Gusti Adler

"...vergessen Sie nicht die chinesischen Nachtigallen."


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      Seit ich beim Theater bin, wurde ich von einem bestimmten Gedanken verfolgt und schließlich geleitet: die Schauspieler und die Zuschauer zusammenzubringen – so dicht aneinander gedrängt wie nur möglich.

      Dieser Gedanke bewog Reinhardt zum Bau der Kammerspiele. Überdies hatte sich die Notwendigkeit eines zweiten Theaters, in dem kleinere Stücke aufgeführt werden konnten, bald nach der Eröffnung des Deutschen Theaters herausgestellt. Neben dem Theatergebäude war ein Tanzlokal von übelstem Ruf, das aber einen Teil der Miete bezahlte. Reinhardt schloss dieses Etablissement und betraute den Messel-Schüler William Müller mit dem Umbau. Besessen von dem Wunsch, Publikum und Schauspieler näher zusammenzubringen, ließ er die Bühne nur durch zwei Stufen vom Zuschauerraum trennen. Er nannte dieses kleine Theater: Die Kammerspiele. Bald gliederten zahlreiche andere Bühnen ihren Häusern kleine, intime Theater an, denen sie ebenfalls den Namen Kammerspiele gaben.

      Der Raum in der Schumannstraße fasste nur etwa dreihundert Personen. Die Sitze waren ungewöhnlich bequem. Darüber hat Reinhardt nach Jahren geschrieben:

      Später habe ich gefunden, daß das alles ein Irrtum war: das kleine Haus, die Nähe der Bühne, die allzu bequemen Sitze. Die Kammerspiele faßten zu wenig Leute, und die Qualität des Publikums wächst mit seiner Quantität.

      Reinhardt ließ damals am ersten Abend niemals Presse in die Vorstellung. Das allerbeste, exklusivste Publikum hatte ein Abonnement für Premieren. Die Kritik kam erst am zweiten Abend. Auch das hat er im Lauf der Jahre als Irrtum erkannt:

      Es geschah nämlich, daß die ersten Abende immer unentschieden blieben. Erst später, wenn das allgemeine Publikum drin gewesen war, konnte man feststellen, ob es ein Erfolg gewesen sei. Das sogenannte »gute« ist nämlich in Wirklichkeit das schlechteste Publikum. Abgestumpfte, unnaive Menschen. Unaufmerksam, blasiert, selbst gewohnt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Das Premieren-Publikum ist bekanntlich vor Werken durchgefallen, die später Ewigkeitswerte geworden sind. Werke Mozarts, Richard Strauss’, Johann Strauß’, Molières. Gut ist nur die Galerie.

      Die Eröffnungsvorstellung Gespenster wurde zu einem Triumph. Reinhardt führte Regie und spielte den Engstrand. Sorma: Frau Alving; Höflich: Regine; Moissi: Oswald; Kayssler: Pastor Manders. Das Dunkel der Dekorationen von Edvard Munch führte in die Tiefe, Qual schrie daraus, krankhaft bleiche Gestalten gaben letzte Geheimnisse, ihre Schicksale preis. Gespenster war schon oft in Berlin gespielt worden, aber nichts reichte an die Geschlossenheit, an die antike Größe dieser Aufführung heran.

      Dann folgte, umstritten, angegriffen, Frühlingserwachen. Von Reinhardt mit unbeschreiblicher Zartheit inszeniert, in den herben Zauber der Dekorationen von Karl Walser gestellt. Moissi, Camilla Eibenschütz und Wedekind selbst, der den Vermummten Herrn in der Friedhofsszene spielte.

      Im Laufe der Jahre spielte Reinhardt in den Kammerspielen fast alle Strindbergstücke; er inszenierte die Lysistrata des Aristophanes, Aglavaine und Selysette von Maeterlinck, Der Tor und der Tod von Hofmannsthal und viele Klassiker. Seine Stellung im Berliner Theaterleben war gefestigt, seine Ziele waren gesteckt, er fühlte seine Stärke und kämpfte um die Erfüllung seiner Jugendträume. Herman Bang sah ihn bei der Aufführung von Der Tor und der Tod. Er hat den Eindruck geschildert, den er von den Kammerspielen davontrug. Gleichzeitig beschwört er ein Bild des jungen Reinhardt – der damals 35 Jahre alt war –, das für seine hohe dichterische Fähigkeit, einen Menschen zu durchschauen und transparent werden zu lassen, zeugt:

       … Max Reinhardt, der Herr des Hauses.

      Er ist klein, im Wesen gelassen, etwas ferne. Die Augen wach, oder mehr als das: wachsam, mit einem Funken von Mißtrauen. Ein Mann, der wartet und auf seinem Posten ist. Aber jetzt, wo er lächelt, wird das Gesicht plötzlich so jung, wie es ist, und leuchtet von ich weiß nicht was – ja, von einer kecken, unwiderstehlichen Bravour leuchtet es. Dieser Mensch ist ein Spieler am Tische. Und mit derselben heimlichen Verachtung würde er die Bank sprengen – oder sich ruinieren lassen, während er lächelt wie ein übermütiger Knabe.

      Indes er mit mir spricht und ich auf den Klang seiner Stimme horche – einer Stimme von behutsamem Klang, die sich vorwärts probiert –, denke ich an all die verborgenen Stürme, all die verwegene Anspannung, den heißen Strom des Ehrgeizes, um den diese Ruhe sich mit unbezwinglichem Willen wölbt, wie eine deckende, verhüllende Rüstung.

      Was hat mehr erheischt:

      Das Werk oder das Gitter?

      Das Werk: es zu verwirklichen, auf Bühnen, die von dem Unbekannten erobert werden mußten; unter einem Dach, das mit leeren Händen aufgerichtet werden sollte; mit Helfern, die stets nahe daran waren, zu zweifeln; mit Anhängern, deren flache Hand bereit war, sich im nächsten Moment zur Faust zu ballen; in einer Gesellschaft, die fremd war und nur durch Überrumpelung besiegt werden konnte, die sich ewig erneuen mußte; mit Hilfe der Schauspieler und der Regisseure, die darangingen, durch die letzten Wunder der Maler, der Techniker, der Musiker, der Zeichner die gewagtesten und ungeheuersten Träume eines überströmenden Geistes in Fleisch und Blut zu verwirklichen, so daß sie an Tausenden wie ein lebendiges Märchen vorbeizogen, eine Sprengung und Erneuerung der Bühnenkunst.

      Das war das Werk, von einem Dreißigjährigen geschaffen.

      Aber was kostete mehr – das oder das Gitter? Das Drahtgitter des Fechters, das er im Kampfe vor sein Antlitz klebte? Die Ruhe, zu der der Siedende sich zwang, um zu decken und zu entfernen und zu siegen und zu erreichen?

      Der Feldherr, der Max Reinhardt ist, lernte diese Ruhe. Aber was hat es ihn gekostet, sie zu lernen …? Während ich bei dieser Generalprobe diesen jungen stillen Menschen betrachte, dessen verborgene Probleme vielleicht nicht ein Lebender kennt, aber dessen Tiefe und Ungestüm man erraten kann – denke ich (und lächle selbst darüber, obgleich gar kein Grund zum Lächeln ist) unwillkürlich an jenen unsrer Truppenführer, der Handschuhe wechselte mitten in einem Kugelregen …

      Einem Kugelregen. Ah, auch Max Reinhardt wird sein Pfeifen gehört haben.

      Eine Glocke ertönt – vornehm wie alles in diesem Haus, wo es von Dienern in Kniehosen wimmelt, von Inspektoren mit geschäftigen Gesichtern, von Kastellanen mit breitschultriger Würde … Und wir brechen in den Saal auf. Ich weiß nicht, ob es auf der ganzen Welt einen so schönen Theaterraum gibt. Diese blanken Eichenwände, ohne andern Schmuck als die eigene Schönheit der weiten Flächen, sind von wundervoller Harmonie. Es soll in Bukarest, habe ich gehört, in Fürst Demeter Stourdzas goldnem Palast, ein Haustheater geben, das ungefähr dieselben Verhältnisse hat. Aber Fürst Stourdzas Weiß und Gold kann sich nicht mit der stolzen Schlichtheit dieser Eichenwände messen – wo die hohen Kerzen der Lampetten langsam verlöschen, so daß der Schein hinstirbt und uns von Tagesklarheit in Dämmerung einhüllt und zuletzt in Dunkelheit … Der Zuschauerraum ist voll …

      Dort vorn nimmt Max Reinhardt Platz, umringt von seiner Helferschaft. Hinter ihm wir andern – ganz still.

       …Jetzt verdunkelt es sich, man löscht aus, und es wird Nacht …

      Das ist: Der Tor und der Tod. Der Vorhang ist zurückgeglitten.

      Der magische Kreis

      Reinhardt hatte nun zwei Theater. Das größere ein idealer, einzigartiger Raum für Klassiker, für Gesellschaftsstücke: das Deutsche Theater, und daneben die Kammerspiele, in denen er versucht hatte, seinen Traum von räumlicher Nähe von Schauspieler und Publikum zu verwirklichen. Aber immer noch fehlte etwas zu dem lebendigen Kontakt:

      …die wunderbare Wechselwirkung im Zusammenspiel zwischen Zuschauer und Schauspieler, dieser Zeugungsakt, der die uralte Institution des Theaters unsterblich macht.

      So kehrte Reinhardt schließlich zur Form des antiken Theaters zurück, in dem die Bühne in den Zuschauerraum hineingebaut war, die sogenannte Orchestra, in der früher die Chöre um den Altar standen und wo die Zuschauer in einem Kreis um die Schauspieler saßen. Er hat darüber folgendes geschrieben:

      Das Theater ist Jahrtausende lang ohne Dekorationen ausgekommen. Welcher Bühnenkünstler