Gusti Adler

"...vergessen Sie nicht die chinesischen Nachtigallen."


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guter Schauspieler wird nicht nur um Hekuba weinen können – er kann statt eines Kindes ein Stück Brennholz im Arm haben und seine Zuschauer tief erschüttern. Er braucht nicht einmal einen Partner. Wir wissen, daß von einem Monolog die stärksten Wirkungen ausgehen können und daß auf dem antiken Theater der zweite und der dritte Charakter erst von Aischylos eingeführt wurde. Eines braucht er unter allen Umständen: – den Zuschauer. Ein Schauspieler kann nur spielen, wenn ihm jemand zuschaut und zuhört. Ein Stück kann bis zum letzten Detail geplant, ausgearbeitet und festgelegt sein (Stanislawski hat in Moskau manche Stücke ein Jahr lang und länger probiert) – und es wird doch erst im Zusammenspiel zwischen Zuschauer und Schauspieler lebendig gezeugt und geboren werden. – Der Schauspieler mißt seine Kräfte mit dem Gegner im Dunkel, den er bezwingen und zu seinem entscheidenden Helfer, zu seinem Mitspieler machen muß.

      Reinhardt verbrachte 1910 seine kurzen Sommerferien – vor Beginn der Münchner Festspiele – in England. Er sah der Arbeit in dem »Kindersärgle« – wie er das winzige Künstlertheater auf der Theresienhöhe nannte – mit Unlust entgegen. Das Vorjahr war ihm trotz des ungeheuren künstlerischen Erfolges durch Schikanen der Münchner Künstlerclique – »die Rettichschädel« –, durch Polizeizensur und kleinstädtische Presse verleidet worden. Er schrieb darüber aus Maidenhead an seinen Freund und Helfer Berthold Held:

      Der Bürgermeister z. B. hat sich ja ausgezeichnet benommen und viele andere auch, ich will nicht ungerecht sein. Wir haben im Vorjahr eine erhebliche Summe Geldes zugesetzt und, was mir mehr ist, eine ungeheure, beispiellose, noch nie dagewesene Summe künstlerischer Arbeit, wie sie das kleine gemütliche dicke verschlafene Rettignest sich nie hat träumen lassen, wie sie wohl in solcher Anspannung, mit so sorgfältiger minutiöser Vorbereitung, so bahnbrechenden lnszenierungsgedanken, so vielen wundervollen schauspielerischen Individualitäten in den schönsten Meisterwerken unserer Dichtung überhaupt noch nie in eine so kurze Frist gedrängt wurden. Nirgends! Von München zu schweigen, dessen Tradition es ja ist, alles Echte, Große, Künstlerische, Herbe zu vertreiben und den mittelmäßigen Nachtretern Tempel zu bauen.

      Das einzige, was ihn in diesem Sommer reizen konnte, trotzdem wieder nach München zu gehen, war der Gedanke, in der großen Musikfesthalle auf der Theresienhöhe einen Plan zu verwirklichen, der in diesen Wochen in ihm wuchs und Gestalt anzunehmen begann:

      Ich habe einen merkwürdigen Inszenierungsplan für die Halle – Ödipus – im Kopf, von dem ich Dir erzählen werde, da Du hervorragend dabei beteiligt werden sollst. Es kann etwas ganz Besonderes, Neues werden. Ich bitte Dich aber nicht davon zu sprechen, weil wir mit der Halle noch keinerlei Abmachung haben. Es würde mich freilich sehr reizen, da es sich hier um bahnbrechende wichtige Dinge handelt. Beschaffe Dir nur rechtzeitig Chorpersonal, Sprecher, Schauspieler (am Ort) und viele junge schöngewachsene Männer, die fast ganz nackt gehen müssen. Das kann unter Umständen eine Trouvaille werden!

      So kam Reinhardts erste Ödipus-Aufführung zustande. Die Musikfesthalle fasste Tausende von Menschen. Sie alle wurden in das Spiel einbezogen: an ihnen vorbei stürmte durch die Mitte des Hauses das Volk der Thebaner zur Bühne. Aufschrei und Stille – Tragödie der Antike in die Gegenwart getragen und wieder auferweckt. Aber noch fehlte das Rund des antiken Theaters. Es drängte Reinhardt, Ödipus auch in Berlin zu zeigen. Wenn er von der Lebensnotwendigkeit eines Entschlusses durchdrungen war, fand er stets einen Weg zur Verwirklichung. Es fehlte an Zeit und an Geld, um den Rahmen für diese Inszenierung neu zu schaffen, aber Berlin hatte zwei Zirkusgebäude: Zirkus Schumann und Zirkus Busch. Leere große Räume, in denen sich nun das Wunder der Wiedergeburt des Theaters der Antike und später des mittelalterlichen Mysterienspieles mit elementarer Gewalt vollzog. Mit der orchestralen Behandlung der Chöre, der Stimme des Volkes in Hofmannsthals Bearbeitung von Ödipus und die Sphinx hatte Reinhardt im Deutschen Theater seine Erweckung des Theaters der Antike eingeleitet. König Ödipus im Zirkus Schumann brachte nun die höchste Erfüllung. Unvergesslich die Steigerung dramatischen Geschehens, getragen von der dunklen Masse der Zuschauer. Ein magischer Kreis um das Geschick, das sich, in grelles Licht entrückt, unerbittlich nach Urgesetzen menschlichen Dramas abrollte. Moissi, Wegener, Durieux, der Chor, das Volk, die Masse – von Reinhardt wie eine große Orchesterfuge dirigiert.

      Mit dieser Aufführung wurde Reinhardts Ruhm über ganz Europa getragen – von London über Wien, Budapest, Skandinavien, Polen, bis in das tiefste Russland. In einer Kritik über sein Gastspiel in Petersburg 1911 heißt es:

      Reinhardts Ödipus-Aufführung im großen Zirkus Ciniselli wirkte vielfach wie eine Offenbarung. Die wunderbare Sprache des jungen Moissi riß die Zuschauer ebenso hin wie die noch nie gesehene Entfesselung von Massen auf dem Theater. Um die Massenwirkungen zu erzielen, brauchte Reinhardt Menschen, und sofort stellten sich ihm Kräfte aus der besten Petersburger Gesellschaft zur Verfügung.

      In manchen Städten arbeitete er mit anderssprachigen Darstellern – in London mit John Martin-Harvey und englischen Schauspielern – in Budapest mit ungarischen Künstlern. Das hat sich im Laufe seines Lebens oft wiederholt: mit Schweden und Franzosen, mit Italienern und Letten, Amerikanern und Dänen. Max Reinhardts Ausdrucksfähigkeit überbrückte den trennenden Abgrund einer fremden Sprache. Wesentliches bedurfte keines Dolmetschers. Wohl lief der anderssprachige Text in seinem Regiebuch mit dem deutschen Text parallel, und ein Hilfsregisseur des betreffenden Theaters stand ihm zur Seite, aber, was er dem Schauspieler gab, war Bewegung, Ton, Ausdruck, und so zwingend war diese Regiesprache, dass sie die wundervollsten Ergebnisse zeitigte. Das »Volk« wurde an Ort und Stelle engagiert und einstudiert. Meist waren es Studenten der jeweiligen Universität. Ihre Begeisterung war groß, und sie ließen sich nur zu gerne von der hinreißenden Welle Reinhardtscher Regie tragen. Die Liebe zu jungen Menschen, der Glaube an sie, hat Reinhardt von seinen frühesten Anfängen sein Leben lang begleitet. Er verstand sie zu führen, zu einem Ensemble zusammenzuschweißen und ungeahnte Kräfte in ihnen frei zu machen.

      1912 bannte Max Reinhardt die Orestie des Aischylos in den Raum des Zirkus, den er beherrschte wie ein edles Instrument. Er füllte ihn mit Schwingungen von atemloser Spannung bis zum elementaren Ausbruch höchster Leidenschaft. Die tausendköpfige Menschenmasse der Zuhörer wurde zum tönenden Resonanzboden und folgte jeder Regung.

      Mit dem mittelalterlichen Stück vom Sterben des reichen Mannes Hofmannsthals Jedermann – knüpfte Reinhardt an die Welt der frühen Mysterienspiele an. Diese einfachste aller Geschichten hat ihn bis an sein Lebensende gefesselt. Sie ist über die Welt gegangen. Von der Aufführung im Zirkus Schumann an, auf Gastspielreisen, über ganz Europa, 1927 ins Century Theatre in New York, vor allem aber in ungebrochener Kette (mit nur einer Unterbrechung, 1923 bis 1925), von 1920 bis 1937, auf dem Salzburger Domplatz bei den Festspielen, wo sie sich als die stärkste und aktivste Attraktion erwies. Eine Glanzrolle Moissis, an der er wuchs, bis ihn zuletzt – auch ihn – das Schicksal ereilte, das er Tausenden viele Jahre hindurch so erschütternd nahe gebracht hatte. Aber damals waren alle jung – Reinhardt 38 Jahre alt, die Schauspieler, die Dichter um ihn, die Musiker, die Maler, die er heranzog, alle in der Blüte ihrer Schaffenskraft. In weitem Bogen erstreckte sich das Repertoire des Deutschen Theaters, der Kammerspiele und des Zirkus Schumann. Von dem Drama der Antike über das Mittelalter, Shakespeare, die deutschen und französischen Klassiker, bis zu Ibsen, Strindberg, Wedekind in die Gegenwart.

      Die Form der Pantomime hatte Max Reinhardt seit jeher gelockt. So schlug er Karl Vollmoeller vor, eine mittelalterliche Legende – etwa in der Art von Maeterlincks Schwester Beatrix, ein Stück, das er 1904 im Neuen Theater aufgeführt hatte – zu bearbeiten. Charles B. Cochran, der englische Producer, kam gerade um diese Zeit nach Berlin, wo er König Ödipus sah. Er wollte diese Aufführung durchaus nach London verpflanzen, in die ungeheuer große Olympia Hall. In seiner Begeisterung vergaß er dabei, dass es unmöglich gewesen wäre, das gesprochene Wort dort zu verstehen. Reinhardt war damals in Budapest. Cochran reiste ihm nach. Man einigte sich auf eine Pantomime, und Vollmoeller, der Anregung Reinhardts folgend, skizzierte das Mirakel. Der Vertrag mit Cochran wurde abgeschlossen, und am 23. Dezember 1911 fand die Uraufführung in London statt.

      Mit der Aufführung von Jedermann und Mirakel hat Reinhardt frühen mittelalterlichen Legenden Leben eingehaucht und aufregendes Drama geschaffen. Denn untrennbar von seiner Arbeit als Regisseur war der schöpferische Anteil, den er an der Dichtung selbst