die Steine. Saba atmete den Geruch von frischem Schlamm ein. Der Fluss muss erst vor kurzem über die Ufer getreten sein, dachte sie.
Die Leute stellten ihre Öllampen hinter sich ab und reihten sich am Ufer entlang auf. Zwischen ihren Beinen glitzerte der Fluss, doch die Landschaft war in Dunkel gehüllt. Saba drückte ihren gelben Eimer an ihre Brust. Behälter schepperten, Kanister schlugen gegeneinander. Die silbernen Armbänder einer Frau vor ihr klimperten, als sie ihren Kanister ins Wasser tauchte. Während sie sich tiefer hinunterbeugte, umspielte ihr adalkana-Kleid, leuchtend wie die Farben des Regenbogens vor einem pechschwarzen Himmel, ihre Hüften. Der Kanister glitt ihr aus den Händen und wurde sofort vom Fluss fortgetragen. Hagos lief ins Wasser. Laternen wurden hochgehoben, Taschenlampen auf ihn gerichtet. Warum tut er das?, fragte ein Mann. Weil jetzt auch die geringsten Dinge einen Wert besitzen, sagte ein anderer. Hagos rutschte aus. Das wogende, goldglänzende Wasser verschlang ihn. Saba dachte an das letzte Mal, als ihr Bruder, noch zu Hause, in einen vom Regen angeschwollenen Fluss gesprungen war, um einen Mann zu retten, der vor den Derg-Soldaten floh. Einer Gefahr zu trotzen war für ihn ein Weg, wahrgenommen zu werden. Und Saba tat, was sie immer getan hatte. Sie sprang ihm hinterher.
Bruder und Schwester verschwanden unter Wasser. Eine Ewigkeit verging, bis ihre Köpfe wiederauftauchten. Fast gleichzeitig und erleuchtet von Taschenlampen.
Als Hagos mit dem gefüllten Kanister vor der Frau stand, legte sie ihm ihre hennagefärbte Hand auf die Schulter. Danke, sagte sie. Das war mutig von dir.
Gern geschehen, sagte Saba neben ihrem Bruder. Er freut sich, wenn er helfen kann.
Als sie nass und zitternd vom Fluss nach Hause zurückkehrten, stand ihre Mutter vor der Hütte und murmelte vor sich hin.
Wie könnt ihr nur ins Wasser springen, sagte sie.
Es war nicht gefährlich, sagte Saba.
Die Gefahr stand den Männern in die Augen geschrieben.
Ich habe schon größere Gefahren überstanden, Mutter, das weißt du.
Weißt du, was Rahwa über dich sagt? Die Stimme ihrer Mutter brach. Ihre Finger zitterten, während sie an ihrem Tuch herumnestelte.
Die Hebamme ist hier? Saba drehte sich um und kickte mit dem Fuß in die Luft. Staub wirbelte auf.
Als Saba die Hütte betrat, sah sie, dass Hagos die Hände seiner Mutter hielt und küsste, bis sie sich beruhigt hatten.
Gott segne dich, mein geliebtes Kind, sagte die Mutter.
Hagos führte sie in die Hütte, während Saba in ihrem durchnässten schwarzen Kleid an der Tür stand und zuschaute. Er setzte sich neben seine Mutter und massierte ihr die Arme. Saba zog sich hinter die Hütte zurück, um ihr Nachthemd anzuziehen. Das Licht der Taschenlampe, die sie auf den Boden gestellt hatte, tauchte die Nachbarhütte in einen gespenstischen Glanz. Die Tür stand offen. Ein Fuß trat in den Lichtkreis, der ein Fußgelenk umspielte. Ich kann überall gesehen werden, dachte Saba. Drinnen wie draußen.
Sie suchte Zuflucht in der Hütte. Hagos hatte sich auf einer Seite der Decke zusammengerollt. Saba stieg über ihn hinweg und zwängte sich in den schmalen Spalt neben der aus Dung gemauerten Wand. Ihr Gesicht lag neben Hagos’ Füßen. Kleine Steinchen stachen durch die dünne Decke. Saba kuschelte sich zwischen die gewölbte Wand und den zusammengekauerten Hagos.
Die Moschee im Sand
Mit geschlossenen Augen lag Saba auf der Decke und berührte sich, wie sie es zu Hause immer getan hatte in jenen Augenblicken vor Anbruch der Morgendämmerung, wenn ihr Körper ihr gehörte.
Doch an jenem ersten Morgen im Lager, die Brust über dem Boden gewölbt, straff wie ein Tautropfen auf einem Blatt, hörte sie ihre Mutter im Schlaf murmeln. Sabas lustvolles Stöhnen erstarb hinter ihren zusammengepressten Zähnen. Sie setzte sich auf und rückte von Hagos weg. Ein trockener Zweig in der Lehmmauer kratzte über ihr Bein. Sie schlug mit der Faust gegen die Wand.
Ihr Zimmer zu Hause ging auf den Garten eines Innenhofes mit Steinfußboden und Terrakottatöpfen voller Kräuter. Das Zimmer hatte sie von ihrer Großmutter übernommen. Hier hatte sich ihre Großmutter in den Nachbarn verliebt und ihm ihre Liebessehnsucht dadurch bekundet, dass sie Blumen an der Mauer pflanzte, die sie von ihm trennte. Sie war elternlos aufgewachsen, hatte sich aber das Lesen und Schreiben selbst beigebracht. Noch keine zwanzig Jahre alt, gründete sie ein Geschäft und reiste von einem Land ins andere, von einem Liebhaber zum nächsten. Ihr langes Leben verdankte sie dem Honigwein Tej, dem Khat und dem Sex.
An der Wand über ihrem Bett hatte Saba das Foto ihrer Großmutter aufgehängt und ansonsten ihr Zimmer mit Bildern aus dem Atelier des Landbesitzers geschmückt, bei dem ihre Mutter als Dienstmagd arbeitete. Dieser Mann war mit den Träumen seiner Heimatstadt als Student nach Europa gegangen, hatte sich dort aber mit einem Kunsthochschuldiplom nur seinen eigenen Traum erfüllt, bevor er zurückkehrte. Er hatte sich zu Sabas und Hagos’ Patenonkel erklärt. Eines der Fotos, die Saba aus seinem Atelier mit nach Hause genommen hatte, zeigte eine junge Frau mit einer Kalaschnikow über der Schulter. Hinter der Freiheitskämpferin war durch einen Kunstgriff des Fotografen die Hauptstraße von Asmara zu sehen, die in der jüngeren Vergangenheit drei Mal umbenannt worden war – von Viale Mussolini in Queen Victoria Avenue und dann in Kaiser-Haile-Selassie-Straße – und die jetzt, unter der Militärdiktatur des Derg, Nationalstraße hieß. Vor dem Hintergrund dieser vielfach bezwungenen Straße stand die Kämpferin so unerschütterlich und fest verwurzelt wie die Palmen, die den breiten Boulevard säumten. Saba studierte diese Pose ein, um sie in ihrer an der Grenze gelegenen Stadt vorzuführen.
Neben der Kämpferin hing die Kopie eines Gemäldes an der Wand, das ihr der Landbesitzer geschenkt hatte. Die helle Haut einer nackten Frau, die irgendwo in Paris ein Bad nimmt, schimmerte selbst dann noch, wenn Saba vor dem Schlafengehen das Licht herunterdrehte.
Bücher bedeckten den Fußboden und Sabas Bett. Geschichtsbücher in Tigrinisch, amharische Übersetzungen russischer Romane, Gedichte auf Arabisch. Bleistifte. Kugelschreiber. Radiergummis. Politik. Kunst. Freiheit. Afrika. Europa. Und Saba. All das wetteiferte um einen Platz in ihrem kleinen, unordentlichen Zimmer.
Die Erkenntnis, wo sie sich jetzt befand, holte sie aus ihren Träumereien. Sie spürte die dicken Lehmwände um sich herum und begrub das Gesicht in ihren Händen. Sie setzte sich auf die Knie. Der erdige Geruch der Büsche vor dem Fenster vermischte sich mit der dunggeschwängerten Morgenluft. Sie hob die Finger an ihr Gesicht und sog den Duft ihrer Schenkel ein.
Taumelnd trat sie aus der Hütte. Orangerote Lichtstreifen, wie Kamelhöcker gekrümmt, erschienen am Horizont. Sie hörte Schritte, die über den sandigen Boden schlurften. Aus einer schmalen Gasse tauchte ein Mann auf. Mitten auf dem Platz blieb er stehen und stellte seine Öllampe neben sich auf den Boden, sodass ein strahlender Lichtkreis um seine Füße entstand. Er rief zum ersten Gebet des Tages.
Niemand reagierte. Er wartete mit verschränkten Armen. Staub lag auf seinen Sandalen. Ohne seinen Turban, seinen gabi und seinen Teppich, ohne ein Minarett, eine Kuppel, vier Wände und eine Gebetsrichtung, dachte Saba, ruht die Autorität des Imams allein in der schmalen, langen Silhouette seines Schattens auf der nackten Erde des Lagers.
Er rief zum Gebet, immer und immer wieder. Seine Stimme wurde heiser. Keine Antwort. Schließlich verstummte er. Er stampfte mit dem Fuß auf, zog den Fuß durch den Sand und markierte auf diese Weise den Grundriss eines Gebetsraums. Dann hielt er inne und schaute zurück. Die schwachen Linien hinter ihm im Sand verblassten, als er sich mit seiner Öllampe in der Hand wieder in Bewegung setzte. Er kehrte zum Ausgangspunkt zurück und begann von vorne. Ein abgehärteter Kämpfer, der sich selbst dann nicht geschlagen gibt, wenn er keine Waffen mehr hat. Dieser Gedanke schoss Saba durch den Kopf, während sie auf ihn zuging, in seine Spuren trat und ihren Fuß hinter ihm noch fester und tiefer in den Sand grub, um der menschlichen Präsenz in dieser Wildnis Nachdruck zu verleihen.
Der Imam hob seine Lampe. Sabas Gesicht leuchtete auf wie eine Antwort auf sein Lächeln. Er räusperte sich. Seine Stimme kehrte zurück.
Das