Peter Brandt L.

Mit anderen Augen


Скачать книгу

gefallen ist. Dass aber ein Umzug konkret in Erwägung gezogen worden wäre, insbesondere von meinem Vater, halte ich für extrem unwahrscheinlich, um nicht zu sagen: für Unsinn.

      Zum Weihnachtsfest 1965 hatten sich die Gefühle wieder beruhigt. Bemerkenswerterweise war Weihnachten in meiner Erinnerung mehr vom Vater geprägt als von der Mutter, und das, obwohl er sicher nicht die Hauptlast der Vorbereitung trug. Vielleicht kommt meine Erinnerung auch daher, dass Vater und Söhne regelmäßig am späten Nachmittag des 24. Dezember den Kirchgang absolvierten. Obwohl Vater eher ein kirchenferner Agnostiker war als ein gläubiger Christ (doch auch kein Atheist), gehörte der Weihnachtsgottesdienst am Heiligen Abend für ihn unbedingt zum Fest dazu. Zu Hause sangen wir häufig Weihnachtslieder. Manchmal las er aus der Bibel die Weihnachtsgeschichte vor. Wenn wir aus der Kirche zurückkamen, wurde nach norwegischer Sitte ein Schweinebraten serviert, den Mutter und Litti vorbereitet hatten. Gans gab es am ersten und Grünkohl mit Rauchfleisch, wie Vater es aus Lübeck kannte, am zweiten Weihnachtsfeiertag. Die Bescherung fand nach dem Essen statt. Wir Kinder durften jetzt das Wohnzimmer betreten, wo der von den Eltern herrlich geschmückte Baum stand. Die Geschenke nahmen sich nach heutigen Maßstäben eher bescheiden aus, nach damaligen reichlich, doch nicht übertrieben. Ich bekam meist Bücher, manchmal Ritterfiguren. Noch nicht selbstverständlich waren diverse Süßigkeiten samt den von Mutter nach norwegischen Rezepten gebackenen Keksen. Auch andere Leckereien kamen zunächst nur zu Weihnachten auf den Tisch, wie echte ungarische Salami und französischer oder italienischer Käse. Irgendwann traten Lebensmittelgeschenke weit entfernter Absender hinzu, die den weihnachtlichen Gabentisch bereicherten: Apfelsinen aus Israel, Feigen aus dem Maghreb, Kaviar aus Persien und Russland. Wer hat, dem wird gegeben, dachte ich mir schon damals …

      An der abnehmenden Feierlichkeit des familiären Weihnachtsfests ließ sich seit dem Umzug nach Bonn im Frühjahr 1967 der Verfall der Ehe meiner Eltern beobachten. (Ich selbst hatte nur noch ein Jahr bis zum Abitur und blieb in Berlin, wo ich so lange in der Familie meines Freundes Wolf-Rüdiger Knoche wohnte.) In meiner Erinnerung lösten sich nach und nach alle Festelemente ins Unverbindliche auf. Die Eltern hatten sich offenbar nicht mehr viel zu sagen. Die beiden älteren Söhne trugen auch nicht gerade dazu bei, Weihnachten zu retten. Man gewann den Eindruck, nur des jüngsten Bruders Matthias wegen riss sich die Familie noch halbwegs zusammen. Vater verschwand dann sehr schnell mit einem neuen Roman in sein Zimmer. Die Zurückgebliebenen plauderten über mehr oder weniger Belangloses. Zumindest ich war froh, mich manchmal schon am Abend des 25. Dezember mit dem Nachtzug wieder nach Berlin absetzen zu können.

      Doch Weihnachten 1970 feierten alle Brandts »groß« in Berlin, was von Willy nach der Unterzeichnung des Moskauer und des Warschauer Vertrags auch als demonstrativer Akt gemeint war. Ein Empfang im Bundesgästehaus, zu dem vor allem alte Berliner SPD-Genossen geladen waren, verstärkte dieses Signal. Ansonsten machten sich Brandts in diesen Weihnachtstagen vor allem mit der Familie des Pfarrers Theodor Jänicke gemein. Seine Tochter Maria und ich lebten, wie man damals noch sagte, in wilder Ehe. Am Heiligen Abend besuchten wir alle zusammen Theos Gottesdienst. Er war ein Mann der ehedem Bekennenden Kirche und entschiedener Anhänger der neuen Bonner Ostpolitik. Wir alle hatten es noch einmal richtig schön. Seitdem zog ich es vor, Weihnachten nur noch zusammen mit meinen Lebensgefährtinnen zu verbringen.

      In Bonn besiedelte die Familie Brandt ein großes Haus, das schon als Dienstvilla des vorherigen Außenministers gedient hatte. Als 1969 der Wechsel in den Kanzlerbungalow anstehen sollte, war Vater froh, dass der neue Außenminister Scheel in seinem gerade gebauten eigenen Haus wohnen bleiben wollte. Brandts mussten also nicht umziehen. Die Außenminister-, jetzt Kanzlervilla auf dem Venusberg barg im Erdgeschoss mehrere Repräsentationsräume, während die eigentliche Wohnung im ersten Stock lag. Im zweiten Stock befanden sich etliche, meist kleine Zimmer und Kammern. Dort wohnten Lars und die Hausmädchen. Wenn ich zu Besuch kam, fand auch ich dort problemlos einen Platz. Zwischen August 1972 und März 1974 wohnte ich immer wieder wochenlang auf dem Venusberg, um in Ruhe mein Abschluss­examen und die geplante Dissertation vorzubereiten, sodass ich in diesen etwa fünfzehn Monaten noch einmal dichter am Geschehen war als in den Jahren davor und danach.

      Die Einrichtung des Hauses war von Mutter vorgenommen worden: geschmackvoll und freundlich. Vater interessierte sich nicht übermäßig dafür, obwohl das Grundlegende sicher abgesprochen war. Mutter prägte die Atmosphäre, unterstützt von wechselnden fröhlichen Au-pair-Mädchen, die sie teilweise aus der entfernteren norwegischen Verwandtschaft rekrutierten. Meine Freundin Maria weilte mit mir ab und zu einige Tage dort. Sie hatte den Eindruck eines allzu stillen, unlebendigen Ortes, bewohnt von Menschen, die nichts oder nicht mehr viel miteinander anfangen konnten, obwohl sie für sich genommen alle umgänglich und gefühlvoll gewesen seien. Ein »Getüm von beherrschten Gefühlen« sei Vater Brandt gewesen, wenn er plötzlich und unerwartet den Flur entlangkam, höflich und nicht unfreundlich, auch humorvoll, aber von ihr als bedrohlich wahrgenommen. Dass Mutter in der Familie für gute Stimmung sorgen wollte und – mehr noch – für Besucher die charmante Gastgeberin verkörperte, änderte das nur vordergründig.

      Noch in Berlin, im Frühherbst 1966, gab es an einem Sonntagmorgen einen bedenklichen Zwischenfall. Mutter war nicht zu Hause und Martha Litzl führte das Regiment. Die Zimmer von Lars und mir lagen im Dachgeschoss. Plötzlich hörte ich einen Schrei oder vielmehr einen leicht röchelnden Ausruf: »Ein Arzt!« Danach die aufgeregte Frauenstimme der Haushälterin, die offenbar schon auf dem Weg zum Telefon war. Als ich die Treppe hinab kam, lag Vater mit geschlossenen Augen im Bett und atmete normal. Höchstens eine halbe Stunde später traf ein mehrköpfiges Team von Ärzten unter der Leitung von Professor Freiherr von Kreß ein. Man untersuchte den Patienten gründlich, aber ohne technische Gerätschaften. Man kam zu dem Ergebnis, dass kein Herzinfarkt oder eine andere bedrohliche Erkrankung vorläge. Den Anfall, bei dem der Oberbauch durch das Zwerchfell aufs Herz drückt, wobei regelrechte Vernichtungsgefühle erzeugt werden, kennen Mediziner als das Roemheld-­Syndrom. Vermutlich wurde an einem der Folgetage eine genauere Untersuchung im Krankenhaus nachgeholt. Einen verschiedentlich kolportierten dramatischen Rettungseinsatz habe ich nicht erlebt. Wie mir mein Vater einige Zeit später erzählte, sah er, während er kollabierte, gleich einem Sterbenden sein ganzes Leben in Zeitraffer an sich vorüberziehen – sicherlich ein einschneidendes Erlebnis.

      Zwölfeinhalb Jahre später erwischte es ihn tatsächlich. Er stand kurz vor seinem 65. Geburtstag, den die Partei 1978 mit einer Riesenveranstaltung in der Dortmunder Westfalen-Halle unter Einbeziehung weltbekannter Musiker feiern wollte. Offenbar während einer Reise nach New York erlitt Vater einen sogenannten »stillen«, aber beträchtlichen Herzinfarkt und nach der Rückkehr in Bonn einen kleineren zweiten. Dem Krankenhausaufenthalt folgte ein mehrwöchiger Reha-Aufenthalt im südfranzösischen Hyères. Im dortigen Sanatorium wurde er nach allen Regeln der ärztlichen Kunst wieder in Form gebracht, soweit das möglich war. Vater war von den Bemühungen der Ärzte, von den wohnlichen wie kulinarischen Umständen seiner Kur sehr angetan und hatte das Gefühl, gesünder nach Hause zu fahren, als er seit etlichen Jahren gewesen war. Bislang bewegte er sich wenig, rauchte Kette und sprach stark dem Alkohol zu, auch wenn sein Konsum nie völlig aus dem Ruder lief, dazu der unvermeidliche Stress und die vielen Fernreisen mit Klima- und Zeitzonenwechseln – das alles musste er unter dem strengen, doch wohltuenden Einfluss seiner neuen Lebenspartnerin Brigitte Seebacher nun ändern. In den folgenden Jahren konnte man beobachten, wie er auflebte. Die Fotos vom Wochenendeinkauf in Unkel waren keine Show, jedenfalls nicht in erster Linie. Er schien wieder Gefallen am normalen Leben zu finden und ließ sich beim Kochen bereitwillig für die Hilfsarbeiten einsetzen.

      Zum 65. Geburtstag hatte ich ihm eine Zeichnung des Malers Michael Sowa geschenkt, der damals noch nicht so bekannt war. Sowa hatte sie nach meinen Wünschen zu einem Freundschaftspreis angefertigt. Zum 70. Geburtstag, am 18. Dezember 1983, konnten meine Frau Gabriele und ich ihm unsere knapp zwei Monate alte Tochter Karoline Luise präsentieren, ein Fressen für die Fotoreporter und unverkennbar eine Freude für den Großvater. Kontinuierlich bemühte ich mich darum, dass sich »Opa Willy« und Karoline immer wieder in Berlin sahen. Ich erlebte ihn dabei zugewandt, lieb und keineswegs unbeholfen. Das nahm wohl auch meine Tochter so wahr, die nur nicht verstehen konnte, warum er manchmal plötzlich so schnell wieder weg musste. Als Dauerbeschäftigung wäre das Opa-Sein aber sicher nichts für ihn gewesen.

      Zu