Peter Brandt L.

Mit anderen Augen


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Schwarzrock außerdem für inhaltliche Ratschläge.

      Krankheit und Tod

      I

      m Oktober 1991 weilte ich mit meiner kleinen Familie für einige Tage im bayerischen Oberaudorf. Meine Schwiegermutter besaß dort eine Ferienwohnung. Eines Tages – es muss der 11. Oktober gewesen sein – starrten mich riesige Zeitungslettern an: Willy Brandt sei im Krankenhaus wegen einer Krebsgeschwulst operiert worden. In BILD-typischer Manier wurde der Vorgang dramatisiert. Die Neuigkeit irritierte mich offenbar so sehr, dass ich unmittelbar nach der Lektüre des Artikels einen Auffahrunfall verursachte – harmlos, aber immerhin. Sehr viel mehr als BILD schon wusste, ließ sich zu diesem Zeitpunkt nicht sagen, wie ich in einem Telefongespräch mit Brigitte Seebacher-Brandt erfuhr. Sie handelte in meines Vaters ausgesprochenem oder unausgesprochenem Auftrag, als sie die Weitergabe von Informationen steuerte und alles Organisatorische regelte, einschließlich der Krankenbesuche.

      Sobald sich die Möglichkeit ergab, fuhr ich in die Chirurgie der Kölner Universitätsklinik, wo Vater lag, um ihn zu besuchen. Er machte einen munteren, zuversichtlichen Eindruck. Es gelang mir, im Anschluss an eine Visite den behandelnden Arzt Professor Pichlmaier beiseite zu nehmen. Er berichtete mir, die Operation als solche sei sehr gut verlaufen. Der Darmtumor sei vollständig entfernt worden. Allerdings habe sich herausgestellt, dass die Krebsart sehr aggressiv sei. Das hätte er aber im Gespräch mit dem Patienten »nicht vertieft«. Die Prognose war also unsicher. Als meine Frau Antonia, der kleine Anton und ich Vater in seinem Unkeler Haus besuchten, schien er beinahe der Alte zu sein, allenfalls noch ein wenig geschwächt vom Eingriff. Das bestätigte sich bei weiteren Zusammenkünften in den folgenden Monaten. Er nahm wieder zahlreiche berufliche Termine wahr, reiste und hielt Reden.

      Ich weiß nicht mehr, wo und wie ich von der zweiten Operation am 22. Mai 1992 erfuhr, die nach wenigen Minuten abgebrochen werden musste. Der Krebs hatte sich explosionsartig ausgebreitet und bereits mehrere Organe befallen. Er war schlechterdings nicht mehr operabel. Eine Kontrolluntersuchung Ende März hatte noch keine Hinweise auf den erneuten Ausbruch der Krankheit ergeben. Aber am Ostermontag 1992 kollabierte Vater in seinem französischen Ferienhaus am Südrand der Cevennen. Selbst in den Wochen danach ging er noch in sein Büro, sprach in Luxemburg »Zur Architektur Europas«. Die Krankheit schritt aber rascher fort als erwartet. Seinen letzten Text, die bewegende Grußadresse an die Sozialistische Internationale, die Mitte September in Berlin tagte, konnte Willy Brandt nur noch mit massiver Hilfe seiner Frau produzieren.

      Der Stand der Dinge war mir bekannt, als ich meinen Vater nur Tage nach der gescheiterten Operation in der Klinik besuchte. Er wirkte gelassen, beinahe ein wenig heiter, und versuchte nicht, krampfhaft gute Laune zu demonstrieren. Auch wenn keiner das so aussprach, war zwischen uns klar, dass es sich ab jetzt um eine Krankheit zum Tode handelte und wir uns nicht mehr häufig sehen würden. Er erzählte, er habe den Arzt gefragt, ob er denn noch einmal zum Arbeiten in sein Büro zurückkehren könne. Dieser habe geantwortet: »So schwach, wie Sie waren, als Sie hierher kamen, müssen Sie erst einmal Kräfte sammeln.« Niemand machte ihm etwas vor, aber seine positiven Gedanken wollte man ihm auch nicht ausreden.

      Brigitte nahm Vater mit nach Hause und pflegte ihn die kommenden gut vier Monate aufopferungsvoll, unterstützt von Hausarzt, Haushälterin und dem geschätzten Gärtner, was ich ihr bis heute hoch anrechne. Auch ohne eine Komplikation mitzuerleben, wurde mir klar, dass dafür Kraft, starke Nerven und viel Liebe nötig waren. Abgesehen vom Morphium, das man ihm in steigender Dosierung verabreichte, wurde die medizinische Versorgung, insbesondere die Apparatemedizin, auf ein Minimum reduziert. Soweit das unter den gegebenen Umständen möglich war, gestaltete er sein Sterben selbstbestimmt. Es war schön zu erleben, wie er die Momente des relativen Wohlbefindens auskosten konnte – etwa bei Junisonne im Garten zu sitzen, ein Stück Kuchen zu verspeisen. Künstliche Ernährung und Astronautenkost, die ursprünglich einmal vorgesehen waren, hatte er mit den meisten medizinischen Gerätschaften zurückgewiesen. Er las nach wie vor viel, Belletristik, Zeitungen, Magazine.

      Brigitte ordnete die Besuche, damit sie ihm nicht zu viel wurden. Es kamen Politiker, und nicht nur Sozialdemokraten, persönliche Freunde. Am häufigsten kamen Klaus Harpprecht und Egon Bahr. Und natürlich die Kinder. Ich selbst fuhr von Hagen im Abstand einiger Wochen nach Unkel. Dort blieb ich, bis ich zu spüren meinte, dass es zu anstrengend würde. Zu klären gab es zwischen uns nichts. Wir waren miteinander im Reinen. Die Gesprächsführung überließ ich stets dem Kranken, nach einem kurzen Bericht über meine Frau und die Kinder, eventuell auch über Berufliches, das ihn interessieren könnte. Über den Tod sprachen wir nicht direkt. Das hatten wir in allgemeiner Hinsicht einmal eingehend gemacht, als Vater noch gesund war. Doch saß der Sensenmann unsichtbar stets mit am Tisch oder später am Bettrand. Obwohl Vater und Sohn gleichermaßen nicht dazu neigten, starke Gefühle zu zeigen, konnten wir einmal sogar zusammen weinen. Als ich mich im Juli mit der Familie in den Sommerurlaub verabschiedete, kam mein Vater an das Eingangstor und winkte mir zum Abschied. So eine Geste kannte ich von ihm vorher nicht. Ich überlegte noch, ob wir den Urlaub abblasen sollten. Aber darauf warten, dass er stirbt?

      Die gleiche Frage stellte ich mir auch bei einer späteren Gelegenheit: Meine Mutter arbeitete seit den frühen achtziger Jahren immer wieder an ihren episodenhaft angelegten Erinnerungen, die natürlich nicht zuletzt Erinnerungen an Willy Brandt waren. Sie hatte sie auf Norwegisch, in ihrer Muttersprache, verfasst und mich gebeten, eine deutsche Übersetzung anzufertigen, weil sie mir zutraute, den richtigen Ton zu treffen. Die Arbeit war mir relativ angenehm, ich erledigte sie überwiegend im Sommer 1991. Im Pingpongverfahren ging es zwischen meiner Mutter, ihrem langjährigen Lebensgefährten, dem dänischen Journalisten Niels Nørlund, und mir hin und her. Bald kamen wir zu einer für gut befundenen deutschen Version. Ich setzte meinen Vater von der Übersetzertätigkeit in Kenntnis und machte klar, dass das keine Parteinahme bedeutete, sondern dass ich das ebenso selbstverständlich für ihn gemacht hätte. Ich schickte ihm wohl auch das Manuskript.

      Die Rezensenten hoben später besonders die Fairness hervor, mit der Rut Brandt ihren früheren Ehemann behandelte. Das fand auch ich. Andernfalls hätte ich sofort interveniert, doch das war an keiner Stelle nötig. Nun ist man als todkranker Mensch sicher extrem empfindlich. Wie ich viel später aus Schilderungen von Brigitte erfuhr, war mein Vater zwischenzeitlich sehr wütend auf mich, als im »Stern« ein Vorabdruck der Rut-Brandt-Erinnerungen erschien. Natürlich hatte ich mit der Vermarktung des Buches überhaupt nichts zu tun. Von einem Vorabdruck wusste ich nichts. Jedem, der die Sache unvoreingenommen betrachtete, musste klar sein, dass das Erscheinen des Buchs von Rut und die Krankheit von Willy ein rein zufälliges Zusammentreffen war. Denn auch ein nicht wissenschaftliches Buch kann man nicht von einem Monat auf den anderen schreiben, wenn man kein Profi ist. Soweit ich weiß, ist auch nirgendwo ein anderslautender Verdacht erhoben worden. Mein Vater grollte trotzdem. Brigitte stellte die Eintracht dann wieder her, ohne dass ich das Ganze damals mitbekam.

      Für den 8. Oktober 1992 hatte ich mich wiederum in Unkel angemeldet und traf dort am späten Vormittag ein. Tags zuvor waren nacheinander meine beiden Brüder dagewesen. Mein Vater war nicht mehr ansprechbar. Ich wusste, es konnte der endgültige Abschied sein, und saß etwa eine Stunde an seinem Bett. Dann ging ich hinunter, um noch ein wenig bei Brigitte zu verweilen. Dass das Ende noch am selben Tag kam, ahnte ich nicht. So besuchte ich meine Mutter, die ebenfalls im Rheinland – nördlich von Bonn – wohnte und übernachtete bei ihr. Am frühen Morgen weckte sie mich und sagte: »Willy ist tot. Sie haben es gerade im Radio gemeldet.« Wir hielten einen Moment schweigend inne. Am Vormittag rief ich dann meine Brüder an. Wir verabredeten uns zu einem gemeinsamen Besuch bei Brigitte, die weiterhin alles managte. Was den öffentlichen Teil der Trauerfeierlichkeiten betrifft, stand ihr ein von Bundeskanzler Kohl beauftragter Beamter zur Seite.

      Ich fühlte mich wie betäubt, auch durch das allgemeine Aufsehen, und war irgendwie erleichtert, nicht agieren zu müssen. Ich hatte das sichere Gefühl, dass Brigitte die Dinge im Sinne meines Vaters regeln würde. Möglicherweise hatten sie sogar darüber offen gesprochen, so offen, wie er auch mit Helmut Kohl über die Gestaltung des Staatsakts gesprochen hatte – möglicherweise sogar im Hinblick auf ein Detail, das aufmerksam registriert und vielfach kritisiert wurde: dass meine Mutter weder zum staatsoffiziellen noch zum privaten Teil der Beisetzung eingeladen worden war. Ich neige