Sulaiman Addonia

Schweigen ist meine Muttersprache


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Sie betrat den Platz in einem langen gelben Kleid. Die Erwachsenen, auch Sabas Mutter, suchten in der Menge nach bekannten Gesichtern. Doch manche haben sich bestimmt verändert, überlegte Saba. Oder sind, zumindest im Moment, von Kummer gezeichnet. Seit dem ersten Schritt des Kamels aus ihrer Heimatstadt heraus war ihre Mutter nicht mehr dieselbe. Saba fragte sich, ob auch sie sich verändert hatte.

      Fremde trösteten einander. Sie bekämpften die Trauer mit Worten, um sich mit Stärke zu wappnen, und schlossen dabei neue Freundschaften. Der Khwaja jedoch gesellte sich zu den Kindern und rannte mit ihnen herum, lachte, fiel hin und weinte wie sie.

      Während Saba diese Szenen beobachtete, kam ihr der Gedanke, dass es hier an diesem Ort vor allem darum ging, andere Möglichkeiten des Lebens zu finden. Hoffnung und leise gemurmelte Gebete breiteten sich von diesem Platz im ganzen Lager aus wie ein stummes Beben. Sie spürte es unter ihren Füßen.

      Mit einer Handvoll Orangensamenkernen trat Saba aus der Hütte. Tahir hatte ihr gesagt, wenn sie die Kerne in die Erde steckte, würde ein wunderschöner Orangenbaum wachsen.

      Ein Windstoß fegte durchs Lager. Türen schlugen. Lose Schnüre peitschten. Eine Staubwolke wirbelte um Saba herum. Sie schloss die Augen. Schreie hallten über den Platz und verklangen. Und als sich der Wind gelegt hatte, sah sie, dass die Moschee, die sie miterschaffen hatte, verschwunden war. Sie betrachtete die Samen in ihrer Hand. Hatte es einen Sinn, sie zu säen?

      Ein paar Meter weiter stand ein Priester mit einem weißen Turban, einem weißen gabi über seiner weißen Tunika und einer weißen Hose, den Kopf geneigt wie zum Gebet. Fliegen setzten sich auf seine Schultern. Er hob seine Fliegenklatsche aus Pferdehaar, um sie zu vertreiben, und betete mit den Gläubigen, die einen Kreis um ihn bildeten, einige dicht an ihn gedrängt wie Kinder, die die Nähe ihrer Mutter suchen.

      Saba prüfte den Stand der Sonne am Himmel, um abzuschätzen, wie spät es war. Gleißendes Licht überflutete ihre Netzhaut, sodass sie den Blick von der Sonne, von der Zeit abwenden musste.

      Sie ging in die Hocke und grub mit bloßen Händen ein Loch in den Boden neben ihrer Hütte. Ein Mädchen kam auf sie zu und fragte, was sie da pflanzte.

      Ich liebe Orangen, sagte das Mädchen und nannte ihren Namen: Zahra. Ich helfe dir, sagte sie, das Loch ist nicht tief genug. Und dann sollten wir die Stelle mit Stöcken und Holz abgrenzen, damit niemand darauf tritt. Wir müssen uns darum kümmern, ich kann gar nicht glauben, was wir da jetzt machen.

      Saba sah sie mit offenem Mund an.

      Zahras Lachen lockte Hagos aus der Hütte.

      Ist doch vernünftig, was ich sage, oder?

      Saba nickte, sie starrte immer noch in Zahras Gesicht.

      Ach das, sagte Zahra und rieb die Narbe auf ihrem Nasenrücken. Auf dem Weg in dieses Land bin ich vom Kamel gefallen. Wir alle haben Wunden, aber einige sind eben sichtbarer als andere.

      Saba richtete sich auf und zog ihr Kleid bis zu den purpurroten Oberschenkeln hoch.

      Ist das von einer Bombe?

      Nein, sagte Saba.

      Menschen, die einen am meisten lieben, können einen auch am meisten verletzen, sagte Zahra.

      Saba gab keine Antwort. Sie zwang sich, ihren Blick von Zahra abzuwenden – zu dem Rauch in der Ferne, zu dem Adler, der zwischen strohgedeckten Dächern in den blauen Himmel hinaufstieg.

      Saba!

      Saba erschauderte, als Zahra sie an sich drückte und fest umarmte. Entschuldige, sagte sie, ich wollte keine Erinnerungen wachrufen.

      Schweigen.

      Danke, sagte Saba.

      Saba gab ihrer neuen Freundin – für sie war die Freundschaft bereits besiegelt – ein paar von ihren Samenkernen.

      Sie fingen an, sie in die Erde zu stecken. Das wird ein wunderschöner Orangenbaum, sagte Zahra.

      Aber nur weil du mir jetzt hilfst, heißt das noch lange nicht, dass es später einmal unser gemeinsamer Baum ist, sagte Saba lachend.

      Es dauert mehr als zwanzig Jahre, bis aus den Samen ein Orangenbaum gewachsen ist, sagte Zahra. Bis dahin ist hoffentlich keiner von uns mehr hier.

      Saba grub weiter.

      Saba, sag Amen, sagte Zahra.

      Zweimal Amen, sagte Saba und kicherte.

      Zahra war mit ihrer Großmutter ins Lager gekommen. Ihre Mutter war in den Schützengräben geblieben, um im Unabhängigkeitskrieg zu kämpfen.

      Aber wir werden bald wieder zu Hause sein, sagte Zahra. Das hat mir meine Mutter versprochen.

      Wie heißt deine Mutter?, fragte Saba.

      Major Lemlem, sagte Zahra und hob die Stimme, als müsse sie ein Geheimnis loswerden.

      Major Lemlem, wiederholte Saba und sah Zahra an.

      Während die beiden weiter Samen in die Erde steckten, kam Samhiya mit ihren roten Lockenwicklern, ein paar Jungen im Schlepptau.

      Mein Gott, Saba, sagte Samhiya. Wer hat dir beigebracht, wie ein Junge zu schwimmen? Übrigens kennt seit gestern Abend jeder im Lager deinen Namen.

      Saba hatte ihren Sprung ins dunkle Wasser längst vergessen. Sie straffte sich und deutete auf Hagos, der neben der Tür stand. Mein Bruder hat es mir beigebracht, sagte sie. Er ist der Beste.

      Samhiya reckte den Hals und sah Hagos an.

      Bist du sicher, dass du ein Mann bist? Ich meine … du bist so schön, das wollte ich sagen, stotterte sie und fing an zu kichern.

      Die Jungen hinter Samhiya feixten.

      Hagos verzog keine Miene. Saba wusste, sein Schweigen bedeutete so viel wie die dunkle Brille bei einem Blinden. Dennoch hoffte sie, dass er wenigstens mit seiner Mimik auf seine Bewunderin reagierte.

      Zeig ihr dein Lächeln, das noch viel schöner ist, flüsterte Saba ihm zu.

      Würdest du es mir beibringen? Bitte!, wandte sich Samhiya an Hagos.

      Saba grinste so breit, dass sich Grübchen in ihren Wangen bildeten. In Hagos’ Leben gibt es eine Chance auf Liebe und Zuneigung, dachte sie. Endlich.

      Aber Hagos’ Blick war auf seine Schwester gerichtet. Sie streckte ihre Hand zu ihm aus, als wollte sie sein Gesicht zu Samhiya hin drehen. Doch sie ließ es bleiben. Ja, sagte sie zu Samhiya. Hagos wird dir gern das Schwimmen beibringen.

      Samhiya wandte den Kopf zu Saba und fragte: Warum antwortet er nicht selbst? Hab ich ihn sprachlos gemacht?

      Er ist stumm, sagte einer der Jungen hinter Samhiya.

      Schweigen.

      Saba hasste diese Momente, wenn die Mädchen still wurden und, vielleicht, über das Leben mit einem gutaussehenden, aber behinderten Mann nachdachten.

      Ich muss gehen, sagte Samhiya und drückte Saba einen Kuss auf die Wange. Ciao bella.

      Saba ging an Hagos vorbei in die Hütte. Ihr Bruder folgte ihr und machte den anderen die Tür vor der Nase zu.

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