Sulaiman Addonia

Schweigen ist meine Muttersprache


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dass Monate vor Sabas Hochzeit die Hebamme das Mädchen nachts aus der Hütte des Khwaja hatte kommen sehen und das Schlimmste argwöhnte. Und deshalb hatte sie darauf bestanden, Sabas Unschuld zu prüfen. Zwei ihrer Finger in Sabas Vagina bestätigten damals ihre Jungfräulichkeit. An jenem Tag stieß Sabas Mutter Freudentriller aus, als hätte die Hebamme geholfen, ein Baby auf die Welt zu bringen.

      Aber warum überprüft die Hebamme jetzt Sabas Jungfräulichkeit, wo sie doch seit Monaten mit dem Geschäftsmann verheiratet ist?, fragte ich mich.

      Als die Hebamme den Ärmel hochkrempelte und sich mit zwei Fingern Sabas gespreizten Beinen näherte, war ich drauf und dran, durch die Leinwand meines Kinos zu stürmen und zu Saba hinunterzulaufen. Die Gerichtswache hielt mich zurück. Bleiben Sie sitzen. Bleiben Sie sitzen.

      Als man mich zu meinem Stuhl zurückdrängte, sah ich Saba auf ihrem Bett, den Kopf in den Händen. Dann ging das Tor zu meinem Areal auf. Die Hebamme trat ein und stieß Freudentriller aus. Saba hat ihren Bruder nicht missbraucht. Saba ist unschuldig, sagte sie. Saba ist noch Jungfrau.

      Schweigen.

      Wieder einer dieser unerträglichen Momente ohrenbetäubender Stille. Erst als ein beidseitig amputierter ehemaliger Freiheitskämpfer mit seiner Kalaschnikow in die Luft feuerte, entlud sich ein kollektiver Glücksschrei und ließ die Grundfesten meines Quartiers erzittern. Männer reckten triumphierend die Fäuste in die Luft. Frauen stießen Freudentriller aus. Immer mehr Menschen strömten von draußen in mein Kino, um an der improvisierten Feier der Unschuld Sabas und der Unbescholtenheit des Lagers teilzunehmen, das eine Insel der Reinheit inmitten dieses Buschlands geblieben war. Wie sich unsere Gemeinschaft in dieser Wüste ihre geistige Gesundheit bewahrt hat, sagte der Richter, ist ein Beweis für unsere kollektive Wachsamkeit. Wie überwachen einander, weil wir einander lieben wie uns selbst.

      Die Sängerin des Lagers stieg auf den Richtertisch. Dieses Lager hat viele von uns hinweggerafft, es hat uns viel geraubt, aber nicht unsere Menschlichkeit, sang sie. Saba hat uns nicht unserer Menschlichkeit beraubt, wie der Krieg unserer Heimat die Menschlichkeit geraubt hat. Wir haben nichts als unsere Ehre. Danke, shukor Saba. Danke, reine Saba.

      Die Sängerin hielt ihre Krar nah an ihrem Herzen. Ich hatte sie noch nie so singen hören. Ihre Stimme wurde immer wieder übertönt von Freudentrillern und Händeklatschen, von Rufen und Jauchzern des Glücks.

      Die hohen Töne der Krar brachten noch mehr Leute auf die Beine, und während sie im Kreis die Leinwand umrundeten und das Cinema Silenzioso betraten und wieder verließen, dachte ich an etwas, das Saba einmal gesagt hatte: dass unser Tanz unserer Geschichte nachgestaltet ist, die immer und immer wieder von denselben blutigen Ereignissen getrübt wurde.

      Saba war die Frau, die es gewagt hatte, nach ihren eigenen Gesetzen zu leben, und die man jetzt mit einem Gerichtsprozess wieder in Reih und Glied zurückbringen wollte.

      Aber niemand hatte gefragt, wie es sein konnte, dass Saba nach so vielen Monaten der Ehe noch Jungfrau war. Warum hatten sie und ihr Mann nicht die Ehe vollzogen? Vielleicht kannten alle die Antwort, schwiegen aber in der Hoffnung, dass etwas, das nicht ausgesprochen wurde, seine destabilisierende Kraft verlor.

       Die Ankunft

      Tahir? Tahir, ist das hier das Lager?

      Der Fahrer antwortete nicht. Er kniff die Augen zusammen und beugte sich vor, das Kinn auf dem Lenkrad. Der Lkw schlingerte, und als Tahir das Steuer herumriss, um einem Schlagloch auszuweichen, schrammten die Äste eines Akazienbaums über die Längsseite des Wagens.

      Der Fahrer beschleunigte. Vögel mit kräftigen, gelben Beinen und weißgefleckten Flügeln, die auf einem Hang umherstreiften, stoben auseinander. Die untergehende Sonne färbte den Himmel leuchtend rot. Zart bernsteinfarbene Wolken sprenkelten den Horizont.

      Saba suchte im Seitenspiegel nach ihren Mitreisenden. Dutzende Lastwagen waren im Morgengrauen von der Stadt aufgebrochen, in die sie auf ihrer Flucht vor dem Krieg gekommen waren, doch jetzt war ihr Lkw der einzige auf der Straße. Sabas Mutter neben ihr murmelte ein Gebet, das sie seit ihrem Aufbruch von zu Hause unablässig wiederholte. Hagos, ihr Bruder, saß auf der Ladefläche inmitten der wenigen Habseligkeiten, mit denen sie geflohen waren.

      Herr, erleuchte unseren Weg in die Sicherheit.

      Über der Talsenke brach die Nacht herein. Die Scheinwerfer des bergab steuernden Lkw durchschnitten die Dunkelheit. Ein flaches, mit Hütten übersätes Gelände tauchte vor ihnen auf. Bestehen Flüchtlingslager nicht aus Zelten?, fragte sich Saba.

      Sie befürchtete, ein Blinzeln, und alles wäre ausgelöscht. Und die endlose Reise, die vor vielen Tagen auf Kamelen begonnen hatte, würde weitergehen. Sie hielt sich am Armaturenbrett fest und konzentrierte sich auf das Bild vor ihren Augen. Doch als Tahir erneut das Steuer herumriss, um einem Schlagloch auszuweichen, holperte der Wagen über eine Unebenheit. Der Stoß warf den Fahrer in seinem Sitz zurück, und Saba griff nach dem Lenkrad. Je tiefer es ins Tal hineinging, desto mehr ruckelte das Fahrzeug, und der Lichtstrahl der Scheinwerfer schwenkte von den Hütten zum Buschland und wieder zurück. Tahir bremste.

      Da sind wir, sagte er und rückte seinen Turban zurecht. Saba, das ist dein Lager.

      Saba hielt sich die Nase zu.

      Dung.

      Überall Dunggeruch.

      Tahir stellte den Motor ab. In der Stille wirkte der Ort sehr viel entlegener und verlassener, als Saba es sich jemals vorgestellt hatte. Sie blickte in den Himmel. Es gab keine Kampfflugzeuge, nur einen halben Mond. Er hing am Himmel wie der sichelförmige goldene Ring, den ihre Großmutter in der Nase getragen hatte.

      Saba betrachtete die Hütte im Scheinwerferlicht. Ihre Mutter murmelte Gebete und weinte. Saba konnte sich nicht erinnern, wann sie ihre Mutter zum letzten Mal hatte lächeln sehen oder lachen hören.

      Tahir kletterte aus der Kabine und humpelte zur Vorderseite seines Wagens. Als er die Motorhaube öffnete, qualmte es. Saba trat hinaus in die Dunkelheit. Wir sind die Ersten im Lager, dachte sie. Außer ihnen war niemand zu sehen, nicht einmal ein Beamter zu ihrem Empfang. Sie wollte Tahir fragen, als sie von einem Lichtschein in ihrem Rücken abgelenkt wurde. Sie drehte sich zur Ladefläche um, wo Hagos auf Jutesäcken saß. Seine Taschenlampe beleuchtete einen runden Handspiegel, in dem er sein Gesicht von allen Seiten begutachtete.

      Als Saba zu Hause ihre Bücher einpacken wollte, hatte ihre Mutter sie daran gehindert, denn die Schmuggler verlangten für jede zusätzliche Tasche extra Geld. Und während sie Kleider und Unterwäsche in mehreren Schichten übereinander tragen konnte, war das mit Büchern nicht möglich. Deshalb hatte sie vor dem Aufbruch Tag und Nacht ihre Lieblingspassagen auswendig gelernt.

      Hagos jedoch hatte diesen fragilen Gegenstand mitgenommen, obwohl die Schmuggler die Flüchtlinge vor dem Aufbruch gewarnt hatten: Sogar Menschen zerbrechen auf dem Weg in die Sicherheit, sagten sie, und Spiegel erst recht.

      Hagos kletterte vom Lkw und sank in Sabas ausgebreitete Arme. Seine Haut duftete nach Jasmin, als sie ihn fester an sich drückte. Sie griff nach seiner Hand, den Blick auf eine runde Hütte mit einem konisch geformten Strohdach gerichtet. Auf einem der Büsche, die die Hütte säumten, saß ein Nachtfalter. Die fluoreszierenden Kreise auf seinen Flügeln leuchteten im Licht der Scheinwerfer.

      Ein fernes Brummen steigerte sich zu einem lauten Getöse, als ein Lkw nach dem anderen im Lager eintraf. Lärm brach los. Kinder kreischten. Gott wurde angerufen. Freudentriller vermischten sich mit Schluchzern. Und als sich die Lkws verteilt hatten und verschiedene Areale erhellten, sah man Bruchstücke des Lagers aufleuchten, die einander zu spiegeln und sich im Schlagschatten der Hütten zu vervielfältigen schienen.

      Die Leute stiegen von ihren Lastwagen herunter. Ihre Silhouetten wanderten über die Wände der Hütten. Männer und Frauen, emsig wie Ameisen, trugen ihre Habseligkeiten auf dem Rücken und auf dem Kopf. Jutesäcke. In Tücher oder gabis gewickelte Kleider. Herde mit Kochplatten aus Lehm. Kinder, festgebunden auf dem Rücken ihrer Mutter. Eine Frau hatte ihren Mann huckepack genommen, er schlang die Beine um ihre Hüften