mit mir durchzusprechen. Wenn ich mich nicht am selben Ort aufhielt wie er, übermittelte er mir seine Aufträge schriftlich. Vor seiner Abreise nach Kopenhagen im Januar 1921, wo er mit dänischen Schauspielern Offenbachs Orpheus in der Unterwelt inszenieren sollte, schrieb er am Ende eines langen Briefes über alle schwebenden Angelegenheiten in Wien und in Salzburg:
Es ist nachts vor meiner Abreise, in wenigen Stunden sitze ich im Coupé und erwarte in Kopenhagen möglichst viele und ausführliche Nachrichten von Ihnen … Das ist der längste Brief, den ich je geschrieben habe und die bedrängteste Zeit, in der ich überhaupt je geschrieben habe.
In diesen Jahren lagen Inflation und später Deflation wie Mehltau über allem, Ungewissheit verschleierte die Zukunft, von der stündlichen Verschiebung aller Werte profitierte nur einer: der Schieber. Eine neue unsaubere Gesellschaft ging aus diesem Sumpf hervor. Ehrliche Arbeit wurde zur hoffnungslosen Tretmühle. Nur Gastspiele im Ausland, Bezahlung in stabiler Valuta konnten ein Gegengewicht zu der verheerenden finanziellen Lage in Deutschland und Österreich bilden.
So war Max Reinhardt bereits im November 1920, unmittelbar nach seinem Rücktritt, zu einem Gastspiel nach Skandinavien gefahren. Er brachte den Urfaust, Stella, Kabale und Liebe, Kaufmann von Venedig, Strindbergs Totentanz, Scheiterhaufen und Wetterleuchten sowie Die grosse Szene von Schnitzler und Er ist an allem Schuld von Tolstoi.
Das Orpheus-Gastspiel in Kopenhagen, im März 1921, war überaus erfolgreich. Am 31. Dezember desselben Jahres gab Reinhardt dann Orpheus in der Unterwelt als Silvester-Premiere im Großen Schauspielhaus in Berlin.
Das goldene Gittertor, das so überraschend in den Höhen des Bühnenproszeniums entschwand, um den weiß-blauen Olymp zu offenbaren – weiße Wölkchen, die zu Tänzerinnen wurden –, und dann die Götter: der grantige Jupiter Pallenbergs, die gertenschlanke Öffentliche Meinung Gussy Holls mit ihren wohlpointierten aktuellen Couplets, der ganze Offenbachsche Olymp – alles von der Regie Max Reinhardts weit über das altmodische Operetten-Niveau hinausgehoben und zu Offenbach zurückgeführt. Es war beglückend, Reinhardt bei den Proben zu beobachten. Er hatte selbst die größte Freude an der Musik, an der unbändigen Heiterkeit des Ganzen. Vor ihm lag, wie eine Partitur, sein Regiebuch. Er gab die Einsätze zu dem übermütigen Dialog, er steigerte das Tempo, sein Lachen gab den Schauspielern das Echo, dessen sie bedurften, um die Wirkungskraft einer Pointe, einer Bewegung, eines Tones zu ermessen. Max Reinhardt am Regietisch ersetzte ein volles Haus, das für den Schauspieler, in einer Komödie vor allem, so wesentlich ist. Er ruhte aber auch nicht, ehe sein Ensemble nicht das Äußerste gegeben hatte. So musste der Höllen-Can-Can, der Aktschluss, bei einer der letzten Proben, in später Nacht, immer aufs Neue wiederholt werden. Die Chorführerin, die Tänzer hatten den besten Willen, aber sie waren müde, und so fehlte die Schlagkraft, um die Wirkung, die Reinhardt vorschwebte, zu erzielen. Schließlich ging er mit ungewohnt schnellen Schritten von seinem Regietisch, der auf einer kleinen Plattform in Bühnenhöhe stand, zum Proszenium hinüber, gab der Musik den Einsatz und sprang, stampfte – während sich die Tänzer in der vollen Breite der Bühne nach vorne bewegten – mit beiden Füßen gleichzeitig im Takte auf und nieder, dirigierte mit beiden Armen und sang mit. Alles Gemessene, das für ihn so charakteristisch war, fiel von ihm ab, und so riss er auch die Darsteller über sich selbst hinaus.
Der Premierenabend wurde zu einem triumphalen Erfolg, nicht nur für Reinhardt, der schon nach dem zweiten Akt herausgerufen wurde, sondern auch für Pallenberg, die anderen Darsteller und für den dänischen Bühnenmaler Max Rée, der die Dekorationen geschaffen hatte. Max Reinhardt hatte mit ihm auch schon in Skandinavien gearbeitet. Berlin spielte, sang und pfiff die Orpheus-Melodien und vergaß darüber zeitweise Inflation und wirtschaftliche Sorgen. Die neue Direktion Felix Hollaenders hatte damit ihr Zugstück bekommen.
Reinhardts Inszenierung des Traumspiels von Strindberg, im Deutschen Theater, war der Orpheus-Premiere vorangegangen. Helene und Hermann Thimig, Klöpfer und Krauß spielten in dieser fein abgetönten Aufführung. Max Reinhardt hatte die Arbeit an dem Regiebuch im Juli in Salzburg begonnen, in Stockholm daran weitergearbeitet, um es schließlich in Berlin, im November, zu vollenden.
Ankauf von Leopoldskron
Helene Thimig, Victoriastraße 11, Berlin 16. April 1918
Leopoldvertrag unterzeichnet Gott schenke uns für dieses köstliche Gehäuse die glücklichsten Inhalte Bin froh gut dankbar erkenne wie wundervoll notwendig der Feiertag für den Menschen gespenstische Hindernisse einschrumpfen den Glauben an Erfüllung des Naturnotwendigen wachsen läßt Ich liebe Dich
Dieses Telegramm barg den Keim für alles Künftige. Mit dem Federzug der Unterschrift des Kaufvertrages von Leopoldskron wurden zwanzig Jahre im Leben Reinhardts schicksalhaft bestimmt.
Max Reinhardt hatte seit Jahren nach einem Haus gesucht, das seiner Vorliebe für das Barock entgegenkam. Er konnte, bis an sein Lebensende, niemals widerstehen, wenigstens mit dem Gedanken zu spielen, irgendein altes Schloss, ein altes Bauernhaus, das zum Verkauf ausgeschrieben war, zu erwerben, selbst lange nachdem er schon in Leopoldskron fest verankert war.
Eine solche Möglichkeit war lockend wie eine neue Inszenierung. In Gedanken richtete er dann dieses Haus bis ins letzte ein. Wohin er auch kam: die Suche nach einem derartigen Wohnsitz begann sofort – Kauf oder Miete –, und es war oft schwer, ihn davon abzubringen, sich in ein kostspieliges Abenteuer dieser Art zu verstricken. Freunde und Mitarbeiter wurden auf die Suche geschickt, Pläne mussten beschafft, eigensinnige Besitzer solcher Häuser überredet werden, ihr Haus zum mindesten zu zeigen.
Bei Leopoldskron spielte die Liebe zu Salzburg, dem Salzburg seiner Jugend, noch eine besondere Rolle. Er war verliebt in die Stadt, verliebt in die Landschaft, verliebt in das Barock des Schlosses. Der Gedanke, den Berliner Sorgen entfliehen zu können, eine Ruhe zu genießen, die wie eine Fata Morgana ein Leben lang vor ihm herschwebte, ein Haus zu schaffen, dessen Vollkommenheit er träumte, und wenigstens einen Teil des Jahres so zu leben, wie es seinem innersten Wesen entsprach – dieser Gedanke war zwingend. Die Inflation begünstigte ein solches Unternehmen und ermöglichte es ihm, diesen Besitz um einen erschwinglichen Preis zu erstehen. Es war zunächst eine leere Schale. Nur wenige Möbel standen in den vierzig Zimmern, aber kunsthistorisch wertvolle Stuckdecken, herrliche alte Barocköfen, Bilder, die Halle, das architektonisch vollendete Stiegenhaus, der Marmorsaal gaben Max Reinhardt den Leitton für die schönste Bau-Inszenierung seines Lebens. In den zwei Jahrzehnten, die ihm dort vergönnt waren, hat er diesem verwahrlosten, verfallenden Haus den Glanz seiner barocken Vergangenheit wiedergegeben. Was er hinbrachte, wurde mit empfindsamer Hand eingefügt. Es war für ihn in späteren Jahren immer eine besondere Freude, wenn Sammler oder Kunsthistoriker das Schloss besichtigten und Ursprüngliches nicht mehr von dem unterscheiden konnten, was er hineinkomponiert hatte. (Auch meine Schwester durfte zu dieser Komposition beitragen. Sie war Malerin und Restauratorin, und Max Reinhardt betraute sie mit verschiedenen Aufgaben in Leopoldskron. Er wollte unterhalb der Fenster im Venezianischen Zimmer Blumenstücke haben. Das Deckenbild in diesem Raum mit Commedia-dell’arte-Figuren stammt ebenfalls von ihrer Hand. Für das Speisezimmer malte sie zwei Blumenstücke, die dort in Stuckrahmen eingelassen sind.)
In diesen frühen Jahren, unmittelbar nach dem Ankauf, trug Reinhardt die Vision dessen, was er aus dem leeren Haus machen wollte, bereits in sich. Auch diesen Traum hat er später verwirklicht: Kammermusik-Abende, Theatervorstellungen im Marmorsaal und im Gartentheater, Serenaden auf der Seeterrasse.
Die Einnahmen seiner Arbeitsjahre hat er in die Ausgestaltung dieses Hauses investiert. Wer wollte die Bilanz ziehen zwischen der schöpferischen Freude, die er dabei Jahre hindurch genoss, und der Sorgenlast, in die sich alles in den Jahren wirtschaftlichen und kulturellen Niederganges wandelte, bis zuletzt nur der unerfüllte Wunsch blieb, dem Moloch, zu dem dieser Besitz geworden war, zu entfliehen, sich der Schuldenlast durch Verkauf zu entledigen. Ungerechtfertigte Steuern, mit denen sein Berliner Theaterbesitz nach 1933 belastet worden war, um ihn der Regierung in die Hände zu spielen, hatten zu der Katastrophe beigetragen und im Zusammenhang damit auch seinen österreichischen Besitz bedroht. Schließlich beschlagnahmte die Gestapo im Juli 1938 Schloss Leopoldskron. Max Reinhardt nahm die Nachricht dieses Verlustes mit stoischer Ruhe auf. In einem Satz fasste er zusammen, was er dazu zu sagen hatte: »Ich