Repertoire des Salzburger Stadttheaters war in dieser ersten Spielzeit im neuen Hause sehr vielfältig. Max Reinhardt spielte alle ersten Rollen, in klassischen Stücken und zeitgenössischen Dramen. Er spielte den Oberstleutnant Schwartze in Heimat, den Musikus Miller in Kabale und Liebe, den Geßler in Wilhelm Tell und viele Rollen von Rudolf Tyrolt, meistens alte Herren. Aber auch in Dialektstücken – G’wissenswurm, s’Nullerl – und in Operetten.
Seine Kameraden waren junge Menschen. Bald fand er unter ihnen Freunde: ein jugendlicher Komiker, Anfänger, heiter, optimistisch; der andere, etwas älter, Held und Liebhaber, ein Pessimist. Am Abend, nach der Vorstellung, gingen sie zusammen ins Wirtshaus. Die Tage waren mit Proben und Lernen von Rollen ausgefüllt. Oft wurde die Zeit zu kurz, dann musste Reinhardt die Nacht zu Hilfe nehmen. Er ging in dem langen Zimmer auf und ab. Vor seinem Fenster stand die Nacht und immer, wie ein Orgelpunkt, tief unten das Rauschen der Salzach. Es war eine wundervolle Zeit, und Reinhardt hat oft gesagt, dass er in seinem ganzen Leben nie wieder so glücklich gewesen sei. Alles war neu: das Theater, der Beruf, die Menschen, die Umgebung. Die Zeit verging im Flug.
Auf den farbigen Herbst folgte zu Weihnachten tiefer Schnee. Reinhardt fuhr mit seinen Freunden im Schlitten nach Freilassing, wo sie das berühmte schwarze Bier tranken. Sie sahen Krippenspiele in der Stadt, hörten die wundervollen Chöre in den Kirchen, vor allem die gregorianischen Gesänge und die Hörnermusik auf dem Nonnberg, die freudigen Mozartmessen in St. Peter, das Blasen von den Türmen. Reinhardt sah zum ersten Mal die schlanke Pracht der Franziskanerkirche. 25 Jahre später plante er dort ein Weihnachtsspiel. Er verfiel dem Zauber der dunklen Straßen, durch die am Weihnachtsabend die Schritte der Gläubigen hallten, die zur Mitternachtsmette eilten, aus dem Schatten barocker Voluten in die jubelnde Kerzenpracht der Kirchen. Reinhardt sah auch noch die alten Tore der Stadt, die kurze Zeit nachher abgerissen wurden. Eine reiche Vergangenheit schaute aus jedem Haus, aus den Höfen, den Gittern, mittelalterlichem Gemäuer und Brunnen. Dazwischen aber strömte eine lebendige Gegenwart. Bauern in ihren malerischen Trachten kamen auf die Märkte, die alteingesessenen Bürger führten ihr behagliches Leben, hatten immer Zeit für Kaffeehaus, Bräu und Geselligkeit. Noch in späten Jahren hat Reinhardt ein »Sprüchel« über den typischen alten Salzburger zitiert, das er wohl damals gehört haben mag: » … Schau i zum Fenster ’naus, schau ob i wem siach, geh a bissl spazier’n, schau ob i wem triff, geh ins Kaffeehaus, ob’s was Neu’s gibt, Trinkgeld im Wirtshaus, trink meine zwei Glas’ln, geh z’haus – und doch bin i net glücklich…«
Reinhardt verkehrte im Haus des Hofbuchhändlers Kerber. Man traf sich dort nach dem Essen zum Kaffee. In diesem alt-österreichischen Milieu fand er einen Kreis geistig reger Menschen, hörte Kammermusik und genoss eine warme Gastfreundschaft. Zwei Kaffeehäuser – Tomaselli und Bazar – hatten schon damals ihr Stammpublikum, das scharf voneinander geschieden war: Schauspieler, Literaten, Künstler, Buchhändler und der pockennarbige gefürchtete Kritiker Ritter von Freisauff trafen sich im Cafe Bazar, während Salzburger Bürger das Tomaselli bevorzugten. Reinhardt ging mit seinen Freunden Max Marx und Berthold Held ins Cafe Bazar, das nur wenige Schritte vom Theater entfernt war.
Die Spielzeit in Salzburg endete am Palmsonntag. Während des Winters hatten auch verschiedene prominente Schauspieler im Stadttheater gastiert, darunter Friedrich Mitterwurzer in Paul Lindaus Stück Der Andere. Mitterwurzer war ein Riese mit erschreckenden blauen Augen. Reinhardt, der ihn maßlos bewunderte, musste ihn hypnotisieren! Er hatte große Angst vor ihm, aber Mitterwurzer hatte dafür Verständnis und kam ihm besonders freundlich entgegen.
Reinhardts Erfolge waren damals so groß, dass seine Freunde ihm rieten, in Österreich zu bleiben und nicht nach Berlin zu gehen. Er selbst war so selig in Salzburg, dass er am liebsten dort geblieben wäre. Aber Brahm kam kurz vor dem Ende der Spielzeit aus Berlin nach Salzburg. Direktor Lechner setzte alle Starrollen Reinhardts an. Brahm wohnte mit dem jungen Dichter und Dramaturgen Georg Hirschfeld im Österreichischen Hof. Reinhardt suchte ihn auf, sprach mit ihm und sagte ihm ehrlich, dass er nicht von Salzburg fortgehen wolle. Davon wollte aber Brahm nichts hören. Er strich die einseitige Kündigungsklausel (von seiner Seite) in Reinhardts Vertrag, erhöhte seine Gage, und so blieb Reinhardt schließlich nichts anderes übrig, als sich in das Unvermeidliche zu fügen.
Reinhardt sollte sein Engagement in Berlin erst im August antreten. Er beschloss, vorher noch einmal nach Wien zu fahren. Es fiel ihm schwer, sich in diese Stadt wieder einzuleben. Er hatte in Salzburg Wurzeln geschlagen, dort hatte er die ersten entscheidenden Erfolge errungen, dort war ein Freundeskreis, dem er sich verbunden fühlte, und er war in das Salzkammergut verliebt. So schrieb er schon nach kurzer Zeit aus Wien an Berthold Held:
Wenn Du bei Salzburg etwas finden würdest, wo sich’s gut und billig leben ließe – (irgendein Bauernhaus etwa) so würde sich vielleicht noch etwas aushecken lassen, auf 14 Tage 3 Wochen behufs Exkursionen ins ganze Salzkammergut. Es würde mir hier sogar an Gesellschaftern nicht fehlen. Die Sache müsste nur billig arrangiert sein.
Reinhardt war in dieser Zeit fast täglich mit seinem alten Freund Dr. med. Sigmund Schick zusammen, der seinen Urlaub im Salzburgischen zubringen wollte: » … ein hochgebildeter Mensch mit selten schönen Charaktereigenschaften und einem enormen tiefen Wissen«. Die Salzburger Reise kam nicht zustande, Reinhardt war aber trotzdem »momentan ganz zufrieden«. Dr. Schick hatte ihn dazu angeregt, die Vorlesungen des Psychiaters Krafft-Ebing zu besuchen. Der praktische Teil – die Vorführung von Patienten – war für Reinhardt natürlich vor allem vom Standpunkt des Schauspielers aus interessant. Ihn fesselte aber auch das Theoretische; er las einschlägige Werke, und lange Gespräche mit seinem Freund Schick erschlossen ihm Gebiete, die ihm bis dahin vollkommen fremd gewesen waren. Sein intuitives Wissen um die Psychologie des Menschen, das ihm selbst in hohem Maße eignete, wurde zweifellos in dieser Zeit erweitert und bereichert. Dieses Sommer-Semester bei Krafft-Ebing bedeutete für ihn ein starkes Erlebnis. Vieles in seinen Inszenierungen späterer Jahre – Gespenster, Woyzeck, Strindbergstücke – wurzelt darin.
Die Abende gehörten dem Theater. In einer Zeit, die Reinhardt später als »die mooslose, die schreckliche Zeit« charakterisierte, war er auf Freikarten angewiesen. Aber sogar diese wurden ihm zu seinem Schmerz manchmal verweigert. Schließlich legte er seinem Ansuchen seinen Berliner Kontrakt bei, worauf es ihm gnädigst (von Müller-Guttenbrunn) gewährt wurde. Er sah Mitterwurzer, Schöne, Baumeister, Sonnenthal, die Niese in Anzengrubers Pfarrer von Kirchfeld und zuletzt eine Wohltätigkeits-Aufführung von Gutzkows Uriel Acosta im Rudolfsheimer Theater, in der Schildkraut den Ben Akiba spielte. Reinhardt schrieb darüber an seinen Freund Held:
Rudolfsheim strahlte. Das bißchen Sonne, das die hohen Gäste vom Raimundtheater mitbrachten, tat dem alten Kasten und mir, der ihn lieb gewonnen, wohl. Es waren schöne Zeiten auch, die ich draußen erlebte.
Vor seiner Abreise nach Berlin ging Reinhardt aber noch mit seinen beiden Freunden Held und Marx auf eine Tournee – die erste seines Lebens – in die Umgebung von Salzburg: Hallein, Golling, Berchtesgaden, Tittmoning. Sie spielten auf Teilung, stolz ihre Unabhängigkeit genießend.
Berlin
Die ersten Eindrücke dieser Riesenstadt waren unbeschreiblich. Faszinierend und erschreckend zugleich …
… Vorläufig schwindelt mir! Kolossale Eindrücke! – Den Kammerdiener spiele ich erst, wenn Kraussneck, der ihn wahrscheinlich in der ersten Vorstellung spielt, den alten Miller spielen sollte. Sonst Chancen ganz günstig, selbstredend bescheidenen Erwartungen entsprechend. Nächstens ausführlicher. Wohnungen schön aber enorm theuer. Mein Moos erfreut sich eines reißenden Absatzes.
So schrieb Max Reinhardt am 18. August 1894 auf einer Ansichtskarte an seinen Freund Berthold Held. Die ersten Wochen waren nicht leicht. Er war gezwungen, im Hotel zu wohnen, bis sich ein Zimmer fand, dessen Preis für ihn erschwinglich war. Überdies schienen ihm bald die Aussichten hinsichtlich seiner künstlerischen Tätigkeit wenig hoffnungsvoll. Nach der Begrüßungsrede von Brahm, in der er seinen Darstellern empfohlen hatte, sich mit Geduld zu wappnen, ergriff ihn eine Mutlosigkeit, die seinem Wesen bisher fremd gewesen war:
Ein Todesurtheil. Ich bin auch keineswegs in rosiger Stimmung im Gegen-theil