ihrer Vorfahren, ein kaiserlicher Diplomat mit dem Spitznamen »Graf Willy«, der Erzeuger meines Vaters gewesen sein müsse.
Als Willy Brandt im April 1933 im Auftrag seiner kleinen Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) fluchtartig nach Oslo übersiedelte, folgte ihm kurz darauf Gertrud Meyer, die ebenfalls in Lübeck geboren und eine Parteiaktivistin war wie er. Beide lebten dort wie Mann und Frau zusammen, bis Gertrud, die Willys Begabung erkannte und förderte, als Assistentin des Psychoanalytikers Wilhelm Reich in die USA emigrierte. Erst später erfuhr sie, dass Willy danach mit Carlota Thorkildsen liiert war, mit der er am 30. Oktober 1940 das Töchterchen Ninja bekam. Im Frühjahr 1941 war die Familie im schwedischen Exil, wo Willy und Carlota heirateten. Carlota, neun Jahre älter als ihr Mann, war eine gebildete Frau aus bürgerlicher Familie, mit eigenem großem Freundes- und Bekanntenkreis. Sie arbeitete bis 1940 als Assistentin am Institut für vergleichende Kulturforschung, während Willy sich mit Zeitungs- und Buchhonoraren eine auskömmliche Existenz erschrieben hatte.
Im Kreis der norwegischen Exilanten Stockholms lernte er Rut Bergaust kennen und lieben, ein Arbeitermädchen aus dem ostnorwegischen Hamar. Rut hatte bald nach ihrer Flucht über die schwedische Grenze ihren Jugendfreund Ole geheiratet, der unheilbar an Tuberkulose erkrankte und 1946 starb. Trotz schwerer Gewissensbisse konnte sie sich von der neuen Verbindung mit Willy nicht frei machen, und auch dieser war ja verheiratet und hing sehr an seiner kleinen Tochter.
Den unermüdlichen Briefeschreiber Willy lernte Rut zwischen Frühjahr 1945 und Frühjahr 1947 kennen, als die beiden räumlich mehr getrennt als zusammen waren. Über Oslo und Nürnberg, wo er als Pressekorrespondent über den Prozess gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher berichtete, führte ihn sein Weg nach Berlin. Dort arbeitete er während des Jahres 1947 als Presseattaché der norwegischen Militärmission im formalen Rang eines Majors. In dieser Zeit erreichten ihn die verschiedensten Angebote, so sollte er unter anderem in Lübeck die Führung der Sozialdemokratie oder das Bürgermeisteramt übernehmen. Er sinnierte darüber nach, wie er sich am besten nützlich machen konnte, und da schien die diplomatische Position im viersektoralen Berlin am besten geeignet, den Wiedereinstieg in die deutsche Politik vorzubereiten, auch wenn er diesen Weg zunächst nicht eindeutig und zielstrebig verfolgte. Klar war nur, dass ein dauerhafter Einsatz in oder für Norwegen nicht in Betracht kam. Seiner Tochter Ninja erklärte er am 4. Dezember 1947 in einem Brief, dass Deutschland dasjenige seiner »beiden Vaterländer« sei, dem es schlecht ging und das seiner Unterstützung am meisten bedurfte.
Die Zerstörungen, die materielle Not und der Hunger bestimmten 1947 das soziale Leben in Berlin. Es war unmenschlich kalt in diesem Winter 1946/47 und Brennholz knapp. Willy schrieb an Rut: »Ich pflege nicht zu beten … Sonst würde ich mich auf die Knie werfen und sagen: Lieber Gott, gib den hungernden Menschen in den zerstörten Häusern wenigstens etwas Wärme.« Das Elend war schwer erträglich. Seine Position, die in vieler Hinsicht privilegiert war, bereitete ihm Unwohlsein. Als Rut Ostern 1947 nach Berlin folgte, kamen sie als Angehörige der Alliierten Streitkräfte in einer beschlagnahmten Villa unter, wo sie zusammen mit anderen Angehörigen der Militärmission wohnten. Die Zeit war reich an Widersprüchen und grotesken Regeln. So verlangte die Hausordnung der Villa, dass Chauffeur und Putzfrau, die in der Villa beschäftigt und verheiratet waren, sich vom Garten fernzuhalten hätten, nachdem die »Herrschaften« nach Hause gekommen seien. Das unwürdige und unnatürliche Kolonialleben, so Rut, gehörte beendet.
Die Hausordnung wurde schnell entfernt, und im Januar 1948 wurde Willy Brandt Vertreter des SPD-Vorstands in Berlin und fungierte als Verbindungsmann zu Partei, Magistrat und den vier Siegermächten. Am 1. Juli 1948 erhielt er die deutsche Staatsbürgerschaft zurück, welche die Nationalsozialisten ihm 1938 genommen hatten. Am 4. September heirateten Willy und Rut Brandt, und genau einen Monat später kam der erste Sohn zur Welt, dessen Geburtsurkunde den kuriosen Eintrag enthält: »Peter Willy Frahm, genannt Brandt«.
Dass ich als »Frahm« geboren bin, wurde mir erst 1983 bei der Vorbereitung meiner ersten Hochzeit klar. Natürlich war der Name nie ein Problem für mich. Noch vor der Flucht aus Deutschland hatte mein Vater den Allerweltsnamen Herbert Frahm gegen den nom de guerre Willy Brandt getauscht und ihn dann bei der Rückkehr nach Deutschland beigehalten. Er verwendete in den ersten Exiljahren unterschiedliche Pseudonyme, aber »Willy Brandt« verfestigte sich so sehr, dass die Lebenspartnerin und spätere Ehefrau Carlota überrascht war zu erfahren, dass sie demnächst Frahm heißen würde. Die Begründung für den Namenswechsel fand ich stets plausibel: Die publizistische und politische Aktivität des Erwachsenen erfolgte fast ausschließlich unter dem Namen Brandt. Zum Geburtsnamen zurückzukehren, hätte etwas Künstliches gehabt. Mit diesem verband ihn »fast nichts als eine schwierige Kindheit«. Mit der gegenteiligen Entscheidung hätte er sich sogar dem Vorwurf aussetzen können, etwas aus den zurückliegenden Jahren verbergen zu wollen. 1949 wurde der Namenswechsel der Familie schließlich legalisiert. Da war Brandt schon Berliner Abgeordneter des Bundestags der neu gegründeten trizonalen Bonner Republik.
Die Kleinfamilie Brandt entstand gewissermaßen durch meine Geburt, mitten in der Blockade West-Berlins. Der Vater konnte, wie das früher so war, mit dem Winzling noch nicht viel anfangen. Bei dessen erstem Anblick soll er gesagt haben: »Na ja, er wird ja wohl mal etwas größer werden.« Mutter erzählte aber auch, dass er nach der Kunde von der geglückten Geburt eines Knaben sehr gerührt gewesen sei und die halbe Nacht gesungen und Mandoline gespielt hätte. Lars kam im Juni 1951 dazu und brachte uns quantitativ in den unteren Normbereich. Bei mir lösten die Ankündigung und das Erscheinen von Lars erheblichen Unwillen aus – ich soll einige Jahre danach ziemlich unausstehlich gewesen sein, ganz im Gegensatz zu den ersten zwei oder zweieinhalb Jahren. Aber ich hatte meinen jüngeren Bruder längst fest ins Herz geschlossen, als noch Matthias zur Welt kam – über zehn Jahre nach Lars und dreizehn Jahre nach mir. Der Abstand zu den älteren Geschwistern war so groß, dass Neid- oder Konkurrenzgefühle nicht mehr entstanden. Ich fühlte mich eher wie ein junger Onkel denn ein Bruder.
Für die Mutter war Matthias ein großes Geschenk. Sie konnte manche Frustration in ihrer Ehe durch die Hinwendung zu dem neuen Erdenbürger kompensieren. Der Vater musste zur Zeit der nicht risikolosen Geburt von Matthias eine USA-Reise absolvieren. Es waren die Monate kurz nach dem Mauerbau. Willy schien in jüngere Jahre zurückversetzt zu sein. Er erlebte einen emotionalen Ausgleich zu seinem fordernden Amt und wurde 1961/62 angesichts der weltpolitischen Turbulenzen mit der Doppelkrise um Berlin und Kuba zu Hause ständig an das Wesentliche im persönlichen Leben wie in der Politik erinnert.
Ninja, meine große Schwester, genauer gesagt: Halbschwester, die Vaters und meinen Geburtsnamen trägt, verbrachte regelmäßig einen Großteil ihrer Sommerferien bei uns in Berlin und verreiste bis in die siebziger Jahre regelmäßig mit Halbbrüdern, Stiefmutter und Vater. Als Ninja noch klein war, schrieb Willy ihr liebevolle Briefe, in denen er kindgerecht seine Tätigkeit erklärte und warum es wichtig sei, dass er in Deutschland arbeite. Auf jeden Fall gehörte Ninja ohne Wenn und Aber zu uns, und daran hatte meine Mutter großen Anteil.
Ansonsten war die väterliche Sippe überschaubar. Sie bestand aus einer Großtante zweiten Grades, einer Cousine der Großmutter, die als Krankenschwester in der Schweiz lebte und uns gelegentlich besuchen kam, Vaters Hamburger Cousine Erika, aus den Großeltern, Willys Halbbruder Günter und dem Pflegekind Waltraud. Auch Waltraud und Günter lebten, bereits erwachsen, in Lübeck zunächst in dem kleinen, sehr einfachen Haus der Großeltern (Außentoilette im Stall). Doch es gab auch einen großen Obst- und Gemüsegarten, mit Hühnern und zeitweise auch ein oder zwei Schweinen – in der frühen Nachkriegszeit ein Schatz. Er gab fast alles her, was zur Ernährung benötigt wurde.
Günter arbeitete bis zu seiner Pensionierung als Vollzugsbeamter in einer Strafanstalt. Die beiden hatten kein enges, aber ein gutes Verhältnis. Onkel Günter erzählte, sie hätten manchmal viel Spaß zusammen gehabt. Willy, der eigentlich nicht mehr rauchen sollte, hat sich mit ihm in seine Wohnung zurückgezogen, und dann wurde stundenlang lustvoll gequalmt, denn Günter frönte demselben Laster. Es war eine Art Rauchverschwörung.
Oma und Opa standen bei Lars und mir in höchstem Ansehen: Sie, Martha, war eine liebe und herzliche, doch unsentimentale Frau, bei der ich 1955 gern meine ersten Schulsommerferien verbrachte. Er, Emil, war ein gütiger und bärenstarker Mann, mit spezifischem Humor. Bis zu seinem 76.