wäre, um jeden Anschein von Witwenzank zu vermeiden. Doch fand sie, man hätte wenigstens eine Einladung aussprechen müssen. Viele dachten an sie. Bundespräsident von Weizsäcker erinnerte beim Staatsakt unüberhörbar an Rut Brandt, ebenso Bischof Kruse, der den evangelischen Trauergottesdienst zelebrierte, und der Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen.
In den Tagen und Wochen nach Vaters Tod erreichten mich viele Beileidsbekundungen. Manche berührten mich stark, weil deutlich wurde, was Willy Brandt den Menschen bedeutete. Kollegen, Freunde, auch flüchtige Bekannte, meine politischen Weggefährten, ja selbst Wildfremde ließen mir mündlich oder schriftlich Worte der Anteilnahme zukommen. Am meisten bewegten mich zwei Ereignisse: Ein guter Freund, der mit einem noch stark nationalsozialistisch gesinnten Vater aufgewachsen war und sich als ganz junger Mann in der NPD-Jugend engagiert hatte, besuchte mit seinen Kindern das Grab und legte Blumen nieder. Und als ich in Hagen ein griechisches Imbisslokal aufsuchte, wo ich gelegentlich aß, kam plötzlich der Juniorchef auf mich zu, der mich nur vom Sehen kannte, ohne zu wissen, wie ich heiße, und vergewisserte sich, dass das Foto in der Lokalpresse mich abbildete. Dann unterbrach die gesamte vielköpfige Familie ihre Arbeit, alle stellten sich in einem Spalier auf und gaben mir die Hand: »Er hat so viel für uns getan – herzliches Beileid!«
Der Staatsakt und die Beisetzung fanden am 17. Oktober im Reichstagsgebäude statt. Es war der erste an diesem historischen Ort seit dem Tode Gustav Stresemanns im Jahr 1929. In Anwesenheit hochrangiger Gäste aus aller Welt verlief er würdig und angemessen. Alle Redner, von Helmut Kohl über Richard von Weizsäcker, Björn Engholm und den engen politischen Freund Felipe González, wurden dem Verstorbenen auf ihre Art gerecht. Sie fanden in bemerkenswerter Weise die richtigen Worte, wobei Felipe die emotionalste Ansprache hielt. Unvergessen ist sein »Adios amigo« und seine Charakteristik Willy Brandts: »Deutscher bis ins Mark, Europäer aus Überzeugung und Weltbürger aus Berufung.« Claudio Abbado dirigierte Schuberts Unvollendete, die Berliner Philharmoniker spielten. Dass außer der Witwe kein Familienangehöriger in der ersten Reihe saß, fand ich völlig in Ordnung. Etwas kleinlich war für mein Empfinden jedoch die Empfehlung, die Kinder zu Hause zu lassen. Ninja ignorierte das und nahm ihre Tochter Janina einfach mit. (Zwischen Ninja und Brigitte hatte es schon Wochen vorher eine Unstimmigkeit gegeben, als Ninja verabredungsgemäß aus Norwegen anreiste, aber nicht zu ihrem Vater vorgelassen wurde, weil es ihm sehr schlecht ging.) Vielleicht wäre es angebracht gewesen, die Partei und ihre Anhänger stärker zur Geltung kommen zu lassen, etwa durch eine langsamere Fahrt des Wagens mit dem Leichnam durch die Stadt zum Zehlendorfer Waldfriedhof. Aber vielleicht sollte es auch in diesem Punkt so sein wie geschehen. Am Vortag war der Tote im Rathaus Schöneberg aufgebahrt worden, um den Berlinern Gelegenheit zu geben, sich zu verabschieden. Sie taten es zu Zehntausenden.
Am Vorabend der Beerdigung versammelten sich die Geschwister mit den Ehepartnern in der Berliner Wohnung von meiner Frau und mir. Auch Brigitte folgte der Einladung. Es war ein guter Austausch. Leider kollidierte das Treffen mit einer Gedenkveranstaltung der SPD, zu der ich sonst wohl gegangen wäre. Auch sie war offenbar sehr gelungen und bewegend.
Gefordert war ich im Angesicht des Testaments, das Vater nur wenige Wochen vor seinem Tod zu Papier gebracht hatte. Es sprach den gesamten materiellen und ideellen Nachlass der Witwe Brigitte als »befreiter Vorerbin« zu. Was das Finanzielle betraf, hieß das de facto, dass der Anteil des Vermögens, der den Kindern zugutekam, auf ein Viertel reduziert wurde. Damit hatte ich kein Problem, da ich stets der Meinung war, Menschen hätten kein moralisches Recht, überhaupt etwas zu erben. Außerdem konnte ich nachvollziehen, dass die zurückbleibende Witwe maximal gesichert werden sollte. Meine Aufgabe sah ich, auch aus Eigeninteresse, nun darin, zusammen mit dem beauftragten Anwalt die Geschwister zusammenzuhalten und der Presse kein familiäres Theater darzubieten. Dafür war es aber nötig, auch klar zu wissen, welche Werte dem Ganzen zugrunde lagen.
Komplizierter war allerdings die Regelung der Eigentumsrechte an den nachgelassenen Papieren, die ebenfalls der Witwe zufallen sollten. Sie widersprach der Rechtsauffassung der SPD, die in Amtseigenschaft entstandenes Schriftgut für sich reklamierte. Auch die Bonner Friedrich-Ebert-Stiftung, deren »Archiv der sozialen Demokratie« von Willy Brandt selbst seit den sechziger Jahren den größten Teil seiner Unterlagen erhalten hatte, machte Einwände geltend. Juristisch waren meine Geschwister und ich diesbezüglich zwar gar nicht betroffen. Aber als professioneller Historiker hatte ich durchaus Interesse daran, zu wissen, was mit den Papieren geschehen sollte. Im schlimmsten Fall wäre für jedes Blatt eine gerichtliche Entscheidung nötig gewesen, um zu klären, wem es gehört. Deshalb schlug ich zusammen mit meinem Kollegen und Freund Franz Brüggemeier eine übergreifende Stiftung vor. Mit Gründung der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung als Bundesstiftung, die vom Deutschen Bundestag beschlossen wurde, schuf man eine Lösung, die alle Seiten einbezog, die Eigentümerfrage offen ließ und am Standort der Archivalien in Bonn nicht rüttelte. Dort entstand ein eigenes Willy-Brandt-Archiv, dessen Gut auf hohem professionellem Niveau gepflegt, um Zuflüsse anderen Ursprungs ergänzt und für die Forschung erschlossen wird. Ich denke, das ist eine Regelung, die Willy Brandts Zustimmung gefunden hätte.
Familie und Freunde
A
nders als viele Führer von Parteien der Arbeiterbewegung war Willy Brandt ein echtes Proletarierkind. Das verband ihn mit dem »Arbeiterkaiser« August Bebel, der wenige Monate vor seiner Geburt gestorben war. Am 18. Dezember 1913 kam mein Vater im Lübecker Arbeiterbezirk St. Lorenz zur Welt, ursprünglich als Herbert Ernst Karl Frahm. Die nicht verheiratete neunzehnjährige Mutter Martha Frahm soll eine hübsche Frau mit Anspruch auf ein eigenes Leben gewesen sein. Sie arbeitete als Verkäuferin täglich im Konsum und musste den Knaben zuerst zu Bekannten geben, dann, als er fünf war, ihrem Vater Ludwig zur Aufzucht überlassen. Wie Willy später erfuhr, war Ludwig nicht ihr leiblicher Vater. Die Frahms kamen aus der mecklenburgischen Landarbeiterschaft, einer unteren Schicht der Arbeiterklasse in einem der rückständigsten Territorien Deutschland. Den Großvater Ludwig, der als Kraftfahrer sein Geld verdiente, nannte der Knabe Herbert »Papa«, dessen zweite Frau, die er nicht mochte, »Tante«. Seine echte Großmutter war damals bereits gestorben. Als Martha Frahm 1927 den Maurerpolier Emil Kuhlmann heiratete und im Folgejahr der Halbbruder Günter zur Welt kam, war Herbert schon knapp vierzehn Jahre alt.
Durch die Mutter wie durch den Großvater, der sich 1935 in persönlicher und politischer Verzweiflung das Leben nahm, wuchs Herbert Frahm in die sozialdemokratische Arbeiterbewegung hinein: Kinderturngruppe des Arbeitersports, Arbeiter-Mandolinenklub, Theatergruppe. Dass sich für ihn dort eine neue, größere Familie auftat, liegt nahe – bei aller Unsicherheit und aller Unvollständigkeit der häuslich-familiären Verhältnisse. Hier musste jemand schon sehr früh allein für sich sorgen. Auch beim Lernen für die höhere Schule war er auf sich gestellt. Als Arbeiterkind besuchte er das Johanneum, ein Reform-Realgymnasium, wo ihm das Schulgeld erlassen wurde. Er war dort sozial ein Außenseiter, fügte sich aber problemlos in das fremde Milieu ein. In einer Dachkammer der bescheidenen großelterlichen Wohnung hatte er sich einen Rückzugsraum geschaffen, wo er mit seinen Büchern und seinen Gedanken eine selbstständige geistige Existenz begründete.
Wer sein biologischer Vater war, stand für Willy, der sich aus Trotz bislang nicht dafür interessiert hatte, fest, seitdem er einen Brief seiner Mutter vom 7. Februar 1947 erhalten hatte. Damals, nach der Hitlerzeit, wollte er sich in Deutschland wiedereinbürgern lassen. In der Annahme, dabei nach seinem Erzeuger gefragt zu werden, hatte er seine Mutter um dessen Namen gebeten. Es sei der Buchhalter John Heinrich Möller aus Hamburg gewesen. Ein zweiter Brief, den ein »leibhaftiger Vetter« namens Gerd-André Rank am 7. Juni 1961 schrieb, bestätigte diese Angaben. John Möller, der von 1887 bis 1958 lebte, soll ein ruhiger, besonnener Mensch, überzeugter Sozialdemokrat und Büchernarr gewesen sein.
Eigentlich war damit nach menschlichem Ermessen Klarheit geschaffen. Doch Willy Brandt behielt sein Wissen für sich. Es hatte sogar den Anschein, als würde er Gefallen finden an dem Rätselraten über seine Herkunft väterlicherseits. Noch Mitte der achtziger Jahre präsentierte der »Spiegel« eine Reihe von Kandidaten. Julius Leber, der prominente Lübecker Sozialdemokrat, war einer von denen, auf die man schon länger tippte. Auch ein mecklenburgischer Graf sowie der Kapellmeister Hermann Abendroth wurden nominiert. Mir selbst ging noch vor nicht allzu langer