behörden sich für die Kinder der Anna Maria zu interessieren, genauer für deren richtige Erziehung. Was das für sie und die Familie zu bedeuten hatte, wird in den nächsten Kapiteln genauer zu zeigen sein. Hier sei vorerst festgehalten, dass sich der Ton verändert, wenn künftig die Behörden über das Geschick von Anna Maria verhandeln, dass der Zeigefinger mitredet und sich Moral einschreibt in die Sätze der amtlichen Protokolle. Man liest nun in den Gemeindeakten plötzlich von Anna Marias bekanntem rechthaberischen Tone, und bei der Auflistung eingegangener Rechnungen hält man in Nesslau unmissverständlich fest, wie sehr doch diese Familie die Armenkasse belaste, und zwar zufolge des Lasterlebens der Eltern. Die Fokussierung auf die individuelle Schuld lässt keine mildernden Bezüge mehr als Erklärung zu, weder auf die Wirtschaftskrise noch auf die wachsende Kinderschar und auch nicht auf den Krieg und seine Folgen. Diese Verschiebung in der Beurteilung der Schuldfrage ist von grundlegender Bedeutung. Denn so können die Behörden neue Massnahmen einleiten im Kampf gegen die Mittelosigkeit von Familien wie den Loosers, die in gefrässiger Armut kommunale Gelder verschlingen.

      Auch Adolf hat seinen guten Ruf bekanntlich längst verwirkt. Obwohl, so entdeckt der forschende Enkel eines Tages beim Entziffern eines Nesslauer Protokolleintrags, da sind offenbar nicht alle behördlichen Instanzen gleicher Meinung. Sitzung vom 30. September 1913: Nachdem wir unterm 10. September an das Departement des Innern eine Vernehmlassung in Sachen Adolf Looser-Boxler Schifflisticker Heiligkreuz abgehen liessen, gelangt das Departement neuerdings in dieser Frage an die Gemeinde. – Looser scheint ein soliderer, pflichtbewussterer Mann als von uns geschildert, zu sein, er dokumentiert dies durch eingelegte Zeugnisse. Als der Nachfahre diese Passage liest, leicht unterkühlt von der Kellerkälte des Nesslauer Archivs, durchfährt ihn ein Funken wärmender Freude. Es hat etwas Tröstliches zu erfahren, dass der Mann, der sein Grossvater war, doch nicht ganz so durchgängig als Versager gezeichnet wurde, wie zu befürchten gewesen war. Offenbar gab es auch Menschen um ihn, die ihm Redlichkeit und Fleiss attestierten. Auch wenn diese die heimatlichen Behörden mit ihrer Meinung nicht zu überzeugen vermochten. Der Gemeinderat beschliesst auf seinem Standpunkt zu beharren, indem die Zeugnisse nicht vermögen anders zu belehren.

      Der Ton in den Nesslauer Protokollen hat sich definitiv verhärtet. Der Enkel findet nun vermehrt knappe Rapporte, die die Elendsgeschichten in blutleere Fakten abpacken. Familie Looser-Boxler Adolf, Sticker, Goldbrunnenstr. 45 St. Fiden. Die Verhältnisse