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Wir leben doch in einer Zeit, in der ein ganz großer Teil der Bevölkerung extrem gut informiert ist und Situationen ständig mit historischen Dimensionen über Kenntnisse von Problemen vergleichen kann. Das Kernproblem für gelingende Transformationen besteht nicht in fehlendem Wissen, sondern im Zutrauen, im Sich-vorstellen-Können oder auch in mangelnder Erfahrung. Dafür brauchen wir keine Vermittlungsräume, in denen mir Neues erzählt wird, sondern Erfahrungsräume, in denen Menschen erfahren können, dass etwas möglich ist. Erleben, erfühlen, erspüren. Eigentlich muss das Theater aufhören, Theater zu sein, und zum performativen Raum werden, in dem es keine Zuschauer*innen mehr gibt, die passiv etwas konsumieren, sondern jede*r Beteiligte zur*m Performer*in seiner*ihrer möglichen Zukunft wird, da rausgeht und sagt: Ich hab hier was gespürt, ich hab hier was erlebt, ich war Teil von etwas, das mir glaubhaft werden lässt, dass eine andere Zukunft möglich ist. Theater können nur dann zum Mitgestalter von Transformationen werden, wenn sie experimentelle, geschützte Räume des Erlebens und Mitgestaltens öffnen. Da ist das Theater in seiner didaktisch-aufklärerisch-erklärenden Tradition einfach immer noch auf dem falschen Dampfer!

      JONAS ZIPF: Hast du nicht selbst ein Kinderbuch geschrieben – Die Freiheit der Krokodile –, das kraft des Erzählens einer Geschichte einen Unterschied machen kann? Da geht es um Krokodile unter dem Bett deines Sohns. Um seine Angst vorm Einschlafen. Und dann erzählst du ihm, dass er sich vorstellen soll, mit den Krokodilen schöne Dinge zu machen, Eis essen zu gehen etc. und nimmst der Vorstellung der Krokodile somit die Gefahr. Das ist doch eine Geschichte, die kraft der Imagination, ganz ohne den Raum der Immersion, den du gerade für das Theater eingefordert hast, einen mentalen Wechsel evoziert. Und zwar in der elementarsten Form des Geschichten-Erzählens überhaupt: der Gute-Nacht-Geschichte für dein Kind. In einer Form, die jeder kennt und für jeden funktioniert. Liegt darin nicht ein elementar inklusives Potenzial?

      SILKE VAN DYK: Ich finde auch, dass es mehr Geschichten braucht, Gelingens-Geschichten, die Erfahrungsräume schaffen, die die emotionale Ebene berühren; die damit anschlussfähig für eigenes Erleben werden und einfach über eine rein kognitive Wissensvermittlung hinausgehen. Aus einer soziologischen Perspektive sehe ich aber auch Grenzen des Geschichtenerzählens. So schön das mit der Inklusion klingt, so wahnsinnig schwer ist es, Geschichten über strukturelle Zusammenhänge, insbesondere strukturelle soziale Ungleichheiten zu erzählen. Geschichten brauchen Personen, handelnde Akteure, sie brauchen eine Form von Konkretion, Identifikationsmöglichkeiten. Es gibt bestimmte Dinge, die sich hervorragend in Geschichten erzählen lassen; es gibt aber gerade große strukturelle Probleme und Zusammenhänge, die wir eher in Daten und Statistiken sehen und die wahnsinnig schwer in solche Geschichten zu übersetzen sind. Geschichten des Gelingens, z. B. über solidarische Ökonomien, nachhaltige Nachbarschaften etc. bergen immer das Risiko, Möglichkeitsfiktionen zu erzeugen, dabei aber kleine Nischengeschichten zu bleiben. Um die einfache und spannende Form der Geschichte nicht zu verlassen, benennen sie die strukturellen, oft unsichtbaren Zusammenhänge, die dem Gelingen eben sehr häufig entgegenstehen, nicht. Der Impuls könnte dann sein zu sagen: „Seht her, geht doch! Man muss es nur wollen.“ Manchmal aber muss man nicht nur wollen, sondern auch können. Die hinderlichen Zusammenhänge können wir häufig nur durch aufwendige, repräsentative und komplexe Studien erfassen. Erfahrungen von Sexismus oder Rassismus lassen sich natürlich auch auf der Mikroebene des individuellen Erfahrungsraums problematisieren, aber ihre strukturelle Dimension verschwindet in den Geschichten.

      Noch mal zu den Möglichkeitsfiktionen: Es gibt Geschichten, die stark affizieren und sich als Beispiele für die Veränderung oder gar Überwindung gesellschaftlicher Verhältnisse darstellen, ohne dass diese aber so einfach zu überwinden sind. Um beim Thema der sozialen Ungleichheit zu bleiben: Wir erleben aktuell einen anhaltenden Boom der sogenannten Arbeiterkinder-Literatur, eine Konjunktur der literarischen Verarbeitung von Klassenerfahrung und Herkunft. Die Bücher von französischen Autor*innen wie Annie Ernaux, Didier Eribon oder Édouard Louis, genauso wie im deutschen Kontext Deniz Ohde, Christian Baron und einige weitere, erzählen etwas, das wir alle schon lange wissen, über das auch sozialwissenschaftlich extrem viel geschrieben worden ist: die Bedeutung von Klassenzugehörigkeit und sozialer Herkunft für den Lebensweg. Trotzdem hat dieses sozialwissenschaftliche Wissen nicht in der Weise gezündet und für eine breite öffentliche Debatte gesorgt, wie es diesen Erfahrungsberichten gelungen ist. Sie sind in der Regel biografisch und leben davon, dass sie zwar autofiktional, aber eben nicht reine Fiktion sind. Daraus beziehen sie eine starke Wahrhaftigkeit. Die Autor*innen werden oft eher als Zeitzeugen denn als Literaten eingeladen. Aus einer soziologischen Perspektive sind diese Geschichten aber total unwahrscheinlich. Hier wird etwas gefeiert, für seine Wahrhaftigkeit, für einen Wirklichkeitssinn, das empirisch betrachtet äußerst selten passiert: Wie Didier Eribon aus einem subproletarischen Haushalt zum besten Freund von Foucault und gefeierten Pariser Intellektuellen wird, das ist eine absolute Ausnahmegeschichte. Diese Geschichte kommt aber dennoch als Gesellschaftsanalyse daher und suggeriert damit Möglichkeitsräume, die es zwar prinzipiell gibt, die aber extrem unwahrscheinlich sind.

      FRIEDRICH VON BORRIES: Daran sieht man doch, dass Geschichten etwas sehr Spezifisches sind und sich von Erfahrungsräumen unterscheiden. Der große Unterschied besteht in der erlebten Empirie: In dem Moment, in dem mir ein Erfahrungsraum eröffnet wurde, erlebe ich eine Erfahrung und keine fiktive Geschichte des Gelingens, von der ich gar nicht weiß, ob sie auch mir gelingen wird, gelingen kann oder wie wahrscheinlich das Gelingen ist. Erst wenn mir tatsächlich ein Erlebnis widerfährt, ich einen Erfahrungsraum betrete und nicht die Geschichte von jemand anderem höre, erst wenn ich auch mit mir selbst eine andere Erfahrung mache, dann entsteht das zumindest temporäre Potenzial für Veränderung. Das ist vielleicht auch der Unterschied zwischen gestaltender Kunst und literaturbezogener Kunst. In der Bildenden Kunst, im Design und der Architektur geht es um reale, physische Räume, in denen ich etwas erlebe und erfahre. Solche Kunstwerke erlebe ich fast immer durch physische Ko-Präsenz, während Geschichten und Literatur die Vorstellung von etwas Abwesendem vermitteln.

      Daneben möchte ich noch einen anderen Vorbehalt zum Versuch des Triggerns von Veränderung durch Geschichten formulieren: Es ist ein Phänomen politisch motivierter Kunst, auch in Architektur und Design, dass diese oft innerhalb ihrer Disziplin nicht die beste ist …

      JONAS ZIPF: Warum ist das so?

      FRIEDRICH VON BORRIES: Das weiß ich nicht. Ich beobachte es nur. Zum Beispiel an meiner Diskussion mit Produkt- und Industriedesigner*innen. Ich sage zwar immer, dass jedes gute Industriedesign auch gutes Soziales Design sein muss und jeder, der gutes Soziales Design macht, das auch mit einer Gestaltqualität nach klassischen Gestaltungskriterien versehen soll. Wenn man sich aber die Wettbewerbe für Social Design anschaut, dann sind viele eingereichte Arbeiten nach klassischen Gestaltungskriterien einfach nicht so gut. Genauso in der Bildenden Kunst: Es gibt viele Künstler*innen, die mit so etwas wie „Klimakunst“ nichts zu tun haben wollen, weil sie die Sorge haben, sich ihren Ruf als Künstler*innen zu ruinieren. Denn aus einer starken politisch-inhaltlichen Agenda entsteht nicht zwangsläufig auch eine starke künstlerische Form.

      JONAS ZIPF: Das ist ein spannender Punkt für ein Arbeitsbuch, in dem wir versuchen zu beschreiben, wie das Theater die drei großen Transformationsthemen beackern kann. In diesem Kontext kommt der Rolle von Kunst, Kultur und Theater aus unserer Sicht immer zwei Dimensionen zu: Die der potenziellen Gestalter*innen von Transformation, aber auch die als Teil der Transformation selbst. Ob es die durch neue digitale Erzählweisen und Distributionswege veränderten Gewohnheiten der Zuschauer*innen sind oder die CO2-Bilanz des Theaterbetriebs als integralem Bestandteil jeder künftigen Ressourcenverwaltung: Auch in dieser Hinsicht sind die Theater keine Elfenbeintürme, die sich im Vakuum der Kunsttradition verschließen können.

      SILKE VAN DYK: Ich frage mich da als Sozialwissenschaftlerin, ob man die Form so vom Inhalt abschirmen kann. Darin liegt ja offenkundig die Sorge, durch Aktionskunst oder anderweitig politisierter Kunst den Nimbus der Unabhängigkeit zu verlieren. Vielleicht ist es aber auch so, dass die „klassischen“ Qualitätskriterien für ästhetische Formen den sich so stark transformierenden Feldern nicht genügen bzw. ihrerseits elitär oder ausschließend sind und zu den verfolgten inhaltlichen Zielen gar nicht (mehr) passen.