die Kleinen gehütet, wenn die Eltern in die Stadt fuhren oder am See einen Badenachmittag verbrachten. Da hatte er sich mit der Großmutter, die gar nicht wie eine aussah, angefreundet und bei ihr Unterricht in Niederländisch genommen. So hatte er die Stunden bei ihr jedenfalls gegenüber Rosemarie gerechtfertigt. Man brauche als Hausmeister und Empfangschef bei den vielen Gästen mit den gelben Autokennzeichen ein paar elementare Sprachkenntnisse. »Tja«, hatte Rosemarie nur geseufzt. Kaum waren die Holländer eingewiesen, kamen Hans-Peter und Ursel Schmitz aus Köln mit ihrem schweren Wohnmobil, Rheinländer durch und durch und im siebzehnten Jahr Gast; das Ehepaar Beauchamp aus Lothringen, das seit Jahren auf seiner Fahrt an die Ostsee einen mehrtägigen Zwischenstopp machte; die Steiners aus Sachsen, die mit Ingo, ihrem erwachsenen, spastisch gelähmten Sohn öfter im Jahr für eine Woche an der Blauen Bucht urlaubten; Omlors und Ruffings, zwei Ehepaare aus dem Saarland, die Wolle und Rosemarie auch dieses Mal mit launischen Fragen begrüßten: „Wo han ihr dann die Sunn vaschteggeld? Hanna es Bier kald geschtelld?“
Zu Dutzenden trudelten sie an diesem Freitagnachmittag aus ganz Deutschland und den Nachbarländern ein, altbekannte Gesichter für Rosemarie, aber auch schon für Wolle. Sie alle hatten ihn von Anfang an als Rosemaries Neuen akzeptiert.
Kennengelernt hatten sich Wolle und Rosemarie vor vier Jahren bei einem Linedance-Kurs des nahe gelegenen Country-Clubs. Linedance, jener steifbeinige Tanz, bei dem sich die Teilnehmenden mit emotionslosen, ja gefrorenen Gesichtern wie erratische Blöcke hin- und herschoben, mit angewinkeltem Daumen in der Gürtelschlaufe der Bluejeans, - der Tanz entsprach mit seiner streng fixierten Choreographie den psychotherapeutischen Bedürfnissen Rosemaries in dieser Lebensphase. Der überraschende Tod von Eberhard hatte ihren Seelenhaushalt komplett durcheinandergeworfen. Was sie suchte, war Ordnung, Halt, Orientierung, wie sie der Linedance offerierte. So gönnte sie sich einmal pro Woche die Tanzstunde. Auch war es wichtig, den Kontakt mit dem Country-Club zu pflegen. Der rührige Clubchef Harry Lohmann, genannt Howdie, unterbreitete Freizeitangebote, über die Rosemarie die Campingurlauber gerne kompetent informieren wollte. Nach der Tanzstunde saß man noch auf einen Whisky zusammen, schaute von der Ranchterrasse auf El Condor Pasa, das 23 Jahre alte Westernpferd, das beim Country-Club sein Gnadenbrot fraß. Alle gemeinsam beratschlagten über neue Aufgaben für den Club, um die klamme Clubkasse aufzubessern. Nur zu gerne wollte Howdie zwei, drei Pferde anschaffen und Ausritte für die Urlauber anbieten. Pläne schmieden war das eine, und darin waren alle im Country-Club Meister. Die Finanzen waren das andere. Da schwadronierten sie von Sponsoren, reichen Leuten aus der Stadt, die sich mit dem Country-Club eine goldene Nase verdienen könnten. Aber bisher hatte kein Sponsor diese Einschätzung geteilt und El Condor Pasa trottete weiter alleine seine müden Runden.
Insgeheim hoffte Rosemarie beim Linedance-Kurs auf eine Männerbekanntschaft. Sie brauchte jemanden, der sie auf dem Campingplatz unterstützte, aber auch einen Menschen, mit dem sie alles bereden konnte, was das Leben an Sorgen und schönen Erlebnissen mit sich brachte. Ein Herr mit gezwirbeltem Schnauzbart und edlem Cowboyhut machte ihr gleich zu Beginn des Kurses Avancen. Doch sprach er beim Whisky die ganze Zeit von seinen Arztbesuchen. Er schilderte ihr ausführlich die Prostatauntersuchung beim Urologen, begeisterte sich für die Wanderung des Koloskops durch seinen Dickdarm, die er am Bildschirm mitverfolgt hatte, und wog vor ihr selbstversunken ab, ob er seine Krampfadern in Kürze veröden, lasern oder strippen lassen sollte. Als sie auch noch sein Alter erfuhr, 72 Jahre, schied er als zupackender Mithelfer auf dem Campingplatz und auch als liebender Gatte für sie aus. Mit ihren damals 58 Jahren war sie vom Leben gezeichnet. Die rötlichen Haare dünnten aus und gaben den Blick auf die Kopfhaut an manchen Stellen frei, das Gesicht war von kleinen Falten durchfurcht und unter den Augen deuteten sich dunkle Ringe an. Die Ansprüche an einen Zukünftigen hatte sie zwar zurückgeschraubt, aber jeden würde sie deswegen noch lange nicht nehmen! Nein, lieber wollte sie sich allein durchs Leben kämpfen als beispielsweise diesen Egomanen nehmen, der ihr nur eine einzige Frage während des einstündigen Zusammenseins gestellt hatte, nämlich die, wo im Country-Club die Toilette sei.
Eines Tages war er da, wie Phönix aus der Asche: Wolle. Linedance war der einzig mögliche Tanz zwischen beiden: Er mit der Statur eines Bud Spencer, nur nicht so groß, sie einen Kopf kleiner als er, kugelrund, mit fleischigen Oberarmen. Sie trampelten in Traversen und Quadrillen vor- und nebeneinander über den knarrigen Bretterboden der Ranch zur Musik von Johnny Cash und Shania Twain den Canadian Stomp. Nach wenigen Tänzen warf Wolle mit seinen kleinen Augen lustige Blicke in Richtung Rosemarie und stampfte noch fester auf. Die kopfüber hängenden Whisky- und Ginflaschen über der Theke wackelten bedrohlich. Am Ende der Stunde lud er sie zu einem Johnnie Walker Black Label ein. Noch am selben Abend zeigte sie ihm den Campingplatz und bot ihm an, in einem der Blockhäuser for free zu übernachten. Am nächsten Morgen hackte er Holz im Freien, während sie den Kaffee brühte. Als er seinen Strammen Max schmatzend aß und Bierschinken scheibenweise verschlang, hatte sie das Gefühl, hier sei ein Leben am Ort seiner Bestimmung angelangt.
So redselig Wolle von Anfang an war, wenn es um Gott und die Welt ging, so knapp angebunden war er, wenn sie ihn auf seine persönliche Vergangenheit ansprach. Auch nach vier Jahren Zusammenleben wusste sie nur von einem abgebrochenen Jurastudium in München, von einer Zeit als Bahnkellner und von dem zermürbenden Dasein als Verkäufer in einem Möbelzentrum. Dort hatte er für einige Monate in der Bettenabteilung gearbeitet. Nach einer Verkaufsschulung musste er den Kunden mit der Frage auflauern, ob er helfen könne. Fast immer war die Antwort gleich: „Wir wollen uns nur mal umschauen!“
Er sprach nie von seinen Eltern oder Geschwistern, anderen Lebenspartnerinnen oder gar Kindern. Als er nach zwei Monaten aus seiner Stadtwohnung auf den Campingplatz in Rosemaries Wohnung über der Seeklause einzog, hatte er nur wenige Möbel und Kleider, dafür aber eine Vielzahl von Biergläsern und Weinkaraffen, Humpen, Krügen und Kelchen. Außerdem brachte er sein Akkordeon mit, mit dem er manches Mal an schwülen Sommerabenden die angetrunkenen Gäste der Seeklause beglückte. Ab und zu spielte er noch über den Beginn der Nachtruhe um 22.00 Uhr hinaus, was Rosemarie auf die Palme brachte. Denn wenn unter Campern eines heilig war, dann die Campingplatzordnung. Der Ruf der Blauen Bucht stand auf dem Spiel!
„Ich fahr noch mal eben eine Runde“, warf er Rosemarie zu, nachdem sich die Ankunftswelle der Urlauber gelegt hatte. Der Regen hatte nachgelassen, der Wald über dem Gelände war erfüllt von jubelnden Vogelstimmen.
Wolle zurrte sich den sternverzierten Helm fest und stieb mit seinen weiß-pinken Inlinern davon. Rosemarie hatte sie ihm zum 50. Geburtstag geschenkt. Sein größter Wunsch hatte sich damit erfüllt. In einem der seltenen Momente, in denen er von seinem Früher erzählte, hatte er offenbart, als Kind leidenschaftlich gern Rollschuh gefahren zu sein. Keine Frage, diesen Wunsch musste Rosemarie ihm erfüllen, auch um ihn zu weiteren Gesprächen über seine Herkunft zu motivieren. Schon bald hatte er eine Lieblingsstrecke über Rad- und geteerte Fußwege gefunden. Sie führte ihn am Country-Club und am Tiergehege vorbei zum See und um diesen herum zurück zum Campingplatz. Mit voller Fahrt brauste er jetzt das leicht abschüssige Gelände auf die Bundesstraße zu, um kurz vor der Einmündung abzubremsen und dann in scharfem Bogen in den Radweg Richtung See einzubiegen. Normalerweise war das kein Problem. Aber heute war der Teer vom Regen glatt und wie aus dem Nichts huschte ein Hase über die Waldstraße. Wolfgang Trödler versuchte, ihm auszuweichen. Er kam von der Strecke ab und raste auf eine 500 Jahre alte deutsche Eiche am Straßenrand zu. Im letzten Augenblick breitete er die Arme aus, um den Baum zu umarmen. Die Wucht war gewaltig, er schlug auf die groben Schuppen der Borke auf und kippte dann leblos zur Seite. Blut tropfte aus der Nase in den nassen Waldhumus.
II
„Wolle, mein liebster Wolle, komm doch wieder zurück zu mir“, flüsterte Rosemarie bei jedem Besuch in der Klinik. Sie saß am Krankenbett und hatte ihren Kopf neben den von Wolle gelegt. Wolle war in eine andere Welt abgetaucht. Nach dem Unfall fand ihn ein Camper, der Notarzt war zehn Minuten später da. Im städtischen Krankenhaus versetzte man ihn in ein künstliches Koma. Erst nach zwei Wochen kam er von der Intensivstation in die Neurologische Klinik. Neben drei Rippenbrüchen und einer Fraktur des linken Unterarms sowie vielen Blutergüssen, Hautabschürfungen und einer geschwollenen Nase hatte er ein Schädel-Hirn-Trauma davongetragen. Kam Rosemarie auf Besuch, erkannte er sie nur eingeschränkt: Sie war ihm eine vertraute Person,