Gusti Adler

"...vergessen Sie nicht die chinesischen Nachtigallen."


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kam zu ihm auf die Bühne und sagte, dass er sich für ihn interessiere. Er erzählte ihm von einem Dr. Otto Brahm, der das Deutsche Theater in Berlin (das größte Theater in Deutschland, nach dem Muster der Comédie Française, mit lauter allerersten Schauspielern) in zwei Jahren übernehmen sollte und der gerade in Wien sei. Er wolle ihn mit ihm bekannt machen. Reinhardt hat dieses Zusammentreffen mit Brahm beschrieben:

      Und so traf ich ihn am nächsten Tag am Ring, im Café Opera. Er verwickelte mich in eine Konversation, im Lauf derer er mich nach der chronologischen Reihenfolge der Schillerschen Dramen fragte. (Er war Germanist.) Ich hatte keine Ahnung. Nichtsdestoweniger bestellte er mich für den nächsten Tag ins Hotel Sacher, wo ich ihm vorsprechen sollte. Ich sehe noch das Zimmer vor mir, es sah aus wie ein langer Gang, und Brahm saß am Fenster. Ich konnte ihn gar nicht sehen. Ich sprach die »Traumerzählung«, und er bot mir sofort einen Vertrag für Berlin an. Das war natürlich für einen jungen Menschen ein unbeschreiblicher Glücksfall. Er gab mir ein Jahr Zeit und riet mir, inzwischen mein Freiwilligenjahr zu machen. Ich wollte aber gleich spielen. Und so ging ich nach Salzburg. Das heißt – in Salzburg begann die Saison erst im Herbst, und da sie in Rudolfsheim vor dem Sommer zu Ende war, ging ich auf zwei Monate in ein Sommertheater nach Preßburg. Das Sommertheater war eine richtige Schmiere, im wahrsten Sinn des Wortes. Der Direktor hieß Berthal, und es gab einen Regisseur namens Martens. Gespielt wurde nur, wenn es nicht regnete. Mein Vertrag mit dem Deutschen Theater half. Man gab eine Benefiz-Vorstellung für mich. Zwar war es nur ein Schein-Benefiz, denn ich bekam nichts davon, aber immerhin durfte ich mir meine Rolle wählen. Natürlich wählte ich den Franz Moor. Aber mitten in der Vorstellung fing es an zu regnen. Das Publikum stand auf und ging langsam fort, doch ich wollte um keinen Preis zu spielen aufhören. Der Direktor stand in der Kulisse und winkte mir wütend, abzugehen. Und so mußte ich, mitten im Monolog – abbrechen …

      Wie sich das in einer richtigen Schmiere gehört, schenkte mir die Frau Direktor mehr Aufmerksamkeit, als vielleicht unbedingt nötig gewesen wäre. Einmal mußte ich mit ihr bootfahren. Wir fuhren in romantische Gegenden, aber das Unternehmen blieb erfolglos. Ich fürchtete, man würde mich kündigen, aber es kam nicht so schlimm. Man reduzierte nur meine Gage. In den zwei Sommermonaten in der Preßburger Arena habe ich gelernt, wie es nicht sein soll. Und auch das war gut. Man muß immer von unten anfangen. Preßburg war so tief unten wie nur möglich. Es war die »Schmiere« in des Wortes verwegenster Bedeutung. Es konnte nur besser kommen. Ich war reif für ein richtiges Engagement. Und so reiste ich im September nach Salzburg.

      Salzburg

      Max Reinhardt ging zu Fuß zum Westbahnhof. Er trug seinen kleinen Koffer. Die Eltern und seine sechs Geschwister begleiteten ihn. Schweigend gingen sie durch den grauen Morgen. Schweigend in die rauchige, lärmende Bahnhofshalle. Schweigend standen sie inmitten hastender Menschen auf dem Perron. Keiner sprach. Sie sahen einander nur an. Edmund stand etwas abseits. Ihn traf die Trennung wohl am härtesten. Max stieg ein, und als der Zug sich in Bewegung setzte, winkten alle mit Taschentüchern. Kein erlösendes Wort hatte den Bann dieses schweren Abschieds gebrochen.

      Max Reinhardt saß auf der hellen harten Bank der dritten Klasse. Über ihm stand sein kleiner Koffer, der seine Habseligkeiten in sich barg. Ein Schauspieler »musste einen Frackanzug, ein Paar Lackschuhe, einen schwarzen langen Rock und ein schwarzes Trikot für Kostümstücke haben«. Es war ihm gelungen, sich all das ziemlich billig zu verschaffen. Verwandte waren eingesprungen, um ihm über die erste Zeit hinwegzuhelfen. Ein paar Bücher, an denen er besonders hing, nahm er ebenfalls nach Salzburg mit. Sein Mittagessen war ihm vorsorglich mitgegeben worden, denn die Fahrt dauerte acht Stunden.

      Der Zug rollte hinaus in die herbstliche Landschaft, vorbei an Schönbrunn, das Max noch einmal wie ein Kindheitstraum grüßte, durch die hügelige Waldgegend, der Donau zu. Er sah das flache Land zwischen St. Pölten und Melk und dann das stolze Stift Melk, das herrliche Barockkloster. Der Zug hielt an den kleinsten Haltestellen. Reinhardt hat später oft gesagt, dass es immer gut sei, die Fahrt ins Glück im Bummelzug zu machen. Von dieser beseligenden Fahrt an habe er jede Sache, jeden Tag in diesem Tempo begonnen. Was er damals empfand, war reine Glückseligkeit. Es wäre schwer zu beschreiben, worin dieses Glück bestand. Er war ein armer, blutjunger Bursche, scheu, verschlossen, der nur wie zufällig in die Welt des Theaters geraten war, eine Welt, zu der er offenbar weniger passte als seine jungen Kollegen, die viel aufgeweckter, lebenstüchtiger, selbständiger, eleganter ausgestattet waren. Die Zukunft war ein verschlossenes Buch. 47 Jahre später schrieb Reinhardt darüber:

      Alles war Dämmerung um mich. Trotzdem hielt ich, preßte ich in meinen Händen etwas zusammen, als ob es das Kostbarste gewesen wäre. Und es war es. Ein dunkler, unbestimmter, aber freudiger Wille, mit dem ich es schaffen wollte.

      Das Zusammenpressen der Hände hat Reinhardt durchs Leben begleitet. Es blieb eine charakteristische Geste, wenn er alle seine Willenskräfte auf ein schwer erreichbares Ziel konzentrieren wollte. Die Bewegung des Zuges trug ihn. Im Rhythmus dieser Bewegung sprach er mit sich selbst. Dann sang er. Bauern stiegen ein und aus. Er sprach mit niemandem. Man stierte ihn an. Da ging er auf den Gang hinaus und blieb dort stehen. In der Dämmerung wuchsen Berge von beiden Seiten. Es ging höher hinauf. Auf den Gipfeln lag Schnee. Die Zeit wurde ihm nicht lang. Seine Gedanken liefen dem Zug voran. Die Wochen vor der Abreise waren voll Unruhe gewesen. Nun war er plötzlich in dieser Spanne allein, zwischen zwei Leben, konnte endlich über alles nachdenken, sich sammeln. Sein Herz war zum Zerspringen voll.

      So kam der Abend. Jemand sagte: »Salzburg«. Stadt und Berge waren dicht verschleiert. Es regnete. Der Platz vor dem Bahnhof war dunkel. Im unbestimmten Licht weniger Laternen sah Reinhardt Menschen mit Regenschirmen und Regenfleck. Man wies ihn zur Pferdebahn. So zog er ein in die Stadt, von der Alexander von Humboldt sagte, dass sie neben Neapel und Konstantinopel die schönste der Welt sei. Die Pferdebahnfahrt schien ihm länger als die Eisenbahnreise. Vielleicht sah er durch angelaufene Scheiben einen Augenblick lang etwas vom Mirabellschloss, vielleicht am Makartplatz sogar von ferne das Theater, dem er so ungeduldig zustrebte. Dann ging es durch eine enge Straße endlich einem belebteren Platz zu, der in die Brücke mündet, die zwei Stadtteile verbindet. Hier musste er aussteigen. Vor ihm ragte ein uraltes Haus, der Gasthof Zum Stein, den man ihm empfohlen hatte. Freundliche Wirtsleute wiesen ihn über steile Steintreppen hinauf zu seinem Zimmer. Die Einrichtung des langen einfenstrigen Raumes war denkbar einfach: Bett, Schrank, Tisch, ein Waschtisch mit Krug und Wasserbecken. Er trat ans Fenster. Da strömte die Salzach vorbei, ein gelbaufgeregter Strom. Vom gegenüberliegenden Ufer schauten die Türme der Kirchen herüber, über der Festung hingen schwarzblaue, regenschwere Wolken. Es hielt ihn nicht im Zimmer. Hinter dem Gasthof führten enge Gassen bergaufwärts. Ahnungsvoll kam das Abendläuten von allen Kirchen der Stadt. Er sah zwischen dunklen Mauern die schönen Bäume an der Salzach. Es hatte zu regnen aufgehört. Als er zum Abendessen in den Gasthof zurückkam, fand er eine Botschaft des Theaters vor: er solle sich am nächsten Morgen zur Probe einfinden. Die Wirtsleute setzten sich an seinen Tisch. Von freundlicher Neugierde getrieben, verwickelten sie ihn in ein Gespräch und versuchten, Näheres über ihn zu erfahren. Das Essen war einfach, aber schmackhaft, die Wirtsstube gemütlich. Später wies ihm dann das flackernde Licht einer Kerze den Weg in sein Zimmer.

      Als er früh aus einem tiefen Schlaf erwachte, hörte er vor allem das Rauschen der Salzach unter seinem Fenster. Ein wilder Fluss, der jeder Schifffahrt widerstrebt und die Stadt oft überschwemmt. Es war trüb, aber es regnete nicht mehr. Am Salzachufer schrien die Möwen. Menschen hasteten über die Brücke zum Rathaus hinüber. Das Theater war nur wenige Minuten vom Gasthof Zum Stein entfernt. Reinhardt konnte das neue Gebäude, dem er zustrebte, schon von weitem sehen.

      Das alte k. k. Theater aus dem Jahr 1775 hatte 1892 dem Helmer- und Fellner-Bau weichen müssen. Unzerstörbar haftete trotzdem an dieser Stätte die Erinnerung an eine ruhmreiche Vergangenheit. Hier waren Ende des 18. Jahrhunderts Werke zeitgenössischer Dichter, Lessing, Goethe, Schiller, und auch Mozarts Opern aufgeführt worden. Shakespeares Lear und Tiecks Genoveva, Komödien von Iffland und Kotzebue standen im Repertoire. Emanuel Schikaneder kam mit seiner Truppe. Unter der Direktion Anton C. Lechner ward schließlich das alte Gebäude niedergerissen, und nun sollte das neue Haus am 1. Oktober 1893 mit einer Aufführung von Ludwig Fuldas Märchenstück Der Talisman eröffnet