Maria kehrt nicht mehr zu ihrem Mann zurück. Ihre erneute Verhaftung und wohl auch die Liebschaft mit Julius haben das Ehepaar endgültig auseinandergebracht. Adolf, der in Zürich geblieben ist und bei Hefti und Co. Arbeit als Schlosser gefunden hat, hat erst noch auf Versöhnung gehofft, doch dann gibt er es auf, schreibt nicht weiter Gesuche mit der Bitte, die Familie zusammen zu belassen. Er hat genug: Zu wiederholten Malen beklagt sich Adolf Looser-Boxler über das Verhalten seiner aus der Strafanstalt St. Gallen entlassenen Frau. Durch das Gemeindeamt wurde bereits Einlieferungsbegehren gestellt u. es ist nun abzuwarten was in Sachen geschieht, notiert man in seinem Bürgerort.
Wo Anna Maria, die nun getrennt von ihrem Ehemann Lebende, sich in den nächsten Monaten aufhält, ist nicht eindeutig festzulegen. Für einmal widersprechen sich die Quellen. Folgt man den Nesslauer Protokollen, führt das erwähnte Einlieferungsbegehren zu einer zwischenzeitlichen Versorgung der Strafentlassenen, vermutlich in der gemeindeeigenen Armenanstalt. Im Niederlassungsbuch der Stadt St. Gallen jedoch wird sie als von Zürich kommende Zuzügerin eingetragen, die bis Mitte August in Untermiete bei einer Frau Seraphia B. lebt und dann mit unbekanntem Zielort, also eventuell Nesslau, abgeschoben wird. Und in der dritten Variante, die der Enkel in einem der Gerichtsurteile findet, heisst es, sie habe sich direkt in St. Gallen bei der verwitweten Wäscherin Seraphia B. als Untermieterin eingeschrieben und sei dort ein Dreivierteljahr geblieben. Für die drei Monate danach allerdings finden sich auch hier keine Angaben. Anna Maria hat den festen Tritt verloren und die Behörden ihre genaue Spur. Bis sie dann am Nikolaustag 1917 erneut verhaftet wird.
Nach zwei Monaten Untersuchungshaft – die Ermittlungen haben offenbar gedauert – ist dann Gerichtstag. Wieder beim St. Galler Bezirksgericht. Man kennt sich. Einzig Herr Dr. Bärlocher ist neu unter den schwarzen Roben. Und sie, Anna Maria, steht diesmal nicht allein, sondern in einer ganzen Reihe von Mitangeklagten vor den Richtern.
Im Fokus der Anklage steht wiederum → Abtreibung. Die in den Fall verwickelten sechs Angeklagten sind mehr oder weniger Habenichtse, ihr Hilf-dir-selbst-Versuch im Kampf gegen Fruchtbarkeit ist ein Trauerspiel in bester Armeleute-Besetzung. Da ist der Handelsreisende Peter H., der wegen vollendeter Abtreibung und Gehilfenschaft bereits früher zwanzig Monate Zuchthaus abgesessen hat und es noch immer nicht lassen kann, Frauen in Not bei Bedarf mit Haselwurzpillen und Scheidenspülungen behilflich zu sein und dabei auch ein bisschen zu verdienen; da ist die Rosa Sch., die Wirtin vom «Schöntal» an der Schwertgasse, die als Vermittlerin zwischen dem Engelmacher Peter H. und den Frauen gewirkt haben soll und sich wegen fortgesetzter Gehilfenschaft zur versuchten & vollendeten Fruchtabtreibung zu verantworten hat; weiter stünde da Taglöhner Eduard T., der wegen fortgesetzter einfacher Unzucht ( → Unzucht) angeklagt ist, vor den Richtern, denn schliesslich hat er mit ausserehelichem Geschlechtsverkehr eine 25-jährige Kellnerin geschwängert; der jedoch ist längst über alle Berge, über ihn wird in Abwesenheit verhandelt. Und schliesslich steht vor Gericht die uns schon bekannte Zimmerwirtin Seraphia B., die gewusst haben soll, dass ihre Untermieterin Anna Maria Boxler regelmässig Besuch empfängt von ihrem Geliebten. Sie als Vermieterin wird der fortgesetzten einfachen Kuppelei verdächtigt, weil sie solch ungesetzliches Tun unter ihrem Dach wissentlich duldete. Ein Vergehen, das man ihr übrigens fraglos zutraut, es wäre nicht das erste Mal, wie die Richter wissen.
Und schliesslich stehen als Hauptangeklagte zwei abtreibende Frauen vor Gericht. Die eine heisst Helene J. aus La Chaux-de-Fonds, eine ledige Dienstmagd, die früher als Kellnerin bei der Schöntal-Wirtin arbeitete, dort den Hausierer H. kennenlernte und sich von ihm Pillen geben liess, um ihre ungewollte Schwangerschaft – die Folge einer Liebschaft mit dem Taglöhner Eduard T. – abzubrechen. Und die zweite Angeklagte ist die sechsfache Mutter Anna Maria Looser-Boxler, die sich ebenfalls von diesem Hochstrasser hat helfen lassen – und diesmal, nicht wie sieben Jahre zuvor, sogar Erfolg hatte in ihrem Bemühen.
Die Angeklagte Anna Maria gibt gleich alles zu, erzählt, dass sie im September vorigen Jahres im 3. Monat schwanger war, dass sie von ihrem Geliebten Müller erfahren habe, dass Hausierer H. in solchen Fällen zu helfen wisse, dass sie diesen im Restaurant Schöntal getroffen und sich von ihm Haselwurzpillen geben lassen habe, dass diese nicht geholfen hätten und er sie dann in seine Wohnung kommen liess und mit einer Scheideneinspritzung den Abort auszulösen vermochte. Anna Maria hat aus ihrer früheren Erfahrung gelernt: keine Ausreden mehr, ein klares Eingeständnis ohne Wenn und Aber. Nicht so ihr Helfer. Dieser versucht sich herauszureden, provoziert damit allerdings bloss die Verlängerung der demütigenden Befragung. Es werden Details ans Licht gezerrt, die für Anna Maria beschämend sein müssen. Dass das Blut bereits aus der Scheide geflossen sei vor Einsetzen der Manipulation, behauptet ihr Gehilfe, allerdings ohne ihn entlastenden Erfolg. Die Recht sprechenden Männer scheinen sich in der Sache auszukennen und wissen, selbst wenn die Frucht sich bereits vorher losgelöst habe, könne ja die Ablösung der Frucht sehr wohl die Folge des Einnehmens der ebenfalls von Peter H. gelieferten Haselwurzpillen sein. Zudem sei die Vornahme der Einspritzung als vollendet anzusehen. […]
Kurz, Peter H. bleibt glücklos mit seinen Ausreden. Und obwohl ihm nur Beihilfe in zwei Fällen nachgewiesen werden kann und er von keiner der beiden Frauen je Geld bekommen hat, wie er behauptet, wird er der fortgesetzten Gehilfenschaft zur versuchten Fruchtabtreibung sowie der vollendeten Fruchtabtreibung i. Rückfall schuldig erklärt und mit acht Monaten Arbeitshaus bestraft. Eine harte Strafe, härter noch als die, die die beiden Abtreiberinnen verpasst bekommen.
Helene, die Kellnerin, 26-jährig – inzwischen hochschwanger, weil die Abtreibung misslang –, vorgängig bereits verurteilt wegen fortgesetzter einfacher Unzucht, also wegen jenem Sexualverkehr, der zu dieser Schwangerschaft führte, wird ebenfalls schuldig gesprochen. Auch sie hat zugegeben, einen Teil der 24 Pillen geschluckt zu haben, bevor sie wegen starken Bauchschmerzen und Ängsten vor Gesundheitsschäden damit wieder aufgehört hat. Ihre Strafe beträgt hundert Franken Busse und ein paar Franken noch dazu, weil sie dem Prozess unentschuldigt ferngeblieben ist. Für die möglichen Gründe ihres Fernbleibens interessiert sich keiner. Dafür, dass sie mit ihrem Kind im Bauch längst heimgekehrt ist nach La Chaux-de-Fonds oder dass die Reise nach St. Gallen sie zwei Arbeitstage, eine Übernachtung und das Reisegeld, kurz ein kleines Vermögen, gekostet hätte. Und zudem ist sie jetzt im neunten Monat schwanger. Gut möglich, dass sie, während die Richter den Stab über sie brechen, just in den Wehen liegt.
Schuldig gesprochen wird auch Anna Marias Zimmerwirtin Seraphia B. Die Duldung eines illegalen Liebesverhältnisses unter ihrem Dach scheint erwiesen und wird ihr als Kuppelei angelastet. Zur Sicherung der Beweislage hat die Polizei vorgängig ihre Wohnung inspiziert. Eine polizeiliche Selbstverständlichkeit in der damaligen Zeit mit Konkubinatsverbot und rigidem Sexualstrafrecht. Um in das Zimmer der Looser zu gelangen, musste das von Frau B. bewohnte Zimmer passiert werden, was kaum unbemerkt geschehen konnte, argumentieren die Richter. Weiter kommt für diese belastend hinzu, dass die Looser und Müller übereinstimmend und unabhängig von einander deponiert haben, dass Müller während der erwähnten Zeit öfters und mit Wissen der Vermieterin bei der Looser genächtigt habe. Seraphia B. bestreitet ihre Schuld. Ohne Erfolg. Im Gegenteil. Die Richter wittern gar gewerbsmässige Kuppelei, sehen sie als Bordellbetreiberin. Allerdings können sie die vermuteten ökonomischen Vorteile der Seraphia B. aus ihrer Duldung nicht nachweisen. Seraphia B. kommt mit dreissig Franken Geldbusse davon.
Auch Anna Maria Boxler wird – wie zu erwarten war – gemäss Anklage verurteilt: Die Angeklagte Looser wird der versuchten und der vollendeten Fruchtabtreibung im Rückfall sowie der fortgesetzten einfachen Unzucht im Rückfall schuldig erklärt und zu vier Monaten Arbeitshaus verurteilt. In ihrem Fall ist für das Verfahren selbstredend, was straferschwerend noch alles mit aufgeführt wird, nämlich ihre sämtlichen Vorstrafen: Gravierend ist eine rückfallbegründende Vorstrafe, wegen Fruchtabtreibungsversuch, vom Jahr 1911; zwei weitere Vorstrafen, wegen Gewerbsunzucht und wegen fortgesetzter Unterschlagung & Diebstahl. Zudem missfällt den Richtern die Autonomie, die sich im Nein von Anna Maria zu einem weiteren Kind verbirgt. Endlich ist zu sagen, dass es durchaus keiner Überredung oder sonstigen ernstlichen Beeinflussung bedurft hat, um die Looser zu ihrem Ersuchen an H. zu veranlassen; insbesondere ist nicht erhoben, dass der Liebhaber der Looser, Julius Müller, in diesem Sinne auf sie eingewirkt