Gusti Adler

"...vergessen Sie nicht die chinesischen Nachtigallen."


Скачать книгу

Gang durch das Zimmer, ein absichtsloses Rücken an einem Stuhl, ein zögerndes, tastendes Zurechtstreifen einer Gardine, ein misstrauischer Blick auf den Alkoven – dazwischen, wie zerstreut, abgerissene Worte. Sie stehen gleichsam wie Ausrufungszeichen hinter einer Gedankenkette. Alles selbstverständlich – von nun an nicht mehr leicht anders denkbar. Überzeugend, noch ehe es vom Schauspieler in seine Ausdrucksmöglichkeiten übersetzt wurde.

      Oder: Cherubin wird von Susanna aus dem Versteck befreit. Er weiß nicht aus noch ein vor Angst. Sinnloses Hinundherlaufen. Reinhardt steht daneben und steigert. Mit knappen Worten, eindringlich, bis er endlich, selbst mitgerissen, an dem wilden Hasten teilnimmt, bis die Szene die höchste Spannung erreicht hat, ein Tempo, das nicht mehr überboten werden kann. Mit einer überaus charakteristischen, sich immer wiederholenden Wendung ging Reinhardt nach einem solchen Eingreifen in sein Bühnenhäuschen zurück. Er wurde wieder nur Stimme.

      In späteren Jahren verzichtete Reinhardt auf die Abgeschlossenheit dieses zerlegbaren Regiehäuschens, das ihn selbst auf Gastspielreisen begleitet hatte. Da stand sein Regietisch auf offener Bühne, auf einem in den Zuschauerraum vorgebauten Podium oder, bei den letzten Proben, in den ersten Parkett­reihen. Es war, als hätte sich im Laufe der Zeit die Atmosphäre, die von ihm ausging, wie eine Aura um ihn verdichtet. Sie wurde ihm zum Schutz, und es bedurfte keiner Wände mehr.

      Wenn Max Reinhardt das Theater betrat, seine Ledermappe, in der er das Regiebuch zur Probe brachte, unterm Arm, strebte er in schweigender Konzentration dem Regietisch zu. Jeder Aufenthalt, jede Unterbrechung war ihm unerwünscht. Und doch lauerten Mitarbeiter, Assistenten, Schauspieler auf ihn, um auf diesem kurzen Weg Fragen zu stellen und Mitteilungen zu machen. Wie oft hatte man nur diese wenigen Minuten, zwischen Bühneneingang und Zuschauerraum, um Antworten auf wichtigste Fragen, die ihn oder seine Arbeit betrafen, von ihm zu bekommen.

      Zuschauer bei Proben störten ihn sehr. Es war schwer, von ihm die Erlaubnis zu erlangen, Proben beizuwohnen, und er beschränkte dieses Privileg auf wenige Bevorzugte, von denen er wusste, dass ihr Interesse ehrlich und von Verständnis gedeckt war.

      Manchmal verlegte er seine Probenarbeit nach Hause. Da konnte er, in größerer Ruhe als im Theater, in der Arbeit mit einzelnen Schauspielern, vieles vertiefen, abschleifen, abrunden. Diese Stunden mit ihm, die sich oft bis in die tiefste Nacht erstreckten, waren für seine Darsteller das Wertvollste und Kostbarste. Solche Konzentration, dieses Geben und Nehmen, steigerte alle Kräfte und trug Früchte.

      Max Reinhardts Ruhe und Langmut auf Proben waren unbegrenzt. Aber auch seine Ausdauer. Unerbittlich gegen sich selbst, forderte er von seinen Schauspielern denselben eisernen Willen, Höchstes zu erreichen. Vor besonders schwierigen Premieren – wie etwa Fritz von Unruhs Phaea – wurde die Nacht durchprobiert, bis acht Uhr früh. Die Generalprobe von Faust, in der Salzburger Felsenreitschule, endete im Morgengrauen, und ahnungsvoller hat wohl kaum je »der Tag graut –« geklungen als an diesem fahlen, fröstelnden Morgen, im Schatten der steilen Felswand, auf deren Höhe schon der erste Widerschein verschleierter Sonne spielte.

      Es war Reinhardts Überzeugung, dass eine große Müdigkeit geradezu notwendig sei, um bei Darstellern den Widerstand letzter Hemmungen zu überwinden. Am Tag der Premiere war selbst nach den anstrengendsten Nachtproben noch eine Durchsprechprobe auf der Bühne, die nur zu oft zur Arbeitsprobe wurde und bis zum Beginn der Vorstellung dauerte.

      Während der letzten großen Proben musste man im dunklen Zuschauerraum bei Reinhardt sitzen, um aufzuschreiben, was er an Schauspielern, Dekorationen, Musik etc. noch auszusetzen hatte. Aber auch sein Lob. Nach jedem Akt, manchmal erst am Ende der Probe, ging er dann zur »Kritik« auf die Bühne, um, unterstützt von diesen Notizen, mit Darstellern und anderen Mitarbeitern zu sprechen, oft Gesagtes zu wiederholen, zu ermutigen, zu loben, zu tadeln, Änderungen oder Striche anzuordnen.

      Aber auch das genügte ihm nicht. Wenn er von der Probe nach Hause kam, saß er noch bis tief in die Nacht beim Schreibtisch und notierte in Schlagworten, was seinen Schauspielern und Mitarbeitern am nächsten Tag vor Probenbeginn mitgeteilt werden sollte. Oft war es die Wiederholung des bereits Gesagten, aber noch öfter Neues, das ihm im Nachgefühl der Probe, in der Stille der Nacht, als unerlässlich klargeworden war.

      Die Schauspieler hatten kein besseres Publikum als Reinhardt. Sein Lachen war unmittelbar, es entzündete sich an einer Bewegung, an einem Gang, am Gesichtsausdruck eines Darstellers, an einem Tonfall. Seine Tränen flossen gewissermaßen nach innen. Nach einer ergreifenden Szene, nach einem tragischen Schluss, sah man ihn oft mit rotgeweinten Augen weggehen. Gewisse Stücke, die sehr erfolgreich waren, sehr viel von ihm selbst empfangen und auch in der Darstellung etwas ihm besonders Liebenswertes hatten, ergriffen ihn stets aufs Neue. Das waren Inszenierungen, die er sich auch nach der Premiere immer wieder ansah. Oft stand er nur hinter der letzten Parkettreihe, oder er ging in eine Loge. Es bedeutete den Schauspielern sehr viel, wenn es hieß: »Der Professor ist im Haus.« War es ein Lustspiel, so blieb es nicht lange verborgen, wo er saß: sein spontanes Lachen erhob sich in dem dunklen Theater wie ein Trompetenstoß über dem Publikumslachen und verriet ihn.

      Expressionismus

      Das Grauen des Krieges schritt in diesen Jahren unaufhaltsam, mit bleierner Schwere vorwärts. Es galt, Schritt zu halten oder unterzugehen. Es galt, im Chor der Todgeweihten die Stimmen zu hören, die sich über die Zeit erhoben, denen es gegeben war, eigene Not und die Not der Zeit zu gestalten, es galt, mit letzter Kraft, der Stimme dieses jungen Deutschland Gehör zu verschaffen, ehe sie in grauenhaftem Tode auf den Schlachtfeldern verstummte. Der Theaterverein »Das junge Deutschland« (auf Initiative von Maximilian Harden im Rahmen des Deutschen Theaters gegründet und von Heinz Herald geleitet) hatte sich dieses Ziel gesteckt. Der Bettler von Reinhard Sorge, in der Inszenierung von Max Reinhardt, war das erste Stück in einer Reihe von Werken jüngster deutscher Dichter. Reinhard Sorge war 1916 im Westen gefallen. Sein Werk: ein Versprechen – das Max Reinhardt einlöste. Er hat dem Relief dieses lyrischen Dramas dreidimensionale Tiefe gegeben. In Einfühlung und im Vorfühlen neuer Ausdrucksformen hat er sich hier zum ersten Mal expressionistischer Ausdrucksmittel bedient. Gleichzeitigkeit des Geschehens hinter Schleiern, Ineinandergleiten von Szenen, wie in der unvergesslichen Kaffeehausszene. Stimmen, Farben. Traumhaft kommen und gehen Gestalten. Die Bühne wird schwer von ihrem Geschick.

      Was Max Reinhardt hier schuf, griff tief in die Zeit, die damals um ihn war, die sich wandelte, in der alles im Fluss war wie in einem brodelnden Vulkan. Dichtung, bildende Kunst, Musik – alles rang nach neuem Ausdruck, stammelte, wie in den Dada-Schöpfungen, setzte neue Klangwerte anstelle der alten oder zerlegte Form und Farbe. Was Reinhardt turmhoch über die vergänglichen Kunstströmungen dieser Tage erhob, war eine innere Stetigkeit.

      Die Gestalten, denen er Leben verlieh, waren durchblutet, keine Schemen. Das offenbarte sich in Paul Wegener, der den Vater ergreifend darstellte, bei Ernst Deutsch als seinem Sohn, vor allem aber bei Helene Thimig in der Rolle des Mädchens. Instinktiv hatte sie die Melodie dieser neuen Zeit­strömung erfasst. Das Wort war bei ihr nicht Träger der Empfindung, sondern Krönung, Sublimierung des Sinnes. Als Max Reinhardt sie im Frühjahr 1917 engagierte, hatte er sie noch nie spielen gesehen. Nur einmal hatte er sie im Theater von einer Loge aus beobachtet, als sie einer Aufführung des Lebenden Leichnams von Tolstoi beiwohnte. Ihr auffallend starkes Reagieren und Mitgerissensein während der Vorstellung hatte ihn davon überzeugt, dass da eine Begabung sein müsse.

      Er beauftragte Felix Hollaender, sich mit ihr in Verbindung zu setzen, ließ sie durch ihn auffordern, zu ihm zu kommen. Sie sprach die Marianne in Goethes Die Geschwister vor. Bei dieser ersten Unterredung erzählte er ihr schon von seinen fernsten Plänen: ein Theater in Hellbrunn oder in der Schweiz. Eine Tournee sollte ihn damals nach Schweden führen. Er forderte Helene Thimig auf, daran teilzunehmen, trug ihr die Viola in Was ihr wollt, die Rolle des Mädchens in Strindbergs Gespenstersonate und die Natascha in Gorkis Nachtasyl an. Zunächst setzte sich aber ihrem Engagement an das Deutsche Theater vieles entgegen. Lucie Höflich hatte es kontraktlich, dass Helene Thimig nicht engagiert werden dürfe … Der Vertrag mit dem Königlichen Schauspielhaus in Berlin lief noch bis 1918. Er konnte erst nach schwierigen Verhandlungen um ein Jahr früher gelöst werden. Aber endlich, am 17. April 1917, unterschrieb Helene Thimig einen fünfjährigen Vertrag mit