war beim Gossauer Bezirksgerichts ausser Zweifel: Der Untersuch hat in rechtsgenüglicher Weise erbracht, dass Beklagter durch Spiel und Trunksucht, sowie durch übermässige Vereinsmeierei einen über seine Verhältnisse gehenden Aufwand getrieben, seinen Beruf vernachlässigt und so seinen ökonomischen Zerfall verursacht hat. […] Der Beklagte ist des leichtsinnigen Schuldenmachens schuldig erklärt und wird hiewegen mit 6 Tagen Gefängnis bestraft. Zudem soll Adolf die gesamten Verfahrenskosten von 56.10 Franken berappen, das sind mehr als zehn Tagessätze für den Sticker. Auch der kleine pikante Nachsatz am Schluss des Urteils will noch zitiert sein. Der Verurteilte wird nämlich zusätzlich mit 2 Jahren Einstellungen in den bürgerlichen Ehren & Rechten bestraft. Adolf verliert also wegen seiner Verschuldung von gut hundert Franken – das Doppelte der Verfahrenskosten – nicht nur seine Ehre, sondern auch noch seine politischen Rechte.
4 Nichts geht mehr
Die nächsten Jahre im Leben der Anna Maria Boxler sind Jahre der zunehmenden Verelendung. Der Hunger sass meist mit am Tisch, und wohl auch eine wachsende Verzweiflung. Das Nesslauer Gemeinderatsprotokoll erweist sich als zuverlässige Chronik der dramatischen Entwicklungen. Natürlich hat man im Bürgerort des Adolf Looser von der Verurteilung des Schifflistickers erfahren. Ein entsprechender Bericht wird im Rat vorgelesen und zu Protokoll genommen. Zudem hat seine Haftstrafe für die Gemeinde finanzielle Konsequenzen. Sie muss die Verpflegungskosten der Familie während der Inhaftierung des Looser vom 7.–14. März übernehmen, wie der Gemeindeschreiber protokolliert. Überhaupt beginnen sich in Nesslau die Protokolleinträge unter dem Vermerk Unterstützung von Looser-Boxler im Jahr 1911 zu mehren. Die Familie selbst ist inzwischen ins Rheintal, nach Rebstein, umgezogen. Von dort kommen vermehrt Zahlungsforderungen der Wohngemeinde, aber auch Bittschreiben von Anna Maria, zum Beispiel um Gutsprachen für Hauszinse, oder dann Rechnungen wie diejenige der Hebamme Karoline Keel-Rüst, die ihren Lohn bezahlt bekommen will. Schliesslich war sie es, die dem widerständigen Fritz, der seinerseits der «Sorgenlos»-Kur standhaft getrotzt hatte, im August als gesundes Baby in die Rheintaler Welt hineinhalf.
Nesslau bezahlt. Widerwillig. Nur dann, wenn es nicht anders geht. Die kleine Gemeinde gerät mit der Zunahme armengenössiger Bürger selbst in wirtschaftliche Bedrängnis. In der kleinen Toggenburger Gemeinde finden sich keine gut genährten Fabrikanten mit entsprechendem Steuerobolus, hier leben vorwiegend arme Bauern, Heimsticker und Weber, die alle ums Überleben kämpfen. Die Gemeindekasse ist entsprechend leer. Jede Rechnung wird genau geprüft und wenn immer möglich zurück an den Absender retourniert. Sitzung vom 28. November 1912: Rechnung der Armenpflege Rebstein betr. Familie Looser-Boxler, 293. In der Sitzung vom 29. Oktober wurde für Pflegekosten der Familie Looser-Boxler in Rebstein von der dortigen Armenpflege drei Rechnungen im Betrage von frs. 44.73 zur Zahlung unterbreitet. Deren Zahlung wurde unsererseits verweigert. – Der Gemeinderat von Rebstein stellt neuerdings Rechnung mit frs. 19.99 (in 2 Rechnungen) mit der Begründung es seien die Anmeldungen seinerzeit erfolgt. Diese Rechnungen werden unsererseits anerkannt und beglichen.
Für Schifflisticker Adolf nimmt ein unstetes Leben seinen Fortgang. Mit der Arbeit scheint es nirgends wirklich zu klappen. Looser-Boxler treibt sich laut eingegangenen Berichten von einer Stelle auf die andere. Gegenwärtig soll er in Donzhausen bei Sulgen als Stickermeister angestellt sein, berichtet man in Nesslau. Sein guter Ruf gerät zunehmend ins Wanken. Mindestens bei einem der denunziatorischen Briefe schreibt die Verfasserin nicht zum ersten Mal an die Heimatbehörde: Sitzung vom 25. Februar 1913: Looser-Boxler, Donzhausen 490. Ueber den Lebenswandel des Looser-Boxler, Schifflisticker in Heiden beschwert sich dessen Schwiegermutter Frau Bauer, Goliatgasse St. Gallen. Der Brief selbst ist nicht erhalten. Jedoch zeigen die Nesslauer Protokolle, dass Anna Maria als Ehefrau nicht in die Anwürfe ihrer Mutter einstimmt, sondern sich ihrem Mann gegenüber loyal zeigt. Da weitere Beschwerden seitens der Familie nicht eingegangen sind, werden vorläufig keine Massnahmen getroffen.
Der Sticker Adolf, einst wohl mit jugendlichem Schwung an seinem Pantographen in die Berufswelt gestartet, inzwischen 37 Jahre alt, möglicherweise bereits geplagt von Gicht an den Händen und entsprechend ungeschickt, wird mehr und mehr zu einem Wanderarbeiter. Und seine Frau Anna Maria, die flinke Nachstickerin, zieht, wie es von ihr erwartet wird, mit ihren fünf Kindern hinter ihm her. Kaum hat sie, ihrem Mann folgend, in Heiden eine Bleibe gefunden, ist dieser bereits wieder woanders in Stellung. Und wo immer sie auch sind, nirgends reicht das Geld. In den Nesslauer Protokollen liest man von diesen aufreibenden Wanderbewegungen in behördlicher Kurzform: Sitzung vom 25. März 1913, S. 295: 556, Unterstützung Looser-Boxler, Heiden. In Sachen Looser-Boxler teilt die Gemeinderatskanzlei Heiden mit, dass eine Notunterstützung erfolgen musste von frs. 15.–. Der in Donzhausen in Arbeit getretene Looser-Boxler erklärt sich bereit, seine Familie nach Donzhausen zu nehmen und die von der Gemeinderatskanzlei vorgestreckten frs 15.– dieser sofort wieder zurückzubezahlen.
Das armutsbedingte Nomadentum der siebenköpfigen Familie lässt sich nur schwer vorstellen. An Möbeln und sonstigen Gütern gibt es kaum etwas zu zügeln. Die kleine Habe besteht vermutlich aus einem oder zwei Reisekörben, in die man ein paar Tücher und brauchbare Lumpen stopft, dazu das Bündel Besteck und das bisschen Geschirr, die zerkratzten Aluminiumteller und -becher, dann den Sonntagsrock und für den Mann die zweite Hose, die er sich damals, für den Gang vors Gericht, angeschafft hat. Ein oder zwei Pfannen kommen dazu, dann das Schreib- und das Nähzeug, die paar Kerzen, die man noch übrig hat, und natürlich der abgegriffene und mit Urinsäure patinierte Nachttopf, der helfen soll, die ewigen Bettnässer in der ständig wachsenden Kinderschar doch noch trocken zu kriegen. Es fehlen Hinweise, die verraten würden, wie diese Umzüge von Anna Maria und ihren Kindern – die beiden Ältesten gehen bereits zur Schule – erlebt werden. Ein «lustiges Zigeunerleben» jedenfalls, wie das Nomadenleben im beliebten Volkslied so schön besungen wird, war dieses ständige Packen und Ankommen nicht. Zumal das neue Zuhause meist ebenso düster oder gar noch enger war, mit Wanzen und Läusen in den Ritzen und verschmutzten Etagenklos, manchmal auch ohne Licht und Elektrizität und ohne fliessendes Wasser in der Küche. Wer aber, wie der forschende Enkel, all diese gehetzten Umzüge der Familie nachverfolgt, indem er den vielen Wohngemeinden hinterher reist oder nachfragt nach den Niederlassungsbüchern, riskiert, dass etwas von der Trostlosigkeit aus den schweren Folianten in die eigene Gegenwart drückt. Davor vermag auch die dicke Haut eines abgebrühten Historikers nicht zu schützen.
Die grösste Hektik verzeichnen die Einträge zwischen 1913 und 1915. In zweieinhalb Jahren zog die Familie von Rebstein nach Heiden, dann nach Donzhausen, nach Tablat, nach St. Gallen und wieder zurück nach Tablat und wieder nach St. Gallen und schliesslich nach Arbon. Zehnmal sind sie in diesen achtzehn Monaten umgezogen – meist mit dem Handwagen, die trippelnden Kinder hinterher –, von der Heiligkreuz- über die Lukas- an die Bruggwaldstrasse, dann weiter in die Langgasse, die Notker-, die Goldbrunnenstrasse. Alles im dicht bewohnten, ärmlichen Arbeiterquartier. An der Bruggwaldstrasse blieben sie nur zwanzig Tage, an der Notkerstrasse immerhin vier Monate, das hatte seinen guten Grund, denn sechs Wochen nach ihrer Ankunft kam eine Niederkunft. Anna Maria gebar am 28. Juni 1914, also kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, ihr sechstes Kind. Noch einen Sohn. Sie nannten ihn Hans.
Anna Maria hat mit ihrer Kinderschar wenige Möglichkeiten, zum Familieneinkommen beizutragen. Sie versucht es mit Nachsticken, wie sie in der Einvernahme im Verschuldungsprozess hervorhebt. Doch viel war damit nicht zu holen. Die Stickerei war generell schlecht entlohnt, bei den Frauen erst recht, sie verdienten bis zu siebzig Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Und bei der Heimarbeit war die Bilanz noch miserabler. Später dann versuchte sie es mit Nähen. Am 18. November 1913 kaufte sie eine Nähmaschine auf Abzahlung und unter registriertem Eigentumsvorbehalt. Dieser Schritt ist so präzise zu datieren, weil die geleaste Maschine später in einem Gerichtsverfahren als corpus delicti eine Rolle spielen wird. Vorerst aber kann Anna Maria mit ihrer «Singer» einen neuen Erwerbszweig versuchen. Sie näht in ihrem engen Zuhause in Heimarbeit, inmitten der quengelnden Kinder, zwischen Waschen und Kochen und Trösten und Schimpfen, vermutlich mehr abends und nachts als am Tag und gewiss bei schlechtem Licht. Vielleicht hat sie Herrenhemden genäht. Da verdient sie pro gefertigtes Stück um die zwanzig Rappen. Damit kann sie gerade mal einen knappen Liter Milch oder ein halbes Kilo Brot kaufen.