Peter Brandt L.

Mit anderen Augen


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Menschheit flöge in die Luft. Koestler war kinderlos …

      1964 erwarb meine Mutter in der norwegischen Mittelgebirgslandschaft Vangsåsen, nahe ihrer Heimatstadt Hamar, zwei Hütten mit Grundstück, wovon eine in mehreren Schritten zu einem veritablen Wohnhaus ausgebaut wurde. Ab 1965 standen sie den Familienangehörigen und engeren Freunden für Winter- oder Sommerurlaube zur Verfügung. Für Mutter waren sie ein Refugium, wohin sie sich mit Matthias Jahr für Jahr in fast allen Schulferien zurückzog. Auch die älteren Söhne nutzten das Domizil ausgiebig. Im Sommer pflegte Vater wenigstens eine gewisse Zeitlang dort zu sein. Obwohl er eine starke Verbindung mit Norwegen hatte, meinte ich zu spüren, dass er sich nicht uneingeschränkt wohlfühlte. Wenn sich unsere Aufenthalte überschnitten, stellte ich dieselbe Rückzugstendenz fest, wie ich sie auch sonst zunehmend wahrnahm. Zwischendurch war er dann wieder ganz der Alte, den ich aus der Kindheit kannte. Norwegen und erst recht das Ferienhaus waren untrennbar mit Rut verbunden, und so verwundert es nicht, dass er mit Brigitte in Südfrankreich 1983 etwas Neues kaufte, wo es warm war (was er im Alter mehr schätzte als früher) und woran sie gleichermaßen hingen.

      Das Spiel mit starkem Körpereinsatz – wie das Spielen überhaupt – war nicht so sehr Vaters Sache. Doch er ließ sich leicht anstecken, wenn andere Erwachsene dabei waren. 1960 unternahmen wir mit der eng befreundeten Nachbarsfamilie eine Urlaubsreise in den Lungau, den südöstlichen Teil des Landes Salzburg. Ich erinnere mich an manches Versteck- und Geländespiel mit Vätern und Söhnen und sehe heute noch das vergnügte Gesicht meines Vaters vor mir, als er es einmal schaffte, die sehr viel wendigeren und schnelleren Jungen zu überlisten.

      Die Familie Bohmbach, mit der zusammen wir den Urlaub verbrachten, wohnte in der anderen Hälfte des Reihenhauses in der Marinesiedlung (Berlin-Schlachtensee), das die Brandts von 1955 bis 1964 bewohnten. Davor war eine etwas kleinere Wohnung an anderer Stelle der Siedlung unser Domizil gewesen. Danach – bis 1966/67 – wohnten wir in einer Dienstvilla in Grunewald, wo der Senat neben einem großen Gästehaus ein auf der anderen Seite desselben Grundstücks gelegenes Haus erworben hatte, das der als »Zuckerkönig« bekannte frühere Eigentümer einst für seinen Chauffeur und Hausmeister hatte errichten lassen. Dieses stand künftig dem Regierenden Bürgermeister zur Verfügung. Es war mehr als ausreichend für eine mehrköpfige Familie. Während ich in Grunewald weder die Namen der Nachbarn nennen konnte noch wusste, wie sie aussahen, kannte man in der Marinesiedlung, die voll von Kindern war, jeden.

      Bohmbachs schienen auf den ersten Blick nicht wie geschaffen für eine Freundschaft mit den Brandts: eine seit Generationen etablierte bürgerlich-katholische Familie. Die Bohmbach-Söhne Michael und Christian waren allerdings mit den Brandt-Söhnen dick befreundet, der ältere merkwürdigerweise hauptsächlich mit Lars, während die weniger als ein Jahr auseinanderliegenden Christian und Peter gut zusammenpassten. Vater Hans Eberhard Bohmbach war ein einnehmender, gutaussehender Mann, erkennbar wenig von Selbstzweifeln geplagt, erfolgreicher Rechtsanwalt und Notar, ein Mensch konservativer Lebens- und Weltanschauung. Seine Distanz zur Berliner CDU begründete er mir gegenüber einmal damit, dass deren Spitzenmann Franz Amrehn ein »Prolet« sei, wie immer das gemeint war. Als gläubige Katholiken waren Eberhards Eltern keine NS-Anhänger gewesen, nicht zuletzt auch deswegen, weil ihnen die Nazis zu primitiv waren. Im Krieg hatte Eberhard Bohmbach als Kriegsfreiwilliger gekämpft, zuletzt als Panzergrenadier an der Westfront, wo er schwer verwundet wurde. In der Nachkriegszeit fuhr er mit seinem Jungen mehrfach zu Veteranentreffen.

      Mit diesem Mann schloss Willy Brandt eine zwar nicht intime, aber auch nicht ganz oberflächliche Freundschaft. Ich halte es für wahrscheinlich, dass sie unter vier Augen offen über ihre früheren Lebensphasen sprachen. Ideologie hin oder her – die beiden mochten sich einfach. Willy schenkte Eberhard beim Auszug aus dem Marinesteig seinen dort benutzten Schreibtisch. Trotzdem wären sich diese Männer vermutlich nicht näher gekommen, wenn nicht ihre Ehefrauen Rut und Marianne beste Freundinnen geworden wären. Ich glaube, sie hatten keinerlei Geheimnisse untereinander, und es gab keine Sorgen, die sie nicht teilten und dadurch erleichterten. Zwischenzeitlich wurde sogar erwogen, die Wand zwischen den beiden Häuserhälften zu durchbrechen und so eine Art doppelfamiliäre Wohngemeinschaft aufzumachen.

      Zur Familie Brandt gehörte fast von Anfang an Martha Litzl. Sie war unsere Haushälterin. Martha war auf einem Bauernhof in der Neumark aufgewachsen und hatte ihren Mann im Krieg verloren. Sie nahm sich der Brandt-Kinder an, als wären es ihre eigenen, harmonierte bestens mit der »Chefin«, die selbst keine Hausarbeit verschmähte – sie kochte gut und putzte unschlagbar gründlich – und verehrte den Herrn des Hauses. Wenn sie morgens früh um 5 Uhr aufstand, so erzählte sie mir später, hätte oft noch die Schreibmaschine geklappert, und sie riet mir, ebenso viel zu arbeiten wie mein Vater, wenn ich etwas werden wollte. Ein anderes Mal mahnte sie allerdings, ich solle bloß nicht so viel schuften wie der Vater, sondern auch die angenehmen Seiten des Lebens auskosten.

      Wie dem auch sei. Litti, wie wir Kinder sie nannten, musste krankheitshalber zurückstecken, als sie etwa fünfzig war, und kam nur noch ein oder zwei Tage in der Woche, um das Kommando zu übernehmen, und tat das auch später noch in Bonn. Seitdem gab es ein junges Hausmädchen. Ursel, die von 1958 bis 1961 bei uns und mit uns lebte, war für Lars und mich wie eine große Schwester, und meine Mutter nahm sie wie ihre Nachfolgerinnen unter ihre Fittiche.

      Ich habe mich manchmal gefragt, welche Einstellung Vater zu Martha Litzl hatte. Es erschließt sich mir auch nicht aus den Briefen, die er seiner Frau schrieb, wenn diese in Norwegen weilte. Dass er Litti respektierte, wie er andere Menschen stets respektierte, und ordentlich behandelte, steht für mich außer Frage. Doch eine emotionale Bindung konnte und kann ich nicht erkennen. Das scheint mir auch für die Chauffeure und Sicherheitsbeamten zuzutreffen, die ihm im Laufe seiner Berliner und Bonner Dienstexistenz zugeteilt waren. Das Verhältnis zu den jeweiligen Sekretärinnen schien mir teilweise persönlicher zu sein, vielleicht bedingt durch den berufsmäßig ständigen engen Kontakt.

      Ich hatte in den späten fünfziger Jahren nicht das Gefühl, dass die berufliche Stellung des Vaters mich in meinen kindlichen Aktivitäten nennenswert einschränkte. Ich war, obwohl sensibel, das, was man einen »richtigen Jungen« nannte, grobe Streiche, »Mutproben« und »Bandenkriege« inklusive. Mehr unausgesprochen als ausgesprochen gaben beide Eltern mir und meinen Brüdern zu verstehen, dass wir uns auf Vaters Position ja nichts einbilden sollten. Irgendeine Überheblichkeit anderen Menschen gegenüber aufgrund ihrer Hautfarbe, Nationalität, Religion oder gar ihres sozialen Status ist mir zu Hause nicht einmal andeutungsweise begegnet. Auch der Gedanke an Sippenhaftung, etwa im Fall eindeutiger »Nazifamilien«, lag außerhalb des Brandt’schen Horizonts.

      Als mein Vater Regierender Bürgermeister wurde, gratulierte mir die Klassenlehrerin in der Grundschule. Ich war ganz verdattert darüber, denn das war ja nicht mein Verdienst. Öfter als mir lieb war, kamen Pressefotografen ins Haus und verlangten irgendwelche mehr oder weniger natürlichen Familiendarbietungen. Das war mir äußerst lästig. Ich fühlte mich fremdbestimmt. Meine Mutter musste manchmal sehr nachdrücklich auf mich einreden, damit ich das Blitzlichtgewitter und die Filmaufnahmen über mich ergehen ließ. Doch das war keine Dauererscheinung. Mein Alltag sonst war kindgemäß.

      Als Robert Kennedy, der US-amerikanische Justizminister und Bruder des Präsidenten, im Februar 1962 mit seiner Frau Ethel nach Berlin kam, äußerte er meinen Eltern gegenüber den Wunsch, vor seiner Abreise, die schon für den nächsten Vormittag angesetzt war, die Kinder zu sehen. Den Einwand, diese unterlägen der Schulpflicht, ließ er nicht gelten. Er würde selbst die Entschuldigung schreiben. Nun war ich darüber keineswegs begeistert. Diese Art Aufsehen war mir peinlich. Ich fragte mich, wie das bei der Lehrerschaft ankommen würde. Doch der vereinte Druck der elterlichen Regierung und der amerikanischen Supermacht war zu groß für meinen Widerstand. Lars und ich mussten zu »Bobbys« Verabschiedung zum Flughafen Tempelhof kommen, wo dieser uns ein paar freundliche Worte widmete und hauptsächlich die »Entschuldigung« schrieb: Wir hätten an »sehr wichtigen« Besprechungen teilnehmen müssen, die die »Freiheit der Vereinigten Staaten und Berlins betreffen«. Das war zwar witzig, aber anfangen konnten wir damit nichts.

      Eine langjährige Freundschaft ging aus der Verbindung mit Harold, Greta und Kathy Hurwitz hervor, die Willy in seinen Briefen an Harold »die Prinzessin« nannte. Harold, der 2012 starb, war Amerikaner mit