kaum mehr ernst genommen. Und trotzdem werden unsere Ängste entweder stark tabuisiert oder stigmatisiert. Ist das nicht zu einfach? Sollten Ängste nicht nuancenreicher und differenzierter betrachtet werden? Was ist denn überhaupt Angst, und wie macht sie sich bemerkbar? Jede und jeder von uns hat seine individuellen Ängste. Sie genauso, wie auch ich. Alle! Wir sind damit in bester Gesellschaft!
Wovor also haben Sie Angst? Zu den weitverbreitetsten Ängsten gehören die Angst, vor Menschen zu sprechen (41%), vor Höhe (32%), vor Geldmangel (22%), vor tiefem Wasser (22%), vor Ungeziefer (22%), vor Krankheit und Tod (19%), vor dem Fliegen (18%), vor der Einsamkeit (14%), vor Hunden (11%), vor dem Autofahren (9%), vor Fahrstühlen und vor der Dunkelheit (jeweils 8%). Ängste gehören zu unserem Alltag wie das Zähneputzen. Doch genauso unterschiedlich die Ursachen dieser Ängste sind, genauso stark variieren deren Wahrnehmung und Intensität. Angst ist etwas Persönliches, etwas Privates, ja etwas Intimes. Zeitgleich legitimieren Ängste für lautstarke Parolen, politische Engagements, für hitzige Debatten und provokante Aktionen. Wer Angst öffentlich verkündet, erkauft sich damit Autorität und wird medial erhört. Angst vor Überfremdung, Angst vor Klimakatastrophen, Angst vor Terrorismus, Angst vor Altersarmut, Angst vor Corona, Angst vor Inflation, Angst vor der Digitalisierung, Angst vor dem Demokratieverlust, Angst vor Social Media, Angst vor Großkonzernen, Angst vor dem Sozialismus, Angst vor Arbeitslosigkeit, Angst vor religiösen Gruppierungen, Angst vor Pädophilen, Angst vor Amokläufern, Angst vor Terrorismus, Angst vor G5-Antennen, Angst vor dem Bienensterben, Angst vor der Zukunft und – ganz schlimm – die Angst vor der Angst. Und man könnte in diesem Sinne die Aufzählung der Ängste noch endlos fortsetzen. Stehen wir im gesellschaftlichen und politischen Angstwettbewerb?
Jeder Zeit ihre Angst, jeder Angst ihre Zeit
Ängste sind so alt wie die Menschheit. Jede Kultur, jede Epoche, jede Zeit, jede Generation beinhaltet ihre ureigenen Ängste. So hatte im Mittelalter die Mehrheit der Menschen Angst vor der Hölle und dem Fegefeuer. Im 14. Jahrhundert raffte die Pest jeden dritten Europäer dahin, es folgten zwei große Hungersnöte und Cholera. Da es insbesondere bei Cholera angeblich zu postmortalen Bewegungen der Verstorbenen kommen konnte, herrschte während der Aufklärung vom 17. bis ins 19. Jahrhundert in Europa große Angst davor, lebendig begraben zu werden. Nebst vielen anderen soll beispielsweise auch der russische Schriftsteller Dostojewski neben seinem Bett die Nachricht hinterlassen haben: »Sollte ich in lethargischen Schlaf fallen, begrabe man mich nicht vor fünf Tagen!«
Unsere Großeltern und Eltern fürchteten sich vor der roten Armee, vor den Russen und Nationalsozialisten, vor Hippies, Gammlern und natürlich Kommunisten. Nach dem Angriff auf Hiroshima fürchteten sich die Menschen vor der Atombombe und während dem Wettlauf ins All in den 60er-Jahren waren es die Ufos und die Außerirdischen, welche für die meisten eine Bedrohung darstellten. In den 80ern waren es das Waldsterben, nach Tschernobyl die Atomkatastrophen, gefolgt von zunehmendem Terrorismus, der mittlerweile auch bei uns in Westeuropa viele Menschen emotional erschüttert und in Angst versetzt. Aktuell dominieren Ängste vor dem digitalen Wandel, vor künstlicher Intelligenz, vor dem generellen Kollaps der Zivilisation, wie wir sie kennen, und der katastrophalen Rache der Natur. Ob real oder imaginär – Ängste prägten seit jeher unsere Gesellschaft, unser Denken, unser Handeln und auch die Politik. Dabei sind Ängste nicht per se schlecht. Denn ohne sie hätten unsere Vorfahren nicht überlebt. Wenn eine reale Bedrohung nicht als solche wahrgenommen wird, kann es tödlich enden. Das galt auch schon zu Zeiten der Säbelzahntiger, der Mammuts und unserer Vorfahren, der Jäger und Sammler. Wer nicht geflüchtet ist, wurde gefressen. Wer angriff, ging ein hohes Risiko ein, sich ernsthaft zu verletzen oder ebenso zur Nahrung zu werden. Angst war also schon damals ein Schutzmechanismus, sich unauffällig zu verhalten, sich in der Herde zu tarnen, sich zu verstecken oder zu flüchten. Stammen wir also alle von den Feiglingen unserer Vorfahren ab? Ängste mobilisieren und bringen uns in Bewegung. Sie motivieren uns, ins Handeln zu kommen und etwas dagegen zu tun. Die Voraussetzung dazu ist die klare Entscheidung, ihnen mutig zu begegnen. Welchen Ihrer Ängste möchten Sie mutig begegnen?
Mut.Fragen
Wovor haben Sie Angst? Was wünschen Sie sich anstelle dieses Gefühls der nagenden Angst? Welche Ängste haben Sie schon einmal von einer wegweisenden Entscheidung zurückgehalten?
Die Angst vor dem, was vermutlich nie eintrifft
Die Psychologie kennt mittlerweile hunderte von anerkannten Phobien. Doch ich möchte vorerst nicht näher auf pathologische, therapierbare Ängste eingehen, sondern vielmehr auf unliebsame Situationen, Zweifel, Unsicherheiten und ungute Gefühle, welche in unserem Alltag immer wieder entstehen können. Meist stellen diese ja auch kein Hindernis dar, wir kompensieren sie, gehen ihnen aus dem Weg (bewusst oder unbewusst) oder verdrängen sie. Wie oft haben wir Angst vor Situationen, vor Momenten, vor Begegnungen, vor Aufgaben, vor Begebenheiten, die noch gar nicht eingetroffen sind und nachdem sie eingetroffen sind, stellen wir fest, dass es niemals so schlimm wurde, wie wir uns das zuvor in unserem privaten Kopfkino ausmalten. Die erlebte Realität ist meist viel sanftmütiger und versöhnlicher, als wir uns sie vorher in unseren Gedanken vorgestellt haben. Negative Gedanken vernebeln oft unsere klaren Gedanken und den Genuss des Moments. Sie lenken uns ab und erlauben uns kaum, uns auf das zu fokussieren, was wir wirklich wollen und mutige Entscheidungen zu treffen. Angst frisst Mut auf! Dadurch führen unliebsamen Gedanken dazu, dass wir alles dafür tun, damit sie nicht zur Realität werden. Sie verstehen, worauf ich hinauswill! Durch unsere tief angsterfüllten Gedanken liegt der Fokus immer beim Nebel, statt auf unseren Idealen. Wenn Sie allerdings anfangen, nach dem Prinzip »Mehr Mut, Mensch« zu leben, kann es gelingen, angsterfüllte Gedanken im Keim ersticken zu lassen. Resultat: Sie treffen bessere und mutigere Entscheidungen.
Wir alle kennen das Gefühl, wenn auch aufgrund unterschiedlicher Situationen: erhöhter Puls, steigende Atemfrequenz, feuchte Hände, Schweiß auf der Stirn, zugeschnürter Hals, erweiterte Pupillen, Beklemmung. Wir haben Angst, vor Publikum zu sprechen, vor dem Flug, vor Spinnen, vor Schlangen, vor engen Räumen, vor unserem nächsten Date oder auf dem Nachhauseweg im Dunkeln. In akuten Angst- und Furchtsituationen steigt der Blutdruck, die Muskeln ziehen sich zusammen, wir schütten Stresshormone aus, und das autonome System im Stammhirn fährt das Programm Angriff, Flucht oder Totstellen. Am Anfang dieser gesamten Kettenreaktion stand jedoch ein kleiner, mandelförmiger Kern im limbischen System unseres Gehirns, die Amygdala.
Zügeln Sie Ihre Amygdala
Der amerikanische Neurowissenschaftler Joseph LeDoux von der New York University hat das Thema Angst zu seiner Hauptthematik gemacht. Zeit seines Lebens, genauer gesagt seit über 30 Jahren, erforscht er die Gehirnregionen, die an Angst und Furcht beteiligt sind. Eine wesentliche Rolle im Angstzentrum des limbischen Systems hat die Amygdala. Aufgrund ihrer anatomischen Form wird sie auch Mandelkern genannt. LeDoux hat die Mechanismen unseres Angstzentrums im Hirn als einen »Schaltkreis der Angst« beschrieben. Die Amygdala ist das emotionale Bewertungszentrum im Kopf und organisiert – ganz automatisch und wie von Geisterhand – unser Angst-Programm. Ob es uns gefällt oder nicht. LeDoux bewies: Signale und Reize, die Furcht auslösen, werden direkt von der Amygdala verarbeitet und führen sofort zu Schreck-Reaktionen des Körpers. Erst mit Verzögerung wird der für das Bewusstsein zuständige Teil im Gehirn – der Neocortex – eingeschaltet, um sich mit der Situation oder dem Objekt zu beschäftigen und dieses genauer zu bewerten. Wurde bei Versuchstieren die Amygdala entfernt, zeigten sich diese furchtlos und nahmen es bedenkenlos mit Objekten auf, die lebensgefährlich waren, wie zum Beispiel mit einer Giftschlange.
Die Amygdala erweist uns also eindeutig gute Dienste. Sie bewertet Objekte, deren potenzielle Gefahr und schlägt Alarm, noch bevor unser Verstand einsetzt. Sie ist unserem Bewusstsein jeweils einen halben Schritt voraus! Allerdings kann uns dieser Mandelkern in unserem Emotionszentrum auch ordentliche Streiche spielen, überreagieren und Fehlalarme auslösen. Das merken wir zum Beispiel dann, wenn wir wegen eines spinnenähnlichen Schattens am Boden schreckhaft zusammenzucken. Zügeln Sie also Ihre Amygdala so gut dies möglich ist und begeben Sie sich nicht permanent