Sulaiman Addonia

Schweigen ist meine Muttersprache


Скачать книгу

diesem Wortwechsel fing ein junger Mann ganz hinten an, sarkastisch zu lachen. Er trat vor und schwenkte seinen Ausweis, den er von der UN erhalten hatte. Seht her, sagte er. Für mich, für euch bin ich Eritreer, aber in diesem Pass hier steht, dass ich kein Land habe. Warum? Na? Na, warum?

      Mir war klar, dass er den entscheidenden Punkt seiner Argumentation verfehlte. Deshalb riss ich ihm den Ausweis aus der Hand, um den Versammelten zu erklären, was ich in seinem ruhigen Gesicht zu lesen glaubte. Dieser Mann, sagte ich und wandte mich ans Publikum, möchte uns daran erinnern, dass für die Außenwelt Sabas Nationalität strittig ist, weil sich unser Land immer noch in einem Unabhängigkeitskrieg befindet.

      Warum?, wiederholte der Mann.

      Einige Zuhörer lachten leise.

      Ich kehrte auf meinen Platz zurück und blickte auf die Kinoleinwand. Sabas Hütte war deutlich zu erkennen. Saba saß auf ihrem Bett, ein Buch in der Hand. Sie trug jetzt ihr Nachthemd. Ich musste zweimal hinschauen. Ich bin mir der Tücke meines Kinos bewusst: Manchmal, wenn ich Erinnerungen wachrief, wurden sie auf meiner Leinwand ganz real, ganz lebendig. Und ich hatte viele Erinnerungen an Saba.

      Wenig später geriet der Prozessablauf erneut ins Stocken, diesmal mangels Belegen für Sabas Religionszugehörigkeit. Nicht überzeugt von Aussagen, ihr Vater könnte ein Muslim sein und ihre Mutter eine Christin, ließ der Richter die Frage offen. Religion unbekannt, sagte er zu dem Schreiber.

      Ein Mann stand auf und fragte: Wie kann es sein, dass Saba all diese Jahre hier unter uns gelebt hat und wir so wenig über sie wissen?

      Da es im Lager keine Polizeibehörde gab, musste der Richter auch die Ermittlungen führen. Er rief die Hauptzeugin auf.

      Hinter ihm, weit entfernt, war Saba immer noch in ihr Buch vertieft, und ihr Quartier erstrahlte im gelben Licht der Öllampen, die sie die Mauer entlang aufgereiht hatte.

      Die Hebamme nahm im Zeugenstand Platz. Sie schwor den Eid und murmelte Gebete. Ihre kummervolle Miene verschwand, als sie mit ihrer Schilderung begann:

      Dass zwischen Saba, sie sei verflucht, und Hagos etwas vorging, argwöhnte ich, seitdem ich an jenem Nachmittag, ein paar Monate nach unserer Ankunft im Lager, ihre Hütte betrat und sie nebeneinander auf einer Decke liegen sah. Gott der Herr möge mir vergeben, dass ich das vor Ihnen wiederhole, Euer Ehren, aber ich habe festgestellt, dass sie sich seit unserer Ankunft im Lager eine Decke geteilt haben. Ich musste mich zwingen, diesem schamlosen Mädchen nicht ins Gesicht zu schlagen. Aber Prügel hätten auch nichts geändert. Hätte ihre Mutter doch nur auf mich gehört und sie zu Hause zurückgelassen, statt so viel Geld zu bezahlen, um sie in dieses Lager mitzunehmen. Du wirst mit ihr nie deine Ruhe haben, hatte ich zu ihr gesagt. Ich bitte Sie darum, Herr Richter, ihr eine schwere Strafe aufzuerlegen.

      Fahren Sie mit Ihrer Zeugenaussage fort und überlassen Sie das Urteil uns, sagte der Richter.

      Die Hebamme nickte. Doch dann wandte sie sich uns zu, stand auf und schwenkte drohend den Zeigefinger in Richtung der Väter im Publikum. Seid besonders wachsam und streng gegenüber euren Töchtern. Wir sind hier zwar in einem Lager, aber das Land eines Mädchens ist ihr Vater, und wenn sie einen Vater an ihrer Seite hat, wird sie aus ihrer Kultur und ihren Traditionen niemals verbannt werden.

      Würden Sie sich bitte setzen und fortfahren, sagte der Richter und rutschte auf seinem Stuhl hin und her.

      Wie Sie wünschen, Herr Richter, sagte die Hebamme. Nun also, ich gab der Mutter meine eigene Decke, damit ihr Sohn von diesem Mädchen getrennt schlafen konnte. Jetzt weiß ich auch, warum Saba, als der Geschäftsmann ihr einen Heiratsantrag machte, sofort einwilligte, ohne zu protestieren, wie ich es erwartet hatte. Ich werde niemals heiraten, bevor ich mit der Schule fertig bin, hatte sie immer wieder zu ihrer Mutter gesagt. Aber als ich ihr den Heiratsantrag überbrachte, vergoss sie keine Träne. Das Einzige, worum sie bat, ja, worauf sie bestand, war, dass ihr Bruder mit ihr käme. Es war ja nicht so, dass sie in ein anderes Dorf zog, aber der gutherzige und langmütige Geschäftsmann war einverstanden.

      Doch ich war immer noch verblendet. Wie kann ich oder sonst jemand hier akzeptieren, dass so etwas in unserer Gemeinschaft passiert? Ich hoffte weiter, dass alles nur ein Missverständnis war. Mein Verdacht erhärtete sich jedoch, als gleich nach der Hochzeit Saba jeden daran hinderte, ihr Areal zu betreten, sogar ihre eigene Mutter.

      All das nahm ich wahr und es verwirrte mich, aber ich habe nie mit jemandem darüber gesprochen. Nur mit dem Herrn im Himmel. Und dann, vor ein paar Monaten, erhielt ich die zweifelsfreie Bestätigung, als Hagos mitten in der Nacht von einer Schlange gebissen wurde und der Geschäftsmann zu mir kam und um Hilfe bat. Es musste also erst etwas Lebensbedrohliches passieren, damit sie einem Außenstehenden das Tor öffneten, und ich weise nie jemanden ab, der in Not ist. Ich ging also hin und fand Hagos’ Hütte voll mit Frauenkleidern. In seinem Bett lagen Höschen und BHs. Demnach hatte Saba die ganze Zeit in seiner Hütte gewohnt und muss das Bett mit ihm geteilt haben.

      Die Hebamme war am Ende ihrer Schilderung angelangt. Sie blickte auf und murmelte Gebete.

      Die Stille im Gerichtssaal dauerte an.

      Ich hatte Saba lange durch die Leinwand beobachtet und versuchte mich jetzt zu erinnern, ob mir etwas Verdächtiges aufgefallen war. Der Richter rief den nächsten Zeugen auf, einen jungen Mann, der als der Beschnittene bekannt war, obwohl wir alle beschnitten waren. Aber er zählte zu den wenigen, die nach der Beschneidung durch die Hebamme dauerhaft verstümmelt waren.

      Mit zerzausten Haaren, das Hemd voller Stroh und feuchtem Lehm, humpelte er zum Zeugenstuhl. Ich war überzeugt, dass der Richter seine Anklage akribisch vorbereitet hatte, um Saba als Sexualstraftäterin zu präsentieren, als eine Frau, die in dieser Extremsituation des menschlichen Überlebenskampfes ihre sexuellen Perversionen befriedigte. Und deshalb betete ich, dass er nicht noch einmal eine Aussage von mir wollte. Er war ein Mann des Gesetzes, der seinen Beruf bei den Briten gelernt hatte. Mit Überraschungen war also immer zu rechnen.

      Der Beschnittene murmelte etwas, das niemand verstand. Für einen Straßenjungen war er sehr schüchtern. Aber auch in diesem Fall zeigte sich, dass Menschen, die alles verloren haben, besonders hartnäckig an dem festhalten, was in ihnen ist. Der junge Mann sprach im Flüsterton und mit gesenktem Kopf. Seine Stimme hob sich, sobald er neben dem Richter auf dem Zeugenstuhl saß. Als hätten die Verantwortung und die geballte Aufmerksamkeit der Zuhörer seinen ersterbenden Mut befreit.

      Saba sei seine erste Geliebte gewesen, sagte er. Und es stimmt, dass man diejenige, die einem den ersten Orgasmus seines Lebens verschafft, niemals vergisst.

      Die Ältesten äußerten murmelnd ihre Missbilligung, aber der Hüter des Gesetzes überging ihren Einwand und forderte den jungen Mann auf fortzufahren.

      Herr Richter, ich erinnere mich nur noch an Sabas Gesicht, das im Fenster erschien, nachdem die Hebamme ihre Arbeit getan und das Blut vom Rasiermesser gewischt hatte. Dann wurde ich ohnmächtig. Nach meiner Beschneidung dauerte es mehrere Tage, bis ich schwankend vom Bett aufstehen konnte, und es war Saba, die mich stützte, als meine Beine einknickten.

      Bleib liegen, sagte sie.

      Ich erstarrte, als ich sie hereinkommen sah. Es war, als würde sie mir im Traum erscheinen. Ich berührte ihre Hand, spürte ihre Wärme. Wo ist meine Mutter?

      Ich habe zu ihr gesagt, sie soll sich ausruhen, erwiderte Saba. Jetzt bin ich hier.

      Ich wusste nicht, dass ihr euch kennt, du und meine Mutter.

      Saba lächelte: Jetzt schon.

      Ich möchte aufstehen, sagte ich.

      Saba hielt mich am Arm fest, und ich merkte, dass meine unsicheren Schritte, langsam und qualvoll wie die eines alten Mannes, sie zusammenzucken ließen, als wäre sie es, die Schmerzen litt.

      Nachdem ich eine Weile herumgetaumelt war, sagte ich, dass ich pinkeln müsse. Ich erwartete, dass sie einen Mann holte, der mich zum Freiluftklo tragen würde, aber sie brachte mir nur einen großen leeren Topf, der neben der Tür stand, und stellte ihn mitten auf den Boden. Und nachdem sie mir geholfen hatte, mich am Mittelpfosten der Hütte