zu kämpfen hat. Sie wissen aber noch sehr viel mehr. Zum Beispiel, dass Anna Maria am 6. November vorigen Jahres anlässlich des Umzugs der Familie Looser von der Haldenstrasse nach Mettendorf die Periode sehr stark hatte und dass diese danach ausfiel. Dass sie später an die Möglichkeit einer Schwangerschaft dachte, dass sie ein Inserat im «Stadtanzeiger» las, welches das Mittel «Sorgenlos» gegen das Ausbleiben bestimmter Vorgänge anpries und sie sich vornahm, damit einen Versuch zu machen. Dass sie dann an die erwähnte Adresse schrieb und per Nachnahme ein Schächtelchen bekam, das ein hellbraunes Pulver, ähnlich dem Brustpulver enthielt. Und weiter, dass sie dann während 2–3 Tagen das Pulver eingenommen hat, was aber keine Wirkung zeigte. Die Herren wissen auch vom Prospekt mit den Empfehlungen, der dem Pulver beilag, und vom Begleitbrief, der dazu aufrief, bei fehlender Wirkung dem Absender davon zu berichten. Anna Maria tat dies und reklamierte, worauf sie in der Woche vor Neujahr 1911 ein ziemlich umfangreiches Paket unter Nachnahme von fr. 6.– erhielt. Darin fand sie eine ziemlich grosse Flasche mit einer Flüssigkeit. Dies sind die vordergründigen Tatbestände, wie sie im Gerichtsurteil festgehalten sind. Anna Maria Boxler wusste natürlich, dass → Abtreibung verboten war und mit kräftigen Geld- und Zuchthausstrafen geahndet wurde. Was damals aber für fast alle Frauen galt, galt auch für sie. Sie hatte gar keine andere Wahl, Geburtenkontrolle hiess zwangsläufig abtreiben. Wohl gab es bereits erste, aus Tierdärmen gefertigte Kondome, doch die waren zu teuer und wurden den Frauen von den Gynäkologen auch gar nicht abgegeben. Sich den Männern zu verweigern, war auch keine Lösung und verstiess zudem gegen die eheliche Pflicht. So blieb ihnen für den akuten Notfall nur der nicht ungefährliche Selbstversuch mit zweifelhaften Mittelchen. Oder dann der heimliche Gang zu den Engelmachern, in den ungeschützten Raum dubioser Hinterzimmer mit nur zu oft ebenso dubiosen Helfern, ein Weg voller Risiken, manchmal gar lebensgefährlich und allemal aufwendig und teuer, seelisch genauso wie monetär. Ein illegaler Abbruch kostete die Schwangere zwei bis vier Wochenlöhne, und wurde sie ertappt, drohten Geldstrafen und Gefängnis. Anna Maria hatte mit ihrer Bestellung des Mittelchens «Sorgenlos» auf eine billige und gesundheitlich nicht allzu riskante Art gesetzt, als sie sich entschied, ihre fünfte Mutterschaft zu verhindern. Sie hatte dabei doppeltes Pech. Das Mittel wirkte nicht, und zu ihrem Unglück hat sie auch noch jemand denunziert.
Jetzt, als Angeklagte vor den Herren Richtern stehend, gilt es, Strategien zu entwickeln, um aus dem Schlamassel möglichst glimpflich davonzukommen. Sie versucht es mit angeblicher Unwissenheit. Die Beklagte behauptete anfänglich im Untersuche, sie habe das 1. Mittel zu sich genommen, um den Wiedereintritt der Periode zu bewirken, indem sie noch nicht an die Möglichkeit einer Schwangerschaft gedacht habe. Sie habe viel unter Periodenstörungen zu leiden. Diese Ausrede verfängt nicht beim hohen Gericht. Vermutlich kennen die Herren die Argumente der in dieser Sache angeklagten Frauen nur zu gut, schliesslich gibt es ständig solche Verfahren. Es muss für die Juristen ein Leichtes gewesen sein, die wohl oft hilflosen Ausreden der meist ungebildeten Frauen, die zudem ohne rechtlichen Beistand vor ihnen standen, zu zerpflücken und als Notlüge zu entlarven.
Erschwerend im Falle der Anna Maria kommt hinzu, dass es Zeuginnen gibt. Zwei davon werden im Untersuchungsbericht erwähnt. Die eine, Frau Schmitter, hat zu Protokoll gegeben, dass Anna Maria ihr im März von dem Mittelchen und seiner positiven Wirkung erzählt und behauptet habe, sie sei nun von ihrer Schwangerschaft befreit. Und die zweite, ihre ehemalige Vermieterin, Frau Federer-Krucker, hat bei den Herren ebenfalls deponiert, dass ihre Mieterin ihr erzählt habe, sie sei in andern Umständen, wolle kein Kind mehr & werde es nun probieren, ob bei Anwendung des Pulvers die Frucht von ihr gehe. Wie die beiden Zeuginnen den Weg zu den Richtern gefunden haben, ob sie freiwillig oder unter Druck – und, wenn ja, von wem – gegen ihre Geschlechtsgenossin ausgesagt haben, weiss man nicht. Fest steht nur, dass Anna Maria verraten wurde, denn wie sonst wäre es bei der inzwischen Hochschwangeren zur Anklage gekommen, da der Abbruch ja offensichtlich nicht geklappt hat? Ihre frühere Hauswirtin kommt als Denunziantin weniger infrage. Sie scheint keine Gegnerin der Abtreibung gewesen zu sein, denn sie hat den hohen Richtern freimütig erzählt, dass sie selbst auch schon genug Kinder habe und dass sie deshalb ihre Mieterin, die ihr vom Mittel angeboten habe, gefragt habe, ob das Pulver auch gut zu nehmen sei, was die Beklagte verneint habe.
Zurück zu den Strategien der Angeklagten, die versucht, die Herren Richter zur Milde zu bewegen. Die zweite Karte, die sie ausspielt, ist ebenso wenig erfolgreich. Anna Maria gibt nun zwar zu, dass sie bei Bestellung des Mittels an Schwangerschaft gedacht habe, schränkt aber ein, sie habe […] gemeint, wenn diese allfällig infolge des Mittels abgehe, so begehe sie mit der Anwendung desselben kein Verbrechen, da ja noch kein lebendes Wesen in Frage stehe. Aber Unwissenheit schützt vor Strafe nicht, das gilt heute und galt damals, wie der Richtspruch bestätigt: Der Umstand, dass die Beklagte an ein Verbrechen nicht gedacht haben will, ist ebenfalls irrelevant, indem nach ART. 27. S.G.B. Nichtkenntnis des Gesetzes bezw. der Strafbarkeit der Handlungsweise keine Entschuldigung für die letztere bildet. Einzig in einem Punkt gelingt es der Angeklagten, die Richter von ihrer Unschuld zu überzeugen. Sie bestreitet, auch noch den Inhalt der zweiten Lieferung, die erwähnte Flasche mit Flüssigkeit, ausprobiert zu haben, sondern behauptet, sie habe sie sofort in den Abort geleert. Das klingt nicht unbedingt überzeugend. Schliesslich möchte Anna Maria ja abtreiben, hat deshalb in Zürich reklamiert und den Preis von sechs Franken für die neue Lieferung bezahlt. Das ist kein Pappenstiel für eine junge Textilarbeiterin, sondern das sind drei volle Taglöhne. Was sich also eher unglaubwürdig anhört, wird von den Richtern, vermutlich mangels Gegenbeweisen, akzeptiert: Anhaltspunkte dafür, dass diese Angabe unrichtig wäre, liegen nicht vor. Auch Anna Marias unversehrter Ruf spielt, wie die Urteilsbegründung noch zeigen wird, eine Rolle, dass man ihr so bereitwillig glaubt. Aber natürlich macht es den ersten Versuch, den mit dem Pülverchen, nicht ungeschehen, der Strafbestand bleibt, und der Richtspruch der Herren ist eindeutig: Die Beklagte ist des Fruchtabtreibungsversuches schuldig erklärt & wird mit fr. 100.– gestraft. Immerhin wird der Hochschwangeren statt der sonst üblichen Strafe mit Arbeitshaus oder Zuchthaus ein bedingter Straferlass zugebilligt. Gründe dafür sind einerseits ihrer akuten Notlage, da sie als Mutter von 4 Kindern in bedrängten ökonomischen Verhältnissen lebt, ferner der geringe Grad von Böswilligkeit, der Mangel einer Schädigung, der Mangel an Vorstrafen, sowie der Umstand, dass die Beklagte ihre Versuchshandlung freiwillig auf das erstmals zugesandte Mittel beschränkt hat. Und noch ein weiterer Grund wird ihr zugutegehalten und zur Strafmilderung angeführt, und zwar ihre angebliche Passivität in der ganzen Sache, dass nämlich die Beklagte durch eine, leider straffreie Anpreisung in der Presse & weniger aus eigener Initiative zur Anwendung des kritischen Mittels gekommen ist. Dass Anna Maria vor allem das Opfer geschickter Werbung sein soll, deutet der Enkel, wie er seine Grossmutter inzwischen kennengelernt hat, vor allem als paternalistische Überheblichkeit. Oder aber Anna Maria hat gezielt das von der Presse verführte Opfer gemimt, um mit geringerer Strafe wegzukommen.
Wie auch immer, Anna Maria Boxler kommt mit einer bedingten Verurteilung und Verfahrenskosten von 63.40 Franken davon. Wie sie als Ehefrau eines verschuldeten Mannes diese Kosten abzahlen soll, kümmert die St. Galler Richter nicht weiter. Vielleicht hat man den Betrag wegen Zahlungsunfähigkeit direkt bei den Nesslauern eingefordert, oder Anna Maria und Adolf haben tatsächlich bezahlt, mehr als drei Wochenlöhne des Schifflistickers, und sich andernorts noch etwas mehr verschuldet.
Jedenfalls geht es nur wenige Monate, da flattert schon die nächste Vorladung ins Haus. Diesmal gilt die Einladung Adolf, dem Oberhaupt der Familie, er wird wegen leichtsinnigem Schuldenmachen auf die Anklagebank geholt.
Das Gerichtsurteil vom 29. Dezember 1911 liest sich in den ersten Passagen wie der Einstieg in eine literarische Dorfnovelle. Da wird beschrieben, wie der Lebensmittelhändler Ernst Traber dem Looser Adolf auf Kredit Ware ausgab, wie dieser zwischendurch mit einer Abschlagszahlung die Schuld verminderte, wie durch Einkäufe seiner Frau die Schuld wieder anstieg, wie Frau Looser um vierzehn Tage Aufschub bat, da sie zinsen müsse, wie sie dann am fraglichen Tag eines ihrer Kinder vorschickte (wahrscheinlich ihre Älteste, die siebenjährige Marie) und für weitere sieben Franken Ware holen liess und auf einem dem Mädchen anvertrauten Zettel versprach, dass sie noch am nämlichen Tag vorbeikommen werde, um die ganze Schuld abzuzahlen. Wie sie dies dann aber nicht getan habe, worauf