Peter Brandt L.

Mit anderen Augen


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einer ursozialdemokratischen Familie stammte und ihn mit anderen Sozial­demokraten wie Gustav Klingelhöfer zusammenbrachte, der noch vor der »Zwangsvereinigung« von ostzonaler SPD und KPD mit Grotewohls Linie brach. Von 1946 bis 1951 war er Stadtrat beziehungsweise Senator für Wirtschaft. Auch das Ehepaar Klingelhöfer gehörte zum Freundeskreis meiner Eltern und war Lars und mir sehr zugetan. Ich erinnere mich noch genau, wie der unheilbar krebskranke Gustav mit seiner Frau ein letztes Mal zu uns kam, um bei klarem Verstand Abschied zu nehmen und die Kinder noch einmal zu sehen.

      Aber zurück zu Harold Hurwitz. Harold und Willy lernten sich kennen, als mein Vater noch für die Norwegische Militärmission arbeitete. Harold war sein Leben lang so etwas wie ein linker Antikommunist ohne Scheuklappen oder Berührungsängste. Später war ich erstaunt zu erfahren, dass er, der er in den Jahren von McCarthy üblen Verdächtigungen ausgesetzt gewesen war, seine US-Staatsbürgerschaft niemals aufgegeben hatte und ebenso wenig seine jüdische Konfession. Gefühlsmäßig schien er mir mehr als allem anderen der Berliner Sozialdemokratie verhaftet zu sein. Er wurde wissenschaftlicher Mitarbeiter von Ernst Reuter und Willy Brandt. Später schlug er die Universitätslaufbahn ein. Harold war ein höchst liebenswertes Unikum, über das man ein eigenes Buch schreiben könnte. Die Hurwitzens wohnten ihr Leben lang in Zehlendorf und gingen oft mit Kathy, Lars und mir baden. Harold brachte Lars das Schwimmen bei und forcierte mein frühes Interesse an Geschichte. Er schenkte mir Fritz Fischers Buch über die deutsche Kriegszielpolitik im Ersten Weltkrieg. Das war 1961. Ich war keine dreizehn Jahre alt und hatte bis dahin nicht viel vom 20. Jahrhundert wissen wollen, was sich nun langsam änderte.

      1956 machten Brandts und Hurwitzens gemeinsam Urlaub auf der dänischen Insel Møn. Harold erzählte Jahrzehnte später, wie die beiden Elternpaare nach einem guten Abendessen in dem gemütlichen Gasthof, wo wir während der Ferien wohnten, ohne Kinder einen Verdauungsspaziergang machen wollten. Willy grübelte über seine Zukunft – er war auf dem Bundesparteitag in München zum zweiten Mal nicht in den SPD-Vorstand gewählt worden und spürte noch die Berliner Fraktionskämpfe in den Knochen. Da hat Harold ihn angeblich mit der Prophezeiung aufzumuntern versucht: »Denk an Churchill, wie lange er warten musste. Eines ist ganz sicher: Außenminister der Bundesrepublik wirst du jedenfalls werden.« Über diese Perspektive verliefen sich die beiden Brüder im Geiste, verloren ihre Frauen aus den Augen, und als sie nach über zwei Stunden in finsterer, kühler Nacht umherirrend wieder am Ausgangspunkt ankamen, fanden sie Rut und Greta vergnügt in einem der großen Betten liegen und sich mit einer Flasche Weinbrand trösten. Harold sagte mir einmal ohne jeden Groll, Willy wäre »immer wieder« ein ausgesprochen zugewandter, wunderbarer Freund gewesen. Aber man hätte nicht darauf vertrauen können, den Faden bei nächster Gelegenheit einfach weiterzuspinnen.

      Bei Klaus Schütz lagen politische und persönliche Freundschaft am dichtesten beieinander. Nach meinem Eindruck war Schütz in der Berliner Zeit Willys engster Vertrauter unter den Freunden – dann wurde es Egon Bahr. Klaus Schütz, auch er starb 2012, trat 1946 in die SPD ein, während er ein Studium an der Humboldt-Universität aufnehmen wollte. Er wurde zum Mitbegründer der Freien Universität. Zunächst liebäugelte er mit einem linkssozialistischen Antistalinismus trotzkistischer Observanz, wurde aber über einen Stipendienaufenthalt in Amerika 1949 zum eifrigen Parteigänger Ernst Reuters und Willy Brandts. Klaus Schütz organisierte jahrelang den Machtkampf um den Berliner SPD-Vorsitz, den Willy Brandt schließlich 1958 gegen den früheren Metallarbeiter und erprobten KPD-Bekämpfer Franz Neumann für sich entscheiden konnte.

      Auch im Falle Schütz-Brandt waren die Familien miteinander befreundet, jedenfalls neben den Männern auch die Frauen. Wenn Willy Brandt und Klaus Schütz ihre langen Spaziergänge machten, auf denen sie viel (Macht-)Politisches beredeten, nahmen sie mich oft mit, auch als ich schon älter war und anfing, kritisch über das zu denken, was da zur Sprache kam. Als ich meinen Vater einmal auf etwas ansprach, das mich an Schütz irritierte, legte er mir nahe, den vermeintlichen Zynismus mancher Äußerungen von Klaus nicht falsch zu verstehen. Dahinter verberge sich ein ausgeprägtes moralisches Empfinden, das sich mit Zynismen gegen ständige Verletzungen imprägniere. Solche Belehrungen erteilte mein Vater nicht oft – und wenn, dann ohne Zeigefinger. Vielleicht haben sie sich bei mir deswegen so gut eingeprägt, weil er sie so vorsichtig dosierte. Allerdings, so denke ich, wären etwas mehr direkte Orientierungsangebote in manchen Phasen hilfreich gewesen …

      Was Klaus Schütz und Willy Brandt um 1960 überlegten, klang in den Ohren eines aufgeweckten Zehn-, Zwölf-, oder Vierzehnjährigen bisweilen recht bizarr. Weil sie sicher sein konnten, dass der andere nichts in den falschen Hals bekam, sprachen sie ohne Vorbehalt und Vorsicht. Von Willys Kanzlerkandidatur war, soweit ich mich erinnern kann, vor dem Sommer 1960 nicht die Rede, jedenfalls nicht in meiner Anwesenheit. Von der programmatischen und strategisch-taktischen Neuaufstellung der SPD sprachen sie dagegen viel und zogen – neben anderem – sogar ein Zusammengehen der SPD mit der Heimatvertriebenenpartei BHE in Betracht. Das war damals nicht ganz so absurd, wie es sich in der Rückschau ausnimmt. Zwischen beiden Gruppierungen gab es inhaltliche Überschneidungen, insbesondere in der Sozialpolitik. Auch koalierten SPD und BHE in mehreren Bundesländern, wie zum Beispiel in Hessen. Schließlich gehörten wichtige Funktionäre des Bundes der Vertriebenen beziehungsweise seiner Landsmannschaften auch der SPD an, so Wenzel Jaksch, der als sudetendeutscher Sozialdemokrat in den dreißiger Jahren einen »volkssozialistischen« Flügel repräsentierte. Jaksch war übrigens im Früherbst 1965 zum letzten Mal bei uns zu Besuch, im Jahr danach kam er bei einem Autounfall ums Leben. Ich will nicht zu viel in solche Episoden hineinlegen. Mir liegt vor allem daran zu illustrieren, wie Willy Brandt um 1960 gemeinsam mit Klaus Schütz Gedankenspiele anstellte, die einem einzigen Ziel dienten: der bundesdeutschen SPD einen Weg aus der Dreißigprozentecke und der strukturellen Minderheitsposition zu eröffnen. Meine Mutter meinte scherzhaft: »Wenn sie das an die Regierung brächte, würden sie sich selbst mit dem Teufel verbünden.«

      Im Herbst 1961, kurz nach dem Mauerbau und der verlorenen Bundestagswahl, beschloss mein Vater, im kommenden Januar mit seinem Berater und engen Mitarbeiter Egon Bahr in Tunesien auf der Insel Djerba zwei oder drei Wochen Urlaub zu machen. Verglichen mit dem Tourismus späterer Jahrzehnte war das Land noch ziemlich ursprünglich. Ob er selbst darauf gekommen war oder ob meine Mutter ihm das eingeblasen hatte: Ich als Sohn Nr. 1 sollte mit. Nach einem ausführlichen Antrag an die Schule (»einmaliges Bildungserlebnis«), durfte ich als dritter Mann mitfahren.

      Die tunesische Regierung stellte unaufgefordert einen Chauffeur und zwei Sicherheitsleute für uns ab, die wir, in der Annahme, damit auch ihren Rang zu erfassen, Nummer eins, Nummer zwei und Nummer drei nannten. Tatsächlich war Nummer zwei der Chef der kleinen Crew. Einmal zeigte er uns die Narben an seinem Bein, die von Folterungen durch die französische Kolonialmacht herrührten. Wir verbrachten zwei Wochen in einem wunderbar orientalischen Hotel auf Djerba und reisten dann mehrere Tage durchs Land. Es war nicht nur für mich außerordentlich faszinierend. Am Ende der Reise traf mein Vater in Tunis Präsident Habib Bourguiba, der sich schon durch seinen Palast als ein orientalischer Potentat zu erkennen gab, wie er leider auch aus antikolonialen Bewegungen hervorgehen konnte. Der Westberliner Bürgermeister war Anfang 1962 nicht wählerisch, wenn es galt, Unterstützung zu finden.

      Meine »objektive Funktion« auf dieser Reise bestand nicht zuletzt darin, bei den gelegentlichen Einladungen durch starkes Essen die Wertschätzung der Gäste für das ihnen Kredenzte glaubwürdig auszudrücken. Ob in einem Beduinenzelt, wo undefinierbare scharfe Gerichte serviert wurden, oder beim Gouverneur von Djerba, der von Soldaten oder Polizisten eine Unzahl von Gerichten in unglaublichen Quantitäten bringen ließ – ich war von Natur aus sehr dünn und konnte folgenlos riesige Mengen verdrücken. Willy und Egon gaben sich ebenfalls Mühe, lagen aber am Folgetag prompt krank darnieder. Nur ich war putzmunter!

      Egon Bahr fungierte seit 1960 als Senatspressechef, nachdem er Redakteur beim RIAS gewesen war. Als wir zusammen nach Tunesien fuhren, waren die beiden schon per Du, aber so ganz sicher schien sich mein Vater nicht zu sein, wie vertraulich er mit seinem befreundeten Mitarbeiter und Berater umgehen konnte. Als Egon beim Hochseeangeln besonders viele Fische fing, ernannten mein Vater und ich ihn zu »Dr. Barsch« (natürlich waren es keine Barsche, die er gefangen hatte). Egon wurde des Herum­alberns wohl irgendwie überdrüssig, sodass Vater mich, der ich kein Ende finden konnte, unauffällig stoppte. Er war ein sorgsamer Mensch, stets bestrebt,