Brief mit. Wie immer bei wichtigen Entscheidungen in seinem Leben arbeitete er lange an diesem Schreiben, wog Sinn und Worte, erforschte sein eigenes Herz. Schließlich schrieb er am 20. Juli 1902 aus Scheveningen an Held:
Den Brief an Brahm habe ich nun endlich geschrieben und abgesandt und bin gespannt auf die Antwort. Die Würfel sind gefallen.
Brahm war schwer gekränkt. Es bewirkte einen Bruch seiner Freundschaft mit Reinhardt. Er ließ ihn auch ohne weiteres die Konventionalstrafe von 14 000 Goldmark bezahlen. Reinhardt, den nicht nur diese Schwierigkeiten, sondern auch die negative Einstellung seiner Freunde zu seinem Plan reizten, glückte es, das Geld dafür und für die Gründung des Kleinen Theaters Unter den Linden aufzubringen. Mit der Gründlichkeit, die ihn schon damals auszeichnete, legte er in langen Briefen an seine Mitarbeiter jede Einzelheit der baulichen, künstlerisch und feuerpolizeilich notwendigen Änderungen fest. Er engagierte erfahrenes technisches Personal und suchte vor allem ein Ensemble zu bilden, das den Aufgaben, die er sich gestellt hatte, gewachsen war. Es gelang ihm, Emanuel Reicher, Victor Arnold, Friedrich Kayssler, Hans Waßmann, Rosa Bertens und Gertrud Eysoldt zu verpflichten. Er sah alles vor sich, wie später bei der Inszenierung eines Stückes. Durch Hindernisse ließ er sich schon damals nicht abschrecken. Immer verlangte er mehr, als erfüllbar schien, und sein starker Wille erreichte schließlich auch, was er anstrebte.
Anfangs ging das Theater schwach. August Strindbergs Rausch mit der Eysoldt brachte den ersten größeren Erfolg. Sie spielte dann auch die Titelrolle in Oscar Wildes Salome. Das Stück war von der Zensur verboten worden. Reinhardt war entschlossen, diesen Widerstand zu überwinden. Er führte Regie, wenn auch der Theaterzettel Hans Oberländer als Regisseur nennt. Die Aufführung fand an einem Nachmittag vor geladenem Publikum statt: Dichter, Musiker, Maler, die geistige Elite Berlins. Da waren Stefan George mit seinem Kreis, Richard Strauss, Eugen d‘Albert, prominente Literaten, Schauspieler und die Vertreter der Presse. Das Verbot der Behörden wurde ad absurdum geführt – sie sahen sich gezwungen, es zu widerrufen.
Aber noch fehlte Reinhardt ein dauernder, durchschlagender Erfolg. Um diese Zeit las er zufällig in einer Zeitung den Bericht über die Uraufführung von Maxim Gorkis Nachtasyl im Moskauer Künstlertheater. Das interessierte ihn in solchem Maß, dass er seinen Freund August Scholz nach Moskau schickte, um es sich anzusehen. Scholz brachte das Stück mit, und es wurde zu Reinhardts allergrößtem Erfolg im Kleinen Theater. Die Wirkung auf das Publikum war überwältigend. Rosa Bertens spielte darin, Reicher, Eduard von Winterstein, der junge Victor Arnold, Hans Waßmann und vor allem Reinhardt selbst, der am 1. Januar 1903 aus dem Verband des Deutschen Theaters ausgeschieden war. Nachtasyl hätte jahrelang auf dem Spielplan bleiben können. Der Kassenerfolg war ungeheuer. Reinhardt sah sich gezwungen, ein zweites Theater zu suchen. Nicht nur, weil er seine Bühne als Repertoiretheater weiterführen wollte, sondern auch, weil der Raummangel im Kleinen Theater die Wahl der Stücke erschwerte und die geringe Sitzzahl die Einnahmen beschränkte. So eröffnete Reinhardt das Neue Theater am Schiffbauerdamm mit Ludwig Thomas Lokalbahn. Für sein Regiedebüt an diesem Theater wählte er Maurice Maeterlincks Pelleas und Melisande. In Lucie Höflich hatte er eine geniale Darstellerin für die zarte Rolle der Melisande gefunden. Er selbst spielte den König Arkel, Louise Dumont die Königin. Diese Aufführung, in ihrem Zusammenklang von Darstellung, Musik und Dekoration, bedeutet einen Markstein in der Geschichte des Theaters, denn hier betrat Reinhardt vollkommen neue, bisher unbegangene Wege. Er zog von diesem Zeitpunkt an die ersten bildenden Künstler Berlins zur Mitarbeit heran: Lovis Corinth, Emil Orlik, Karl Walser, Alfred Roller, Max Slevogt. Für Minna von Barnhelm gelang es ihm sogar, den neunzigjährigen Adolph von Menzel dazu zu bewegen, ins Theater zu kommen und sein Gutachten über Kostüme und Dekorationen abzugeben.
Reinhardt stattete das Neue Theater mit den neuesten Errungenschaften der Bühnentechnik aus. Er kämpfte um eine Drehbühne, die genau nach seinen Angaben gemacht wurde. Der Widerstand seiner eigenen Mitarbeiter war schwer zu überwinden. Eine Himmelswölbung schien ihm ebenso unerlässlich. Seine Briefe zeugen dafür, wie leidenschaftlich er entschlossen war, Veraltetes zu eliminieren:
Was nun die Drehbühne anlangt, so soll sie unter allen Umständen gebaut werden. Aber es ist die höchste Zeit! – Ich lege auf diese Drehbühne den allergrößten Wert. – Solange das Theater existiert, haben sich die Leute »vom Bau« gegen Neuerungen gewehrt. Das macht mich nicht irre. Deshalb sind wir ja so weit zurück. In dem trüben Dunkel all der alten Bühnenhäuser haust das konservativste und faulste Pack, die schlimmsten Orthodoxen. Hätte ich all diesen Ochsen Gehör geschenkt, so wären wir heute nicht da, wo wir sind. Also ich verlasse mich auf Dich. Die Drehbühne steht funkelnagelfertig, wenn die Saison beginnt! – In jedem Fall aber, ob Drehbühne oder nicht, ob Tag oder Nacht, ob Fortuny oder Held oder Knina oder der Teufel selbst – die gottverfluchten Soffitten müssen ein für allemal verschwinden. Diese hundserbärmlichen Fetzen hängen noch in unser heutiges Theater aus jener Zeit hinein, in der man die Wäsche wegthat, wenn die Komödianten kamen.
Eine steile Erfolgskurve führt durch diese Jahre. Der künstlerische Ruf des Neuen Theaters festigte sich, wuchs hoch über die anderen Bühnen Berlins hinaus. Aber immer noch fehlte ein Zugstück, das den ewig latenten wirtschaftlichen Sorgen ein Ende bereiten konnte. Reinhardt fand es im Sommernachtstraum. Es wurde zum entscheidenden Erfolg seines Lebens. Er war damals 32 Jahre alt. Jung und doch so wissend, voll Freude am Spiel, so leidenschaftlich bereit, sich in diesem Märchenwald zu verlieren, Tiefen auszuschöpfen, aus denen er von dieser Stunde an sein Leben lang immer neue Schätze holen sollte. Er ließ junge Menschen von jungen Menschen spielen. Von der Drehbühne getragen, löste sich ein Wald mit richtigen Bäumen geheimnisvoll aus den Schleiern der Nebelschwaden. Ein Moosteppich bedeckte den Bühnenboden. Dicke Glasscheiben im Hintergrund der Bühne täuschten einen See vor. All das waren Neuerungen, die zündend wirkten, die wie eine Rakete das nordische Grau der zeitgenössischen Klassiker-Aufführungen zerrissen. Noch niemals war dieses Stück so gespielt worden. Es wurde mit einem Schlag transparent und entzückte das Publikum. Ein beispielloser Erfolg, der für Reinhardts weitere Laufbahn entscheidend wurde.
Als er sich zu dieser Inszenierung entschlossen hatte, war er in die Berge gefahren, um dort in Ruhe an seinem Regiebuch zu arbeiten. Tagsüber rodelte er, abends saß er in der kleinen Wirtsstube seines Gasthofes und arbeitete. Seine Phantasie erweckte Gestalten zum Leben, die nunmehr unlöslich mit ihm verbunden bleiben sollten. Er hat den Sommernachtstraum bis an das Ende seiner Tage immer wieder inszeniert, immer wieder verschieden, immer wieder vertieft, bereichert und vereinfacht. Diese Shakespeare-Aufführung machte ihn über Nacht zum ersten Regisseur Deutschlands.
Deutsches Theater
Es war ein stolzer Tag für Max Reinhardt, als der alte L’Arronge zu ihm kam und ihm anbot, das Deutsche Theater zu übernehmen. Eine größere Auszeichnung konnte einem jungen Menschen nicht zuteil werden. Das Deutsche Theater war das beste, das berühmteste in Deutschland. Adolph L’Arronge, der Besitzer, hatte es, als er den Vertrag mit Brahm nicht erneuerte, Paul Lindau übergeben, der es ein Jahr lang führte, ohne dass es ihm gelungen wäre, Erfolge zu erzielen. Reinhardt griff mit beiden Händen zu und unterschrieb den Vertrag, der ihn zur Übernahme im Herbst 1905 verpflichtete, mit der Bedingung, dass er das Kleine Theater und das Neue Theater aufgebe und sich ausschließlich dem Deutschen Theater widme. Jedoch der tiefste Grund für Reinhardts Entschluss war von der Sorge um seinen Bruder Edmund diktiert, der an Depressionen litt, die ihn manchmal an den Rand des Selbstmordes trieben. Reinhardt wollte ihn mit dieser Direktion vor eine verantwortungsvolle Aufgabe stellen, ihn dadurch zwingen, an sich selbst zu glauben. Der Erfolg dieses Schrittes rechtfertigte seine Hoffnung, übertraf seine kühnsten
Erwartungen.
L’Arronge hatte das Theater mit allerhand Tapeten und Vorhängen ausgestattet, die Reinhardt sehr missfielen. Vergeblich bat er L’Arronge, ihn das Deutsche Theater umbauen zu lassen, aber der alte Mann wollte nichts davon wissen. So blieb Reinhardt schließlich kein anderer Ausweg, als das Theater zu kaufen. Es gelang ihm und seinen Helfern, vor allem Edmund Reinhardt, prominente Geschäftsleute, die Interesse am Theater hatten, dafür zu gewinnen, sein Unternehmen zu finanzieren. Der notwendige Betrag kam in überraschend kurzer Zeit zusammen. Reinhardt fuhr sofort mit seinem Bruder nach Paris, um vor dem Umbau noch die Einrichtungen